Zwei Tage schlugen Córiel und Jarbeorn sich in nordwestlicher Richtung durch den Wald, bis sie schließlich wieder in die Nähe der Heimat der Hwenti kamen. Wenige Meilen von Gan Lurin entfernt begegneten ihnen drei Elben aus dem Dorf, die ihnen nur zu gerne den Weg wiesen. Am Eingangstor der Siedlung wurden sie bereits von Herion und einigen weiteren Hwenti erwartet. Von Vaicenya war jedoch nichts zu sehen, was Córiel nachdenklich machte.
Ob man sie wohl gefangen hält? fragte die Hochelbin sich.
"Willkommen zurück," begrüßte der Anführer der Hwenti sie. "Ich sehe, Eure Reisegruppe ist um ein Mitglied ärmer geworden."
"Durin ist bei den Zwergen der Orocarni geblieben," erklärte Jarbeorn.
Herion nickte zufrieden. "Das ist gut. Ich fürchtete schon, ihm wäre etwas zugestoßen. Ich bin froh zu hören, dass ihr den Bewohnern der Berge tatsächlich begegnet seid. In den letzten Jahrzehnten gab es nur noch sehr selten Kontakt zwischen Elben und Zwergen."
Der Dorfälteste führte Córiel und Jarbeorn ins Zentrum von Gan Lurin, wo noch immer das große, einem Baumstamm ähnlichen Gebäude thronte. Im Inneren wurden ihnen verschiedene Erfrischungen angeboten, die die beiden nur allzu gerne annahmen. Obwohl es Winter war, war es unter dem dichten Blätterdach des Wilden Waldes vergleichsweise warm und in ihren dichten Pelzumhängen hatten Córiel und Jarbeorn zu schwitzen begonnen.
"Wie ist es euch auf eurer Reise ergangen, meine Freunde?" fragte Herion freundlich, nachdem er sich auf seinem Sitz niedergelassen hatte und auch seinen Gästen Stühle angeboten hatte. "Euer Ziel, die Zwerge der Orocarni zu finden, habt ihr ja offensichtlich erreicht."
Jarbeorn nahm einen großen Schluck von dem Wasser aus seinem Glas und antwortete: "Nun, die Reise war abenteuerlich, um die Wahrheit zu sagen. Wir sind dem Drachen aus den Legenden der Avari begegnet, dem..."
"
Ilcalocë," half Córiel nach. "Dem Sternendrachen."
Herion nahm diese Enthüllung einigermaßen gelassen hin, doch die übrigen Hwenti, die sich gerade im Raum auffhielten und mehr oder weniger auffällig dem Gespräch lauschten, gaben Laute der Überraschung von sich. "Tatsächlich?" hakte Herion freundlich nach. "Diese Kreatur existiert also wirklich?"
Córiel nickte. "Ich habe mit der Bestie gesprochen. Er will sich zum Herrscher von ganz Palisor aufschwingen."
"Wieso gerade jetzt?" überlegte Herion. "Ich frage mich, ob er von der Uneinigkeit der Völker dieses Landes weiß und sie ausnutzen will."
"Die Zwerge haben schon viele Jahre mit den Orks zu tun, die der Drache in seinen Bann gezogen hat," sagte Jarbeorn. "Deshalb ist der Kontakt zu den Clans der Orocarni abgebrochen. Wir haben dem Herrn der Kristallhalle, Fürst Gárik, dabei geholfen, dem Sternendrache eine Falle zu stellen. Und Có-- und
Melvendë war der Köder."
Nun machte Herion ein verdutztes Gesicht. "Wie das?"
Córiel blickte etwas betreten drein. "Nun, nachdem wir den Zwergen begegnet waren, brachten sie uns zu einem Berg, den sie als Frostspitze bezeichneten."
"Ah ja, Ihr sprecht von Ilmarës Wacht. Dem höchsten Gipfel der Orocarni. Dort oben hatte sich also der
Ilcalocë all die Jahrtausende seit dem Fall der Thangorodrim verborgen?" sagte Herion und beugte sich interessiert vor.
"So ist es. Er sprach davon, dem Sternenlicht, das über ihm scheint, zu huldigen und von seinem Licht verzaubert zu sein, weshalb er die Bergspitze, die jenseits der Wolkendecke liegt, nur in den seltensten Fällen verlassen hat," fuhr Córiel fort. "Für die Zwerge ist die Luft dort oben zu dünn, doch offenbar hatten einst Avari vom Stamm der Windan dort oben eine Art Tempel oder Opferstätte errichtet."
Herion nickte wissend. "In der Tat. Jener Ort wurde von den Baumeistern errichtet, die später als Gilthandi bekannt wurden, ehe sie verschwanden." Er bedeutete Córiel, mit ihrer Erzählung fortzufahren.
"Anstatt mich sofort zu vernichten, zeigte der Drache sich interessiert an mir, seiner ungewöhnlichen Besucherin, und offenbarte mir seinen Plan, Palisor zu unterwerfen. Indem ich einen alten Aufzug der Windan verwendete, gelang es mir, die Bestie entlang der Bergflanke hinab in die Falle der Zwerge zu locken."
"Und dort habt ihr den Sternendrachen erschlagen," mutmaßte Herion.
Jarbeorn schüttelte den Kopf. "Nach einem harten Kampf stürzte der Drache von dem Plateau, auf dem die Zwerge ihn erwartet hatten, hinab in eine riesige Schlucht. Aber wir glauben nicht, dass er tot ist."
"Sofern ihr seinen Kadaver nicht mit eigenen Augen gesehen habt müssen wir davon ausgehen, dass die Bedrohung weiterhin besteht," meinte der Anführer der Hwenti mit wachsender Sorge in der Stimme. "Dann ist der Drache nun vermutlich wütend und aus seiner andächtigen Ruhe geweckt. Ich fürchte, seine Ausflüge von der Spitze des Berges hinab werden nun häufiger werden. Das ist gar nicht gut... das ist
überhaupt nicht gut." Er verfiel in brütendes Schweigen, während Córiel und Jarbeorn unbehagliche Blicke austauschten.
Die Hwenti im Raum tuschelten untereinander, ohne dass Córiel verstehen konnte, was gesprochen wurde. Es vergingen fünf lange Minuten, ehe Herion sich wieder rührte.
"Hätte ich nur um ein wenig früher gewusst, was geschehen ist, dann hätte ich Vatharon mit größerer Eile und Dringlichkeit gen Makallin entsandt. Aber sei's drum. Ich habe noch andere Boten, die ich zu den Stammesführern entsenden kann." Er erhob sich. "Meine Freunde, ich weiß, dass ihr gerade erst eingetroffen seid, doch ich fürchte, die Nachrichten, die ihr gebracht habt, sind zu dringend, um sie unbeantwortet zu lassen. Dieser Drache, der
Ilcalocë, er bedroht uns alle, ganz egal ob wir nun Hwenti, Cuind oder Kinn-lai sind. Es muss ein Rat der Anführer einberufen werden, so wie es einst in regelmäßigen Abständen geschah. Lasst die Fürsten der Avari in den heiligen Hallen von Áyanvinvë zusammenkommen, damit wir uns vereint dieser tödlichen Bedrohung stellen können."
Er hielt inne und wandte sich an Córiel und Jarbeorn. "Ihr beiden habt großen Mut bewiesen, als ihr euch dem Sternendrachen gestellt habt. Deshalb möchte ich euch bitten, zu unserem Nachbarvolk, den Cuind in die Stadt Nendallin zu gehen, und Fürstin Nénsilmë von dem berichten, das ihr mit euren eigenen Augen gesehen habt. Reist entlang der Wasser des Erwachens nach Westen, bis ihr in ein großes Sumpfgebiet kommt, wo ihr den Cuind schon bald begegnen werdet, damit sie euch zu ihrem Dorf inmitten des Marschlandes bringen. Richtet Nénsilmë meine Grüße aus und bittet sie, so bald wie möglich zur Heiligen Stätte zu kommen."
"Was ist mit Vaicenya?" wagte Córiel zu fragen.
"Sie ging mit ihrem Sohn zum Ufer, an dem sie einst erwacht ist, unter dem ersten Sternenlicht," sagte Herion. "Ich bin mir sicher, dass sie euch gerne begleiten werden."
Córiel und Jarbeorn erhielten frischen Reiseproviant von den Hwenti, um am folgenden Tag früh morgens aufbrechen zu können. Die Nacht verbrachten sie erneut in Vatharons Haus, das in der Abwesenheit seines Besitzers leer stand. Am nächsten Morgen trafen sie am Tor des Dorfes auf Vatharons Schwester Lathiawen.
"So, so," sagte die Kriegerin. "Ihr habt euch also einem echten Drachen gestellt." Sie blickte Córiel genau in die Augen, ohne zu blinzeln.
"Und wir sind noch hier," meinte Jarbeorn gut gelaunt. "Enttäuscht?"
Lathiawen grinste. "Unsinn. Es zeigt mir, dass ihr Mut in den Knochen habt. Ich freue mich schon darauf, die Bestie selbst zu sehen und sie spüren zu lassen, dass wir Hwenti keineswegs leichte Beute sein werden."
"Gib gut auf dein Dorf und deine Leute Acht," sagte Córiel. "Ich hoffe, dass ich mich täusche, aber irgend etwas sagt mir, dass der Sternendrache weiß, wohin ich nach dem Kampf auf der Frostspitze gegangen bin."
"Keine Sorge, Melvendë. Soll diese übergroße Eidechse ruhig herkommen," entgegnete Lathiawen. "Ihr werdet sehen: seine Größe wird keine Rolle spielen."
"Ha ha!" lachte Jarbeorn und schlug der Elbin kameradschaftlich auf die Schulter. "Ich mag deine Einstellung, meine Freundin."
Sie verabschiedeten sich bald darauf und zogen los. Der Weg zurück zum See von Cúivienen war von den Hwenti mit kleinen Holzkunstwerken markiert worden, die hier und da von den Bäumen herabhingen. Sie erinnerten Córiel an die Dekorationen, die sie im Dorf der Tatyar in Taur-en-Elenath gesehen hatte.
Als es Abend geworden war, traten sie aus den Schatten der großen Bäume heraus an einen der langen Strände der Wasser des Erwachens. Die Sonne war im Begriff, im Westen über dem See unterzugehen und am Ufer standen zwei Gestalten, die lange Schatten auf den weichen Sand warfen.
"Heda, Níthrar!" rief Jarbeorn und erregte die Aufmerksamkeit der beiden. Der jüngere Elb wandte sich ihnen zu und kam näher, während seine Mutter an Ort und Stelle verweilte, den Blick weiterhin auf das rötliche Wasser gerichtet.
Níthrar war eindeutig erfreut über das Wiedersehen, doch auf seinem Gesicht las Córiel, dass ihn etwas anderes beschäftigte. Als die Hochelbin nachhakte, antwortete er leise: "Ich habe mich jetzt von ihr verabschiedet. Ich kehre zurück in den Westen. Nach Gondor, denke ich."
"Weshalb?" wollte Córiel wissen, doch Níthrar blickte beiseite. Sie beschloss, nicht weiter nachzubohren und es dabei zu belassen, und gab auch Jarbeorn zu verstehen, es ihr gleich zu tun.
"Sichere Wege, mein Freund," sagte der Beorninger. "Ich hoffe du findest das, was du dort suchst."
Níthrar bedachte Jarbeorn mit einem prüfenden Blick. Dann bot er ihm den Arm zum Gruße an. "Gib gut Acht auf Córiel und auf dich selbst," bat er. "In diesen Zeiten scheint nichts von Dauer zu sein, selbst die engste Freundschaft." Mit diesen Worten wandte er sich ab und verschwand entlang des Strandes.
Córiel hatte sich vorsichtig Vaicenya genähert, die ihre Anwesenheit noch immer nicht zur Kenntnis genommen zu haben schien. Doch als die Hochelbin kaum noch einen Schritt entfernt war, drehte sich Vaicenya mit einem Mal um. Da die Sonne direkt hinter ihr unterging, konnte Córiel den Gesichtsausdruck der Dunkelelbin nicht sehen, doch sie hätte schwören, ein verräterisches Glitzern auf Höhe der Augen erkannt zu haben.
Vaicenya schlang die Arme um Córiel und presst sie an sich, ohne ein Wort zu sagen. Córiel hörte, wie Jarbeorn sich ihnen näherte, aber der Beorninger war taktvoll genug um die Lage zu deuten, weshalb er schwieg.
"Möchtest du darüber reden?" fragte Córiel behutsam und verwendete dabei die Sprache, die vor Zeitaltern von den Tatyar gesprochen worden war.
Sie spürte, wie Vaicenya den Kopf, der an Córiels Schulter ruhte, kaum merklich schüttelte.
"Wir gehen zu den Cuind, in die Stadt Nendallin," fuhr die Hochelbin fort. "Willst du mit uns kommen?"
Ein schwaches Nicken. Mehr nicht.
"Dann sollten wir uns bald auf den Weg machen. Die Sonne ist bereits untergegangen," sagte Córiel leise. "Wir gehen, wenn die Sterne heraufgezogen sind, um uns den Weg zu leuchten."
"Melvendë," wisperte Vaicenya. "Du wirst nicht fortgehen, oder?"
"Nein, werde ich nicht. Ich bleibe bei dir."
Vaicenya schloss die Augen und löste sich von Córiel. Sie nahm einen tiefen Atemzug und fand schließlich zu ihrem eigentlichen Selbst zurück. Córiel vermutete, dass etwas Schwerwiegendes zwischen Vaicenya und ihrem Sohn vorgefallen sein musste, denn so hatte sie die Dunkelelbin noch nie erlebt. Doch sie besaß genug Verstand, um nicht weiter nachzufragen.
"Nendallin", wiederholte Vaicenya nachdenklich. "Ich kenne diesen Ort, aber..."
"Aber?" wollte Jarbeorn interessiert wissen.
"Dort lebt die Fürstin der Cuind," beantwortete Vaicenya die Frage, als würde das alles erklären.
"Und?" bohrte der Beorninger nach.
"Nénsilmë, sie... kann mich nicht besonders gut leiden," gab Vaicenya zu.
"Das kommt nicht gerade überraschend," meinte Jarbeorn mit einem verschmitzten Grinsen.
"Schweig still," murmelte Vaicenya verärgert. "Oder ich muss dir doch noch das Fell über die Ohren ziehen."
Córiel musste lächeln. "Kommt schon. Die Sterne ziehen herauf und von Westen weht ein warmer Wind. Heute können wir noch einige Meilen hinter uns bringen. Und wenn die Fürstin der Cuind uns nicht willkommen heißt, werden wir ihr unsere Botschaft eben unwillkommen überbringen."
So ließen sie das uralte Gewässer hinter sich und machten sich zu dritt auf den Weg durch die Wälder Dalvarinans, zu den sumpfigen Flachlanden, die von den Cuind bewohnt wurden.
Córiel, Jarbeorn und Vaicenya zum Cuindar-Moor