Oronêl aus Elronds HausNach dem Gespräch mit Kerry war Oronêl einige Zeit unter den Sternen durch die Gärten von Bruchtal gewandert. Er genoss die Ruhe und den Frieden der über dem Tal lag, und das immerwährende leise Rauschen der Wasserfälle.
Im Norden über den Kiefernwäldern war ein blasser Mond aufgegangen, der die schmalen Pfade der Gärten erhellte, und mehr Licht brauchte Oronêl nicht, um sich zurechtzufinden. Trotz aller Finsternis draußen in der Welt barg die Nacht in Bruchtal keine Schrecken. Sie war eine Zeit des Friedens und der Stille, wie Oronêl sie seit den Zeiten des Friedens in Lórien nicht erlebt hatte - und noch anders, denn Elronds Zauber lag über dem Tal. Er wusste es nicht sicher, doch Oronêl vermutete, dass Elrond wie Galadriel und eine Zeit lang auch Celebithiel einen der Drei Ringe trug, dessen Macht das Tal vor den Dunklen Mächten schützte.
Der dünne Ast eines Baumes neben ihm schwankte leicht, als eine kleine Eule beinahe lautlos darauf landete. Oronêl blieb stehen, und sah dem Vogel einen Moment lang stumm in die großen, runden Augen, in denen sich schwach einige Sterne spiegelten. Dann streckte er der Eule die linke Hand entgegen, und sagte in einem beruhigenden Singsang: "Komm zu mir, lautlose Jägerin." Er sagte es in der Sprache der Waldelben, die er von Kindesbeinen an gesprochen hatte. Er war mit zwei Sprachen aufgewachsen, dem Sindarin seines Vaters und der Sindar aus Beleriand, und der Sprache, die die Waldelben, die Laiquendi von Ossiriand, gesprochen hatten. Beides war im alten Lórinand gleichermaßen gesprochen worden, und auch wenn die Sprache der Elben von Lórien sich von der von Ossiriand inzwischen stark unterschied, beherrschte Oronêl die alte Sprache noch fließend.
Die Eule zögerte einen Augenblick, bevor sie mit einem kleinen Hüpfer und einem Flattern der Flügel auf seinen Fingern landete. Oronêl spürte, wie sich die kleinen, aber kräftigen Krallen um seine Finger schlossen, und strich dem Vogel mit den Fingerspitzen der rechten Hand sanft über die weichen Federn auf dem Kopf. Die Eule gab ein offensichtlich wohliges, leises "Schuhu" von sich, und Oronêl sagte: "Mögest du reichliche Beute finden, möge deine Brut immer zahlreich sein und deine Feinde dich in Frieden lassen. Nun flieg, lautlose Jägerin." Er nahm die Finger vom Kopf der Eule, sie breitete die Flügel aus und flog lautlos in die Nacht davon. Oronêl sah ihr einige Zeit nach, wie sie über dem Tal und den Wäldern im Norden verschwand, und ging dann langsam weiter.
Er kam zu dem kleinen Hügel mit der steinernen Bank, auf dem er Finelleth zuerst begegnet war, doch jetzt war dieser Ort verlassen. Einen Augenblick verharrte er, und erinnerte sich, wie er Finelleth zuerst hier hatte sitzen sehen, wie er sie kurz für Calenwen gehalten hatte, und wie er damals über ihre Abstammung nachgegrübelt hatte. Heute wusste er, warum sie ihm so bekannt vorgekommen war.
Er lächelte unwillkürlich, denn es kam ihm beinahe so vor, als wäre diese Begegnung schon lange Zeit her, wo es doch nur etwas mehr als zwei Monate gewesen waren. Doch diese beiden Monate waren beinahe die ereignisreichsten seines langen Lebens gewesen, selbst ihm konnten sie lang vorkommen.
Nach einiger Zeit kam Oronêl über eine schmale, elegant geschwungene Brücke, die auf eine Art Insel zwischen zwei Bächen führte. Auf der Insel erhob sich ein kleiner Pavillon, der durch zwei Laternen in ein warmes Licht gehüllt wurde, und dort saßen Arwen und Celebithiel auf zwei gegenüberliegenden Bänken und sprachen leise auf Quenya miteinander. Diese Sprache verstand Oronêl nicht allzu gut - sein Vater und die meisten anderen Sindar von Lórien hatten sie entweder selbst nicht gesprochen oder sich geweigert, sie weiterzugeben.
Später, als Flüchtlinge aus Eregion nach Lórien gekommen waren, und zur Zeit des Letzten Bundes, hatte Oronêl einiges über die Sprache der Noldor gelernt, doch nicht genug um sie selbst flüssig sprechen zu können, oder sie im Gespräch wirklich zu verstehen. Als Oronêl in den Pavillon trat, hob Celebithiel den Kopf und lächelte. "Oronêl! Wir fragten uns schon, wann du kommst." Sie war ins Sindarin gewechselt, denn sie wusste, dass Oronêl das Quenya nicht gut beherrschte.
"Ich wollte euch nicht unterbrechen", sagte Oronêl, und erwiderte das Lächeln. Es war schön, Celebithiel einmal wirklich glücklich zu sehen. Zuletzt war sie oft nachdenklich und ernst gewesen, trotz ihres Erfolges in Eregion. Jetzt, in Gesellschaft ihrer Ziehschwester, wirkte sie beinahe unbeschwert und glücklicher als sie seit Lórien gewesen war.
"Das hast du nicht", erwiderte Arwen sanft, und deutete auf seine rechte Hand. "Ich sehe, dass du meinen Ring noch immer trägst."
"Wir alle tragen sie noch", meinte Oronêl, und setzte sich neben Celebithiel auf die Bank. "Die, die noch leben jedenfalls. Irwyne hat Cúruons Ring bekommen, und Faronwes Ring habe ich seinem Sohn in Lindon zum Andenken gegeben." Er drehte den silbernen Reif mit dem eingravierten einzelnen Stern an seinem Finger nachdenklich. "Ich weiß, dass sie keine besondere Kraft haben, aber sie geben Mut. Und sie erinnern immer an die Freunde und Verbündeten, die wir haben - hier, in Lindon, in Dol Amroth, und sogar in Ringechad in der nördlichen Eiswüste, oder wo immer Valandur sich gerade herumtreiben mag."
"Und darin wohnt diesen Ringen wiederum doch eine gewisse Kraft inne", sagte Celebithiel. "In der Erinnerung und den Gedanken an Freunde."
Sie schwiegen einen Augenblick, bis Arwen fragte: "Ihr wart in Ringechad? Wie hat es euch dorthin verschlagen?"
Ihre Frage verwunderte Oronêl. "Woher weißt du davon? Ich dachte, Súlien wäre seit langer Zeit die erste, die von dort nach Süden gekommen ist."
"Das ist auch richtig", bestätigte Arwen. "Aber mein Vater und Erestor haben Aufzeichnungen über alle Siedlungen der Dúnedain von Arnor angelegt - selbst über Ringechad."
Oronêl nickte, denn die Erklärung ergab Sinn. Für Elrond, der schon immer ein Verbündeter der Waldläufer von Arnor gewesen war, war es natürlich von Nutzen einen Überblick über ihre verstreuten Siedlungen und Verstecke zu haben. Und hier in Bruchtal bestand auch keine Gefahr, dass es den Feinden der Dúnedain in die Hände fallen könnte. Obwohl Saruman inzwischen, durch das Bündnis mit Helluin, vermutlich ohnehin über dieses Wissen verfügte.
Oronêl erzählte, wie Kerry von Laedor aus Fornost entführt worden war, wie sie ihn bis nach Carn Dûm hinein verfolgt hatten und schließlich nach Ringechad geflohen waren. Als er mit seiner Erzählung in der Siedlung der Dúnedain angekommen war, raschelten hinter ihm einige trockene Blätter, und eine bekannte weibliche Stimme sagte: "... und in Ringechad überfiel der heldenhafte Krieger Oronêl seine schwache und wehrlose Gefährtin mit der fürchterlichen Waffe des Eiswassers - ein Verbrechen, dass bis heute nicht angemessen gesühnt wurde." Finelleth trat in den Lichtkreis der Laternen, und wirkte überaus zufrieden mit sich selbst. Oronêl streckte die Beine aus, verschränkte die Arme und erwiderte: "Es war kein Verbrechen, sondern eine angemessene Strafe."
"Darüber könnte man sich streiten", gab Finelleth zurück, und ließ sich ihm gegenüber neben Arwen nieder.
Celebithiel, die den Austausch wie Arwen schmunzelnd verfolgt hatte, fragte: "Was führt dich zu uns, Finelleth?"
Finelleth blickte offenbar ein wenig verlegen zu Boden, und antwortete: "Ich wollte euch nicht stören, aber... ich fühlte mich ein wenig einsam mit meinen Gedanken. Kerry scheint bereits zu schlafen, und Antien ist irgendwo hin verschwunden, also habe ich mich auf die Suche nach Oronêl gemacht. Ich... brauche jemanden, mit dem ich ein wenig reden kann."
Celebithiel und Arwen wechselten einen Blick, während Oronêl abwartete. Dann sagte Arwen: "Nun, ich bin sicher, ihr drei habt einige interessante Geschichten zu erzählen - und vielleicht weiß ich auch das ein oder andere, was euch nicht bekannt ist. Damit könnten wir einige Zeit verbringen..."
Tatsächlich hatten sie sich so lange über dieses und jenes Abenteuer unterhalten, dass der Mond schon lange wieder hinter dem Horizont verschwunden war, als Oronêl den Pavillon verließ, um ein wenig Ruhe zu finden. Es waren noch einige Stunden bis Sonnenaufgang. Er wanderte erneut ziellos einige Zeit durch die Gärten, bis er eine abgeschiedene Bank direkt unterhalb der Berghänge im Osten fand, die auf die Schlucht im Süden Bruchtals hinunterblickte.
Dort setzte er sich, lehnte sich zurück, schloss die Augen und ließ seinen Geist wandern - bis er von der Seite angesprochen wurde.
"Verzeihung", sagte Mírwen beinahe schüchtern. "Darf ich... kann ich mich zu dir setzen?"
Ein wenig verwundert, was ihre Bitte zu bedeuten hatte, machte Oronêl eine einladende Geste. Er freute sich, seine junge Gefährtin wiederzusehen, auch wenn ihr Verhalten bei seiner Ankunft in Bruchtal ihn ein wenig verwirrt hatte. Mírwen setzte sich neben ihn auf die Bank, strich sich eine rote Haarsträhne aus dem Gesicht, und schwieg. Sie saßen einige Zeit schweigend nebeneinander, bis Mírwen schließlich leise fragte: "Du wirst mit Finelleth über den Hohen Pass ins Waldlandreich gehen, nicht wahr?"
"Ja", antwortete Oronêl. "Mit Finelleth und mit Kerry. Mathan wird uns ebenfalls begleiten, aber ich weiß nicht, ob er ins Waldlandreich mitgehen wird. Ich glaube, auf ihn wartet eine andere Aufgabe."
"Dann werde ich mit dir... mit euch kommen. Das heißt, wenn ihr mich überhaupt mitnehmen würdet."
"Wir würden uns über deine Gesellschaft freuen", erwiderte Oronêl. "Du bist schließlich ein Teil unserer Gemeinschaft, wie Finelleth und ich. Aber warum möchtest du Bruchtal schon wieder verlassen?"
Mírwen wandte den Blick ab, und ihre Haare verdeckten ihr Gesicht - doch Oronêl war sich sicher, dass sie errötet war. "Ich will nicht länger in Bruchtal herumsitzen und warten, bis der Krieg vorbei ist. Ich will etwas tun. Helfen."
Oronêl schüttelte den Kopf. Das mochte einer der Gründe sein, doch wirklich überzeugend hatte sie nicht geklungen. Und nach Düsterwald zu gehen war dafür auch nicht nötig, sie könnte ebenso gut in Fornost dem Sternenbund zur Seite stehen oder nach Gondor in den Krieg ziehen.
"Mírwen", sagte er langsam. "Bist du dir sicher, dass das der einzige Grund ist?" Jetzt sah sie ihn wieder an, und zum ersten Mal fiel Oronêl auf, wie blau ihre Augen waren. Sie bildeten einen schönen Kontrast zu den feuerroten Haaren und der hellen Haut, und... Oronêl schob die Gedanken beiseite, und konzentrierte sich auf ihre Antwort.
"Nein", antwortete sie schließlich. "Die Wahrheit ist... ich möchte mit dir dorthin gehen." Sie sah ihn weiter an, wartete vielleicht auf eine Frage, oder auf Widerspruch. Doch Oronêl nickte nur stumm, und sah wieder auf die Schlucht und die Wasserfälle, auf denen die Sterne glitzerten hinaus. Er ahnte, was geschah, und er fürchtete sich ein wenig davor. Doch er brachte es nicht über sich, Mírwen abzulehnen und von sich zu stoßen - nicht, nachdem ihr Vater, ihr einziger Verwandter, in der Schlacht gefallen war in der er ihn geführt hatte.
Er war ihr etwas schuldig, und vielleicht konnte er... Er wehrte sich nicht, als sie sanft die Hand auf seine legte. Sie sprachen nicht, und saßen nebeneinander bis im Osten über den Bergen die Sonne aufging. Irgendwann stand Oronêl auf, küsste Mírwen, die die Augen geschlossen hatte, sanft auf die Stirn, und ging langsam zum Haus zurück.
Oronêl in Elronds Haus