Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Rohan
Aldburg - In der Stadt
Fine:
Die Königin - Éowyn von Rohan - hatte darauf bestanden, die ganze Geschichte zu hören, die hinter der ungewöhnlichen Unterbrechung ihrer Verhandlungen mit dem Wolfskönig von Dunland steckte. So kam es, dass Kerry, ihr Vater, Zarifa, Aéd und auch Gandalf mit der Königin Rohans ein ausgedehntes Abendessen zu sich nahmen und ihr dabei - in Kerrys Fall teilweise mit vollem Mund - alles erzählten. Éowyn war eine aufmerksame Zuhörerin, die viele Zwischenfragen stellte und sich besonders für die Kriegszüge Sarumans sowie den Verbleib Gríma Schlangenzunges zu interessieren schien. Als die Geschichte schließlich zu Ende erzählt worden war, klatschte die Weiße Herrin Rohans in die Hände und sagte: "Da seid ihr alle ja ziemlich herumgekommen in der Welt - und habt ein Abenteuer nach dem Anderen erlebt." Die Art und Weise, wie sie das Wort Abenteuer erwähnte, ließ Kerry glauben, dass die Königin sich vielleicht an so manchem Tage in ihrer Stadt eingeegt fühlen mochte.
Gandalf schien ähnliche Gedanken zu haben. "Auch hier in der Heimat gibt es viele Dinge zu erleben," sagte er lächelnd. "Ich würde meinen, dass Ihr gerade ein nicht minder spannendes Abenteuer in Eurer Familie zu bestehen habt."
Éowyn lachte herzlich. "Du hast selbstverständlich Recht, Gandalf. Kinder bringen vieles durcheinander, und Zwillinge tun dies gleich zweimal mehr. Doch ich würde nicht tauschen wollen."
Wie aufs Stichwort brachten zwei Bedienstete die drei Monate alten schlafenden Kinder der Königin herbei, die in dicke, weiße Decken gehüllt waren. Éowyn nahm die Zwillinge entgegen und nannte ihren Besuchern ihre Namen: Adúnien und Elboron hießen sie nach der Art Gondors, wie sie ihr Vater Faramir genannt hatte, doch in Rohan waren sie als Westhild und Stéorric bekannt.
Kerry staunte. Nur selten war sie so kleinen Kinder so nahe gekommen. Zarifa schien es ganz ähnlich zu gehen. Die junge Südländerin hielt etwas Abstand und betastete unterbewusst ihren Bauch. Kerry ging zu ihr hinüber und nahm Zarifas Hand. Sie sagte kein Wort, doch sie hoffte, dass die Berührung deutlicher als alle Worte sprechen würde, und Zarifa Trost spenden würde.
Als die Sonne unterging, verabschiedete sich die Königin von ihnen und brachte ihre Kinder nach drinnen. Auch Gandalf, Cyneric und Zarifa verschwanden kurz darauf, um sich nach einer Übernachtungsmöglichkeit umzusehen. Aéd blieb mit Kerry zurück und küsste sie erneut, als sie sich unbeobachtet glaubten.
"Ich habe dich vermisst," flüsterte Kerry ihm ins Ohr.
Aéd blickte verlegen zu Boden. "Ich habe jeden einzelnen Tag an dich gedacht," gestand er ihr. "Und gehofft, dass du wider Erwarten zu mir zurückkehrst."
"Jetzt hat sich diese Hoffnung ja erfüllt," meinte Kerry verliebt. "Und ich habe auch nicht vor, so schnell wieder weg zu gehen," fügte sie hinzu.
Doch Aéd seufzte und sah ihr in die Augen. "Wenn wir nur mehr Zeit hätten..." sagte er niedergeschlagen.
"Wie meinst du das?" wollte Kerry erschrocken wissen.
"Ich bin jetzt schon drei Wochen hier in Rohan," erklärte Aéd. "Es gibt viele in meinem Volk, die mir die Annäherung an die Rohirrim übel nehmen. Der alte Hass auf Rohan sitzt bei einem Großteil der Dunländer noch immer tief. Nur der Stamm des Schildes, die Leute meines Vaters, stehen uneingeschränkt hinter mir. In allen anderen Stämmen gibt es Uneinsichtige. Einige leisten selbst jetzt offen Widerstand, allen voran Yven vom Stamm des Messers. Schon zweimal ist er mir knapp entwischt. Gestern erst haben mich Nachrichten aus Tharbad erreicht, dass Yven wieder aufgetaucht ist. Ich fürchte, diesmal wird er es nicht bei Sabotageakten belassen. Diesmal wird Blut fließen, wenn ich nichts unternehme."
Er atmete tief durch. "Kerry - ich muss noch heute nach Hause aufbrechen."
Das hatte Kerry bereits befürchtet. "Ich werde dich also nicht zum Bleiben überreden können?"
"So schwer es mir fällt, das zu sagen, aber - nein." Aéd ließ den Kopf hängen.
Da traf Kerry ihre Entscheidung. "Dann werde ich mit dir gehen," sagte sie leise, aber entschlossen.
Überrascht blickte Aéd auf. "Aber... dein Vater, was wird er dazu sagen?"
"Er wird es akzeptieren müssen," meinte Kerry. "Ich weiß, dass auch er nicht vorhatte, lange in Rohan zu bleiben. Irgendetwas - oder irgendjemand - zieht ihn zurück nach Rhûn, das spüre ich. Ich hätte mich schon bald wieder von ihm verabschieden müssen."
"Bist du dir sicher?"
"Ich bin mir sicher," bestätigte sie. "Mein Vater wird es verstehen. Wir werden uns wiedersehen, wenn er das erledigt hat, was auch immer er in Rhûn zu erledigen hat. Außerdem hatte ich sowieso vor, nach Eregion zu gehen. Und da liegt Dunland ja praktischerweise auf dem Weg." Sie zwinkerte Aéd zu und lächelte.
Aéd nickte erleichtert. "Ich bin froh, das zu hören. Aber vergiss nicht, dass dir in Dunland Gefahr droht."
"Der Wolfskönig wird schon auf mich aufpassen, oder etwa nicht?" Kerry grinste frech.
"Worauf du dich verlassen kannst." Aéd küsste sie - fest und innig.
Als sie sich voneinander lösten, sprang Kerry auf. "Komm, suchen wir Vater - ich bin mir sicher, er wird einverstanden sein."
"Ich bin damit nicht einverstanden," sagte Cyneric, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte. "Solange Dunland nicht sicher ist, bin ich nicht gewillt, dich weiteren Gefahren auszusetzen." Bereits seit mehreren Minuten stritten sie nun darüber.
Kerry stemmte die Arme in die Hüften. "Was hast du also nun vor, Vater? Willst du mich hier in Aldburg wegsperren lassen, damit mir ja kein Leid geschehen kann? Du wusstest doch schon, dass ich früher oder später nach Eregion gehen wollte."
"Ich hatte gehofft, dass..." Cyneric brach ab und seufzte. "Nun, es macht keinen Unterschied. Du bist erwachsen und wirst deine eigenen Entscheidungen treffen, ob es mir nun gefällt, oder nicht."
"Worauf hattest du gehofft?" bohrte Kerry nach.
"Darauf, dass du hier auf ihn wartest, damit ihr gemeinsam nach Eregion gehen könnt," antwortete Zarifa an Cynerics Stelle.
Cynerics Schweigen war für Kerry Bestätigung genug. Sie schickte sich an, ihrem Vater eine wütende Antwort zu geben, als sich eine sanfte Hand auf ihre Schulter legte.
"Lass es gut sein, meine Liebe. Du hast deine Entscheidung getroffen und Cyneric wird sich dir nicht in den Weg stellen. Es ist nicht gut, im Streit auseinander zu gehen." Gandalfs ruhige Stimme sorgte dafür, dass Kerrys Ärger dahinschmolz wie der Schnee im Hargtal wenn es Frühling wurde. Sie sah ihrem Vater in die Augen. Dann umarmte sie ihn fest.
"Bitte gib in Rhûn auf dich Acht," sagte sie leise. "Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit, aber..."
"Es ist gut, Déorwyn. Es war wichtig für mich, dies zu erkennen. Du bist kein Kind mehr, und aus meinem kleinen Mädchen ist eine Frau geworden, die ihren eigenen Weg gehen wird. Wer wäre ich, dir das zu verweigern?"
"Ich..." begann Kerry, doch der Rest des Satzes blieb ihr im Hals stecken. Sie weinte und drückte ihren Vater an sich. "Ich hab dich lieb," brachte sie leise hervor."
"Und ich werde dich immer lieben," antwortete er. Sie lösten sich voneinander und er küsste sie sanft auf die Stirn. "Jetzt geh," sagte er liebevoll. "Pass auf dich auf, bis zu unserem Wiedersehen."
"Das werde ich," antwortete sie. "Ich verspreche es."
"Und auch ich verspreche es," sagte Aéd, der bislang etwas betreten im Hintergrund gestanden hatte. "Ihr wird kein Leid geschehen."
Cyneric warf ihm einen Blick zu, wie ihn nur ein Vater einem jungen Mann zuwerfen konnte, der Interesse an seiner Tochter zeigte. "Ich verlasse mich darauf, Junge," sagte er.
Für einige Sekunden herrschte eine unangenehme Stille, die von Gandalfs ansteckende, Lachen durchbrochen wurde. "Dann wäre das ja geklärt!" sagte der Zauberer. "Ich bin froh, dass die Vernunft gesiegt hat."
Der Abschied fiel Kerry nicht leicht. Zarifa, Cyneric und Gandalf begleiteten die Gruppe, die aus Kerry, Aéd und zwölf weiteren Dunländern auf Pferden bestand zum nördlichen Tor Aldburgs. Cyneric trug eine Fackel in der Hand, denn es war inzwischen längst Nacht geworden.
"Ich kenne dich jetzt erst wenige Tage," sagte Kerry zu Zarifa, "aber dennoch bist du meine Freundin. Ich wünsche dir und deinem Kind alles Glück der Welt - du verdienst es. Hab' ein Auge auf meinen Vater, hörst du?"
Zarifas Blick war schwer zu deuten. Kerry glaubte, unterdrückte Tränen in den Augen der jungen Frau zu sehen. "Ich danke dir," flüsterte Zarifa. "Und ich hoffe, wir sehen uns eines Tages wieder."
"Das werden wir," sagte Kerry.
Von ihrem Vater verabschiedete sie sich mit einer langen Umarmung. Gesprochen wurde nicht - es war bereits alles gesagt worden. Sie waren beide froh, dass sie wussten, dass der Andere noch am Leben war, und sie würden wieder zueinander finden, wenn die Zeit reif war.
Gandalf gab Kerry noch einen letzten Rat mit auf den Weg. "Du solltest nichts überstürzen, Mädchen," sagte der Zauberer mit einem etwas merkwürdigen Unterton. "Bleibe genau die, die du bist und bringe den Menschen und Elben Hoffnung, wenn du kannst!"
Kerry nahm seine Hand und drückte sie. Sie hoffte, dem alten Zauberer nicht zum letzten Mal begegnet zu sein. "Auf Wiedersehen, Gandalf."
"Sichere Wege, kleine Kerry." Gandalf nickte ihr zu, dann drehte er sich um und verschwand in der Stadt.
Sie saßen auf und während Kerry noch zurück zum Tor blickte, wo Cyneric und Zarifa standen, setzte sich ihr Pferd schon in Bewegung. Sie wandte den Blick nicht ab, bis Aldburg in den Schatten der Nacht verschwunden war und der Lichtpunkt von Cynerics Fackel nicht mehr zu sehen war.
Kerry und Aéd zu den Furten des Isen
Rohirrim:
Mit gemischten Gefühlen machte Cyneric sich auf zu dem Gasthof, in dem er sich zusammen mit Zarifa einquartiert hatte. Zu viel war innerhalb der letzten Tage passiert und viel zu wenig Zeit war gewesen, um über alles nachzudenken. Er hatte nach all den Jahren und wochenlanger Reise endlich seine Tochter wiedergefunden, nur um sich jetzt, ein paar Tage später, wieder von ihr verabschieden zu müssen. Er wusste nicht ganz, was er davon halten sollte. Einerseits war er froh, dass Déorwyn inzwischen so erwachsen und selbstständig war, doch andererseits konnte er einfach nicht anders, als sich Sorgen um sie zu machen. Was, wenn ihr etwas zustieß? Was, wenn er all die Jahre nach ihr gesucht hatte, nur um sie dann nach ein paar Tagen des Wiedersehens endgültig zu verlieren? Und als wäre das alles nicht genug, hatte Zarifa zwischendurch noch von ihrer Schwangerschaft berichtet. Es war fast, als läge ein Fluch auf diesem Mädchen. Als Sklavin nach Gorak verkauft, schwer misshandelt und jetzt auch noch schwanger? Cyneric gingen so langsam wirklich die Ideen aus, Zarifa zu trösten. Er wollte ihr so gerne helfen, doch wie? Wie hilft man einem Mädchen, dass in ihrem Leben fast nichts anderes als Leid erfahren hatte?
Cyneric erreichte den Gasthof „Zur alten Straße“ und begab sich mit all den Sachen, die er für das Abendbrot besorgt hatte, direkt auf sein Zimmer. Er wollte rasch zu Abend Essen und dann unten mit seinen alten Kollegen etwas trinken, wie er es versprochen hatte. Er war schon fast bei der Tür angekommen, als er innehielt. Aus dem Zimmer drang ein Schluchzen an seine Ohren. Er wusste, was das bedeutete. Er war es inzwischen fast schon gewöhnt, Zarifa weinen zu hören. Sie gab sich zwar stets Mühe, ihre Gefühle zu verbergen, doch insbesondere nachts hörte Cyneric sie immer wieder schluchzen. Er seufzte. Eigentlich hatte er gerade wenig Lust auf ein solches Gespräch, doch es half nichts. Nun, da Déorwyn fort war, hatte Zarifa niemanden zum Reden außer ihm. Cyneric erinnerte sich an die starken Stimmungsschwankungen zurück, die seine Frau teilweise bei der Schwangerschaft durchgemacht hatte und versuchte sich vorzustellen, wie schlimm diese gewesen wären, wenn seine Frau dasselbe durchgemacht hätte, wie Zarifa. Und dann wurde ihm bewusst, dass er ja genau das in den letzten Monaten hatte beobachten können.
Cyneric öffnete die Tür. Wie erwartet, saß Zarifa weinend in ihrem Bett. Als die Tür sich öffnete, hob sie kurz den Kopf und verbarg ihn dann ganz schnell wieder in ihren Armen. Cyneric legte seine Einkäufe kurz ab und setzte sich dann langsam neben ihr auf das Bett. Zarifa sagte kein Wort, sondern schluchzte weiter in ihre Arme. Behutsam legte Cyneric seine Hand auf ihre Schulter und beschloss, zunächst nichts zu sagen. Er deutete es als gutes Zeichen, dass Zarifa bei der Berührung nicht wie so oft zusammen zuckte. Sie schien ihm inzwischen zu vertrauen. Nach einer Weile brachte Zarifa schließlich die ersten Worte heraus.
„Tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du mich so siehst. Ich weiß, du machst dir schon genug Sorgen wegen Kerry“, schluchzte sie, ohne Cyneric dabei in die Augen zu sehen.
„Schon gut, Zarifa“, versuchte Cyneric die junge Frau zu beruhigen. „Es ist vollkommen okay, zu weinen. Es ist definitiv besser, als seine Gefühle einfach in sich hineinzukehren.“
Zarifa schien nicht so recht zu wissen, was sie darauf erwidern sollte, und Cyneric war froh darüber, denn er selbst wusste ebenfalls nicht genau, was er als Nächstes hätte sagen können. Er saß neben einer Frau, die in 9 Monaten ein Kind gebären würde, dessen Vater sie vergewaltigt hatte. Was konnte er in einer solchen Situation schon sagen? Er stellte sich vor, wie Déorwyn ein ähnliches Schicksal ereilte und ihm wurde schlecht. Er verwarf den Gedanken so schnell wie möglich und beschränkte sich weiterhin darauf, Zarifa behutsam über den Rücken zu streichen. Das schien zumindest in der Hinsicht zu wirken, dass das Schluchzen der jungen Frau allmählich weniger wurde. Schließlich blickte sie auf und sah Cyneric blickte Cyneric fest in die Augen.
„Es tut mir leid, dass Déorwyn fort ist. Du hast so viel auf dich genommen, um sie wiederzufinden, und jetzt ist sie schon wieder fort. Das muss hart für dich sein.“
Cyneric war von diesen Worten überrascht. Er war es gewohnt, Zarifa trösten zu müssen, doch nun tat sie genau das für ihn. „Danke, Zarifa. Aber mir geht es gut. Déorwyn ist erwachsen geworden und das muss ich akzeptieren. Das ist wohl eines der schwersten Dinge am Elternsein.“
Noch während er diese Worte aussprach, bereute er sie. Zarifa fing erneut heftig an zu weinen.
„Tut mir leid, ich wollte nicht... wollte nicht...“ Cyneric fielen keine passenden Worte dafür, dass er Zarifa nicht daran hatte erinnern wollen, dass sie bald Mutter eines ungewollten Kindes werden würde.
„Schon gut... du kannst ja nichts dafür. Ich muss einfach nur ständig darüber nachdenken, doch ich weiß einfach nicht was ich denken soll. Es ist mein Kind, das gerade in mir heranwächst, aber gleichzeitig fühlt es sich auch an, wie ein Teil von ihm. Als würde ein Teil von ihm auch in diesem Kind weiter existieren und dieser Gedanke verfolgt mich jeden Tag.“ Cyneric bekam bei diesen Worten nun selbst Tränen in die Augen und er schämte sich bei dem Gedanken, dass er Zarifa nicht geholfen hatte, Alvar zu töten. Er wollte etwas sagen, doch Zarifa begann nun so heftig zu schluchzen, dass er ohnehin kaum dagegen angekommen wäre. Stattdessen beobachtete er, wie die weinende junge Frau neben ihm versuchte, die folgenden Worte herauszubekommen:
„Es ist... Es ist... Es ist einfach so unfair, dass Tekin sein Kind niemals kennenlernen wird“
Fine:
An jenem Abend hatten Cyneric und Zarifa lange miteinander gesprochen. Er hatte sich die Zeit genommen, herauszufinden, was für ein Mensch dieser Tekin gewesen war. Ein Junge aus Umbar, aus ähnlichen Umständen wie Zarifa selbst kommend, und ihr Schicksal als Sklave teilend. Es hätte eine wunderbare Liebesgeschichte sein können, wenn nicht das fatale Ende gewesen wäre. Radomir, der gefallene Fürst von Gorak, hatte Tekins Leben und damit auch Zarifas Hoffnung auf eine glücklichere Zeit blutig beendet.
Als es Zarifa gelungen war, die Hemmschwelle zu überwinden, hatte es nicht lange gedauert, bis die Worte nur so aus ihr hervorsprudelten. Sie erzählte davon, wie Tekin ihr ein Gefühl von Sicherheit gegeben hatte und wie sie mit ihm über alles hatte sprechen können, sowohl über große als auch kleine Dinge. Und wie sie echte Liebe erfahren und zum ersten Mal gespürt hatte, wie schön es sein konnte, eine Frau zu sein.
Cyneric war erleichtert, dass das Kind, das in Zarifa heranwuchs, nicht von einem ihrer Vergewaltiger stammte. Vollständig sicher sein konnte man sich in dieser Angelegenheit selbstverständlich nicht, doch er machte nich den Fehler, die junge Südländerin darauf hinzuweisen. Wenn sie der Meinung war, dass das Kind Tekins Liebe entstammte, dann würde Cyneric es nur zu gerne dabei belassen. Er wollte nicht, dass das Kind seine Mutter ständig an die Untaten erinnerte, die ihr widerfahren waren. Stattdessen würde es Zarifa an Tekin erinnern und ihr dabei helfen, ihn nicht zu vergessen.
Zarifa bekam schließlich, nachdem sie bis tief in die Nacht hinein geredet hatten, großen Hunger bekommen - eine weitere Eigenschaft, die Cyneric an Déorwyns verstorbene Mutter erinnerte. Seine Frau hatte während der Schwangerschaft ebenfalls immer wieder urplötzlich Appetit bekommen, selbst wenn es schon spät war. Cyneric ging nach unten, in die Gaststätte, um eine kleine Mahlzeit zu besorgen, doch als er mit einem gefüllten Teller zurückkehrte, fand er Zarifa schlafend vor. Sie lag auf dem Rücken und musste wohl eingeschlafen sein, während sie auf Cynerics Rückkehr gewartet hatte.
Cyneric stellte den Teller behutsam auf das Fensterbrett. Er schmunzelte, als er daran denken musste, wie Zarifa einst im Gasthof in Gorak beinahe aus dem Fenster geklettert war. Damals hatte sie ihm noch nicht vertraut. Seitdem hatte sich viel verändert.
Vorsichtig bugsierte er die schlafende Zarifa in eine seitliche Lage. Dabei fiel ihm auf, wie gewölbt ihr Bauch inzwischen geworden war. Lange hätte sie ihre Schwangerschaft wohl nicht mehr geheim halten können. Cyneric war froh, dass das Mädchen sich ihm damit anvertraut hatte. Sachte zog er Zarifas Decke bis über ihre Schulter. Draußen waren dicke Schneeflocken zu sehen, die über Aldburg hinabrieselten und die Dächer mit einer weißen Schicht aus fester Kälte verzierten. Noch einen langen Augenblick betrachtete er die schlafende Zarifa, dann legte Cyneric sich ebenfalls zur Ruhe, in seinem eigenen Bett auf der anderen Raumseite.
Einige Tage vergingen, ohne dass sich die Situation veränderte. Cyneric wurde ohne große Zeremonie wieder in die Reihen der Königsgarde aufgenommen und schon bald war es, als wäre er nie fort gewesen. Er erhielt einen kleinen Beutel voll Münzen für seinen erfolgreich abgeschlossenen Auftrag in Rhûn von der Königin, doch dabei blieb es. Nicht dass er sich mehr erhofft hätte. Er war zufrieden - oder glaubte es zumindest zu sein. Tagsüber schob er die ihm zugeteilten Wachschichten und abends leistete er Zarifa Gesellschaft. Hin und wieder klagte das Mädchen darüber, dass sie sich tagsüber ein wenig einsam fühlte, doch auf Cynerics Vorschlag, sich unter den Bewohnern Aldburgs Freunde zu suchen, ging sie nicht ein. Nur selten verließ sie das Gasthaus. Und auch wenn ihre Laune nicht länger von einer dauerhaften Trübsal dominiert zu sein schien, sah Cyneric sie trotzdem nur selten lächeln.
Mitten in der Nacht fuhr Cyneric aus dem Schlaf hoch. Er hatte einen wirren Traum gehabt, an den er sich - bis auf einige, verschwommene Eindrücke - kaum noch erinnern konnte. Das Fenster stand offen und einige Schneeflocken wehten herein. Der Wind musste das Fenster aufgestoßen haben, vermutete Cyneric. Noch etwas träge stieß er sich hoch und schloss das Fenster, um es dann fest zu verriegeln. Ein rascher Blick zu Zarifa hinüber zeigte ihm, dass sie fest schlief. Mit einem leisen Seufzen kehrte Cyneric in sein eigenes Bett zurück und versuchte, weiterzuschlafen.
Doch es gelang ihm nicht. In den vergangenen Tagen hatten sich Gedanken in seinem Hinterkopf zu formen begonnen, die nun langsam Gestalt annahmen. Inzwischen waren sie so deutlich geworden, dass sie ihn in jener Nacht nicht schlafen ließen. Er verstand nicht weshalb, doch mehrere Stimmen riefen ihn dazu auf, Aldburg hinter sich zu lassen und dorthin zurückzukehren, wo er gebraucht wurde. Einige Gedanken vermittelten ihm ein Gefühl von Eile, als dränge die Zeit und er liefe Gefahr, zu spät zu kommen. Andere zeigten auf, dass Cynerics Leben in Rohan ohne seine Tochter leer sei und er hier keinen Zweck mehr erfüllen würde. Tatsächlich hatte er sich während einer der Wachschichten dabei ertappt, Langeweile zu verspüren. Früher war so etwas nicht vorgekommen. Doch jetzt fragte er sich, ob das wirklich alles war, was er tun konnte.
Du hast bereits etwas bewirkt, sagte ein Gedanke. Du hast dafür gesorgt, dass Zarifa den Klauen Radomirs entkommen ist.
Und wie konnte das gelingen? fuhr eine zweite Stimme fort. Indem du die Kontakte, die du dir in Rhûn erworben hast, genutzt hast, um die Welt etwas besser zu machen.
Rhûn, dachte er. Nein, dorthin kann ich nicht zurück. Ich müsste Zarifa zurücklassen. Und das kann ich ihr nicht antun.
Das weißt du nicht, entgegneten seine tiefen Gedanken. Du hast sie nicht einmal gefragt.
Sie ist schwanger. Und Rhûn wird sie nur daran erinnern, was man ihr angetan hat.
Es ist ihre Entscheidung, oder etwa nicht? Sie ist kein Kind mehr.
Vergiss nicht, was du dort noch zu erledigen hast, erinnerte ihn eine Stimme, die weiblich klang. Du hast gesehen, was die Schattenläufer sind. Und du weißt, was sie tun werden, wenn du nichts unternimmst. Was sie Salia antun werden. Oder Ryltha.
Es war Rylthas Stimme, die darauf antwortete, mit einem Satz, den sie einst an einem regnerischen Tag in Gortharia selbst so gesagt hatte: Es geht nicht darum, was ich will oder was ich nicht will. Es ist mein Schicksal, ein Schatten zu sein. Ich wurde auserwählt. Du kannst mich nicht retten oder umstimmen, Cyneric.
Aber für Salia ist es noch nicht zu spät, hielt etwas in Cynerics Innerem dagegen. Und dann ist da noch Milva...
Ein goldblonder Haarschopf tauchte in Cynerics Vorstellung auf. Milvas Gesicht wirkte nachdenklich und ihre braunen Augen sahen in die Ferne. Er stellte fest, dass er sie auf eine ungeahnte Art und Weise vermisste.
Dann verflog der Gedanke und er kehrte zu seinem Dilemma zurück. Ich kann nicht einfach gehen. Ich habe hier eine Aufgabe zu erfüllen. Ich bin Gardist der Königin und darüber hinaus sorge ich für Zarifa.
Sprich mit ihr, wisperte es zur Antwort. Sage ihr, dass du nach Rhûn zurückkehren willst. Aber erzähl ihr keine Lügen über den wahren Grund dafür.
"Den wahren Grund..." wisperte er leise. Kenne ich ihn denn selbst wirklich? fragte er sich, während er langsam in einen traumlosen Schlaf abdriftete.
Eandril:
Oronêl, Amrothos und Irwyne aus Dol Amroth
"Da wären wir also wieder", stellte Oronêl fest, als sie unter dem Stadttor von Aldburg hindurchritten. Keiner der Wächter am Tor schenkte ihnen in der Menschenmenge auch nur einen zweiten Blick, denn sie alle waren in die blauen und silbernen Farben Dol Amroths gekleidet - mit Ausnahme von Irwyne, die ihr übliches grün und weiß, die Farben Rohans, trug. Das letzte Mal, dass Oronêl in Aldburg gewesen war, war allerdings Sommer gewesen. Jetzt bedeckte eine dünne Schicht Schnee die Dächer der Stadt, und der Atem von Menschen und Pferden dampfte in der kalten Luft.
"Ich bin nur einmal in Edoras gewesen", meinte Amrothos, und lenkte sein Pferd zur Seite, um einem Karren auszuweichen. "Vor dem Krieg. Aldburg scheint ihm allerdings ziemlich den Rang abgelaufen zu haben."
"Als Mordors Truppen Edoras niederbrannten, flüchteten viele Rohirrim hierher", erwiderte der Anführer der kleinen Wachtruppe, die Imrahil ihnen mitgegeben hatte. Der Fürst hatte darauf bestanden, seinen Sohn nicht ohne eine Garde von wenigstens fünf Mann nach Rohan ziehen zu lassen, sowohl zum Schutz als auch zum Zeichen seines Standes. Oronêl wäre lieber mit Amrothos und Irwyne alleine unterwegs gewesen, doch Imrahil hatte sich durchgesetzt. Dennoch hatte Oronêl die Reise genossen. Die Gardisten hatten sich größtenteils abseits gehalten, sodass Oronêl einige kostbare Zeit allein mit Irwyne und Amrothos verbringen konnte - und erst währenddessen hatte er wirklich verstanden, wie sehr ihm die Gesellschaft von Freunden gefehlt hatte. Und jede Minute, die er mit dieser Erkenntnis gelebt hatte, hatte ihn mehr bedauern lassen, wie seine Reise mit Kerry vom Waldlandreich nach Rohan verlaufen war.
"Und dass später ein großer Rat hier abgehalten wurde, hat die Bedeutung Aldburgs noch einmal gestärkt", fügte Oronêl den Worten des Gardisten hinzu. Er presste die Lippen aufeinander, als er an jene Tage zurückdachte. Sarumans Auftritt während des Rates hatte viele Hoffnungen zerschlagen, und hatte letzten Endes zu Thranduils - und Mírwens - Tod geführt. Doch die Vergangenheit war geschehen, sagte er sich. Es hatte keinen Sinn, darüber nachzugrübeln, was damals schief gelaufen war, sondern man musste versuchen, die Gegenwart besser zu machen. Er wandte sich an Amrothos. "Reitet ihr vor zum Palast, und versuche, schon einmal mit der Königin zu sprechen." Es konnte Amrothos nicht schaden, alleine mit Éowyn zu verhandeln, und Oronêl glaubte fest daran, dass der Prinz dazu in der Lage wäre.
Amrothos nickte, wirkte aber verwundert. "Und was hast du vor?" Oronêl lächelte, und ließ von seiner erhöhten Position aus den Blick über die Menge schweifen. "Ich werde nach jemandem suchen."
Nachdem er sich vom Rest seiner Gruppe getrennt hatte, lenkte Oronêl sein Pferd an den Straßenrand, saß ab, und führte das Pferd am Zügel weiter. Er brauchte nicht lange, bis er auf zwei bewaffnete Stadtgardisten stieß, die an einer großen Kreuzung das geschäftige Treiben aufmerksam beobachteten.
"Verzeiht", sprach er einen der Männer an. "Vielleicht könnt ihr mir weiterhelfen." Er wusste, dass Cyneric früher in der Armee Rohans gedient hatte, also hoffte er, dass irgendjemand unter den Gardisten ihn kannte und Oronêl sagen konnte, ob er und Kerry noch in der Stadt waren.
Der Gardist wandte sich zu ihm um, und nickte. "Wenn es in meiner Macht steht. Was benötigt ihr?" Er sprach respektvoll, aber ohne die verwunderte Ehrfurcht, die Oronêl früher, im Zweiten Zeitalter, bei den wenigen Menschen erlebt hatte, denen er begegnet war. Inzwischen waren die Menschen Rohans, und die Bewohner Aldburgs umso mehr, daran gewöhnt, mit Elben zu sprechen. "Ich suche nach einem Mann namens Cyneric. Er hat früher in Königin Éowyns Diensten gestanden, und müsste vor einiger Zeit nach Aldburg gekommen sein?"
"Cyneric? Selbstverständlich kenne ich ihn, ich habe mit ihm gemeinsam gedient, bevor er nach Rhûn gesandt wurde."
Nun, das war leichter als Oronêl sich erhofft hatte, aber er würde sich nicht beschweren. "Wisst ihr, wo ich ihn finden kann?"
"Er hat seinen Dienst in der Königinnengarde wieder aufgenommen. Wenn er nicht gerade im Palast Dienst hat, solltet ihr ihn im Gasthof "Zur Alten Straße" finden können", erklärte sein Gegenüber. "Ihr folgt einfach dieser Straße noch ein Stück weiter, biegt bei der zweiten Möglichkeit nach links ab, und dann liegt der Gasthof auf der rechten Seite."
Oronêl bedankte sich, und machte sich auf den Weg zum Gasthof, denn die Sonne neigte sich bereits dem westlichen Horizont zu.
Er fand den fraglichen Gasthof ohne größere Schwierigkeiten. Nachdem er sein Pferd an einem Pfahl vor dem Haus angebunden hatte, betrat er den ein wenig verrauchten, stickigen und sehr lauten Schankraum, und blickte sich suchend um. Der Wirt, ein geschäftig aussehender, hochgewachsener Mann mit einem blonden Bart, stand hinter einer niedrigen Theke, und war damit beschäftigt, leere Bierkrüge aufzufüllen. Oronêl kämpfte sich zwischen den vollbesetzten Tischen zu ihm durch, und sagte: "Ich bin auf der Suche nach einem Mann namens Cyneric. Stimmt es, dass er hier wohnt?" Der Wirt sah von seinem Bierfass auf, und blickte Oronêl misstrauisch an. "Ich gebe grundsätzlich keine Informationen über meine Gäste heraus", erwiderte er, und fügte ein wenig entschuldigend hinzu: "Nicht einmal für Angehörige eures edlen Volkes, bitte verzeiht."
Bevor Oronêl etwas erwidern konnte, hatte der Wirt sich bereits wieder abgewandt, und seine Arbeit fortgesetzt. Oronêl wandte sich von der Theke ab, ließ einen Blick über den Schankraum schweifen, und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Er war sich sicher, dass der Gardist ihn nicht belogen hatte, und Cyneric tatsächlich hier wohnte. Doch da der sturköpfige Wirt sich weigerte, ihm Auskunft zu geben, und er schlecht zu den Zimmern schleichen und alle durchsuchen konnte, blieb ihm vermutlich nur über, sich einen Tisch zu suchen und die Tür im Auge zu behalten. Die Aussicht behagte ihm gar nicht, denn die Gesellschaft war ihm entschieden zu laut und betrunken - und vermutlich würde der Wirt ihn nur bleiben lassen, wenn er ebenfalls etwas bestellte. Er warf den schaumbedeckten Bierkrügen einen misstrauischen Blick zu.
Andererseits konnte er natürlich auch zum Palast hinaufgehen. Mit ein bisschen Glück würde Cyneric noch ihm Dienst sein. Allerdings würde Kerry sicherlich nicht ebenfalls dort sein, also...
Bevor Oronêl eine Entscheidung treffen konnte, sprach ihn eine ihm vage bekannt vorkommende Stimme von hinten an: "Wolltest du nicht längst nach Westen gefahren sein, oder so?" Oronêl drehte sich um, und am Fuß einer dunklen Treppe, die ihm zuvor nicht aufgefallen war, saß ein braunhaariges, sehr dünnes Mädchen, dass interessiert zu ihm aufblickte. "Zarifa", stellte er fest, und verspürte eine Erleichterung, die er nicht erwartet hatte. Nicht unbedingt ihretwegen, denn er hatte sie als ein wenig anstrengend in Erinnerung, sondern weil ihre Gegenwart bedeuten musste, dass er tatsächlich am richtigen Ort war. Sie nickte bedeutsam. "So heiße ich, allerdings. Also?"
"Ist Cyneric hier?" Zarifa kam auf die Füße, und verschränkte die Arme vor der Brust. Dabei fiel Oronêl ihr merkwürdig gewölbter Bauch auf. Schwanger, dachte er. Davon war bei ihrer Begegnung im Hargtal noch nichts zu sehen gewesen. Mit Schwangerschaften bei Menschen kannte er sich nicht aus, wusste nicht, ob sie anders verliefen als bei Elben, doch konnte es bedeuten, dass... "Hallooooho", riss Zarifas Stimme ihn aus seinen Gedanken. "Selbst wenn ich nicht die Person bist, wegen der du hier bist, könntest du trotzdem die Höflichkeit besitzen, mir meine Frage zu beantworten, bevor ich deine beantworte. Und da hört man immer wieder davon, wie edel und höflich Elben sein sollen..." Sie biss ein Stück von einem Kanten Brot ab, den sie in der Hand gehalten hatte, und blickte Oronêl erwartungsvoll an.
"Ich... habe mich anders entschieden", antwortete er. "Du hättest wenigstens den Anstand haben können, dich anders zu entscheiden, bevor du abgehauen bist, ohne dich wenigstens von Kerry zu verabschieden." Oronêl blickte zu Boden, und musste trotz der schmerzhaften Erinnerung ein Lächeln unterdrücken. Zarifas Entrüstung über den Schmerz, den er Kerry zugefügt haben musste, nahm ihn auf der Stelle für sie ein.
"Das hätte ich wohl", erwiderte er. "Und ich würde mich gerne bei ihr dafür entschuldigen. Ist sie noch hier?" Zarifa schüttelte den Kopf, zu Oronêls Enttäuschung. "Sie ist schon vor einiger Zeit aufgebrochen, mit, äh... dem König von Dunland?" Aéd, dachte Oronêl. Er freute sich, dass er und Kerry sich wiederbegegnet waren, doch gleichzeitig wunderte er sich, dass Cyneric seine Tochter, die er gerade erst wieder gefunden hatte, mit einem Dunländer hatte gehen lassen. Hoffentlich hatte es keinen Streit gegeben...
"Sie und Cyneric haben sich ein bisschen deswegen gestritten", erzählte Zarifa weiter, als hätte sie seine Gedanken gelesen. "Aber dann haben sie sich wieder vertragen."
"Und wo ist Cyneric jetzt?", fragte Oronêl. Zarifa wirkte ein wenig traurig. "Oben am Palast, er hat noch Wachdienst. Ich glaube nicht, dass er vor Mitternacht kommen wird. Deshalb sitze ich ja hier, und schaue den Leuten zu." Oronêl nickte nur. Wenn er in den Schankraum blickte, glaubte er, sie zu verstehen. Alleine in ihrem Zimmer zu sitzen war vermutlich nicht gerade angenehm, doch sich zu der lauten, betrunkenen Gesellschaft im Schankraum zu gesellen war nicht viel besser. Dieses Mädchen brauchte Freunde, die ihr Gesellschaft leisten konnten, doch im Augenblick schien sie nur Cyneric zu haben - und dieser hatte andere Pflichten.
"Ich muss zum Palast hinauf und mit Cyneric sprechen. Und danach... vielleicht komme ich wieder her, und vielleicht kannst du mir ein wenig über das Land erzählen, aus dem du kommst."
Zarifas Augen weiteten sich verwundert. "Ich dachte, Elben wären tausende von Jahren alt und schon überall in der Welt gewesen."
Oronêl lächelte. "Das mit dem Alter stimmt. Doch für den größten Teil meines Lebens habe ich meine Heimat nicht wirklich verlassen, und ich bin nie in Harad oder Rhûn gewesen."
"Bei unserer ersten Begegnung hast du mir ein Messer an die Kehle gesetzt", meinte Zarifa misstrauisch. "Warum willst du dich jetzt mit mir unterhalten?"
Weil ich vermute, dass du einsam bist, dachte Oronêl. Und dass du in dieser Stadt niemanden hast, dem du vertraust, und mit dem du reden kannst - außer Cyneric. Und auch wenn ich das nicht auf Dauer tun kann, wenigstens für einen Abend kann ich es versuchen. Aber er sprach nichts von dem aus, sondern zuckte nur mit den Schultern und sagte: "Letztes Mal waren meine Gedanken auf mich selbst gerichtet, aber ich habe das Gefühl, dass du einer der interessantesten Menschen bist, denen ich bislang begegnet bin. Und vielleicht habe ich auch die ein oder andere interessante Geschichte zu erzählen... Also, abgemacht?"
Zarifa blickte ihm forschend ins Gesicht, als befürchtete sie eine verborgene Absicht hinter seinen Worten. Doch was sie sah, stellte sie offenbar zufrieden. "Gut. Abgemacht."
Oronêl zum Palast
Fine:
Der Vormittag zog sich in die Länge, wie es an ereignislosen Tagen im Wachdienst allzu oft seine Eigenart war. Cyneric stand am Haupteingang der königlichen Residenz und ließ das rege Treiben der Stadtbewohner Aldburgs an sich vorbeiziehen. Nur selten versuchte jemand, Einlass zu erlangen. Die meisten Angelegenheiten des Volkes regelte die Königin, ehe es zu Unzufriedenheit kommen konnte, denn sie wusste sehr genau, wie es den Rohirrim ging und welche Sorgen das Volk umtrieben.
Als sich der Mittag langsam ankündigte und die Sonne ihren höchsten Stand erreichte, geriet Cynerics träger Alltag endlich in Bewegung. Schneeflocken wirbelten durch die Luft, als ein heftiger Windstoß aus dem Gebirge südlich der Stadt hinabstieß. Und als hätte der Wind sie mit sich gebracht tauchte aus dem Schneetreiben eine Gruppe Fremder auf, die entschlossenen Schrittes auf die Königsresidenz zu marschierten. Sie trugen die Farben Dol Amroths: Blau und Silber, und wurden von einem jungen Reiter angeführt, der Cyneric an den Prinzen Erchirion erinnerte, der während der Ratsversammlung von Aldburg bei den Hohen Herrschaften der Elben und Menschen vorgesprochen hatte.
Doch selbst ein hochrangiger Gesandter, so wie dieser es ohne Zweifel war, hatte sich an das Prozedere zu halten. Cyneric und der zweite Gardist, der ihm bei der Bewachung der Eingangspforte Gesellschaft leistete, hielten die Gondorer an. "Halt, Freunde. Ihr steht vor den Hallen der Herrscher der Riddermark. Wer seid Ihr, und was ist Euer Begehr?" fragte Cyneric.
"Ich bin Amrothos von Dol Amroth," sagte der Reiter. Er hätte noch weiter gesprochen, doch in diesem Augenblick sprang hinter ihm eine Gestalt aus dem Sattel, die Cyneric gut kannte, aber niemals in der Gesellschaft der Gondorer erwartet hatte.
"Cyneric!" rief Irwyne und umarmte den etwas verdutzten Gardisten, ohne sich um Gondorer oder Rohirrim zu scheren.
"Irwyne?" wunderte er sich. "Ich hörte, dass du in Lindon wärest, bei den Elben jenes Landes. Was tust du hier?"
"Hat Kerry dir das erzählt?" wollte Irwyne wissen. "Nun, seither ist viel geschehen. Sieh nur, ich habe Amrothos gefunden, und es geht ihm wieder gut - Oronêl hat ihn gerettet, so wie du es damals immer gesagt hast!"
Cyneric erinnerte sich daran, wie Irwyne ihm während ihrer gemeinsamen Zeit in Aldburg und im Feldzug gegen Dol Guldur von Amrothos erzählt hatte, dem jüngsten Sohn des Fürsten Imrahil von Dol Amroth, der nach dem Fall von Lothlórien in großer Gefahr geschwebt hatte.
"Nun, mein Herr Amrothos, ich bin froh zu hören, dass Ihr den Gefahren, in denen Ihr Euch befandet, entrinnen konntet," sagte Cyneric noch immer etwas verwundert.
"Dies ist also Cyneric, von dem Irwyne schon viel erzählt hat," sagte der Prinz freundlich und stieg von seinem Pferd. "Eine angenehme Überraschung. Ich bin erfreut, Euch kennenzulernen."
"Gewiss seid Ihr nicht meinetwegen hierher gekommen, mein Prinz," sagte Cyneric mit gebührendem Respekt.
"Amrothos muss dringend mit der Königin sprechen," mischte Irwyne sich ein. "Ist sie zuhause?"
"Ihr werdet sie in ihren Gemächern finden, Prinz Amrothos," sagte Cyneric. "Cúthred, führe die Gondorer bitte dorthin," wies er den zweiten Gardisten an. Sogleich folgten die Menschen Dol Amroths dem Wächter, doch Irwyne blieb bei Cyneric stehen.
"Ich bin so froh, dass du wieder sicher nach Hause gefunden hast," sagte das Mädchen strahlend. Doch dann hob sie warnend den Finger. "Aber sag, wann hattest du vor, dein Versprechen einzulösen, das du mir in Dol Guldur gegeben hattest?"
Cyneric erinnerte sich. Er hatte Irwyne versprechen müssen, sie nach seiner Reise nach Rhûn in Imladris zu besuchen. "Das ist nicht gerade fair, Irwyne," verteidigte er sich. "Wäre ich nach Imladris gekommen, wärst du doch längst fort gewesen. Außerdem... habe ich nach der Rückkehr aus dem Osten nach meiner Tochter gesucht. Du musst das verstehen."
"Ich weiß, ich weiß," beruhigte Irwyne ihn. "Oronêl sagte mir, dass du sie gefunden hast. Sie ist eine gute Freundin von mir, kannst du dir das vorstellen?"
"Davon hat sie mir erzählt," sagte Cyneric. "Doch wie ist es dir ergangen? Wie bist du nach Dol Amroth gelangt?"
Irwyne stürzte sich in einen ausführlichen Bericht ihrer Erlebnisse seit ihrer Trennung von Cyneric nach der Belagerung von Dol Guldur. Sie schien kein großes Interesse an Amrothos' Unterredung mit der Königin Rohans zu haben. So erfuhr Cyneric, wie Irwyne mit Finelleth über den Hohen Pass nach Imladris gereist und dort auf Oronêl und Amrothos getroffen war. Wie sie Oronêl nach Fornost gefolgt und dort Déorwyn kennengelernt hatte. Wie sie anschließend weiter nach Lindon gezogen und dort ihre Freundschaft zu Amrothos vertieft hatte. Und wie Oronêls Tochter Mithrellas aus Dol Amroth per Schiff in den Grauen Anfurten eingetroffen war und Amrothos und Irwyne angeboten hatte, sie zurück zur Stadt Imrahils zu bringen.
"Und nun sind wir hier, um Rohan um Unterstützung im Krieg zu bitten," schloss Irwyne ihren Bericht.
"Dann solltest du den Prinzen dabei wohl besser nicht alleine lassen, nicht wahr?" meinte Cyneric mit einem Schmunzeln, denn ihm war der gewisse Unterton in Irwynes Stimme, wenn sie von Amrothos sprach, nicht entangen.
"Vielleicht hast du Recht. Er hat hin und wieder die Angewohnheit, sich zu Dummheiten hinreißen zu lassen. Ich glaube, das hat er von Oronêl," meinte Irwyne. Dann umarmte sie Cyneric erneut. "Wir müssen später in Ruhe über alles reden. Pass auf dich auf, Cyneric!" Und damit verschwand sie im Inneren der Residenz.
Kaum fünf Minuten vergingen, bis eine weitere Überraschung Cyneric ereilte. Diesmal jedoch war er besser vorbereitet. Denn Irwyne, die ja aus Dol Amroth kam, hatte mit keinem Wort erwähnt, dass Oronêl seinen Plan, in den Westen zu fahren, in die Tat umgesetzt hatte. Und tatsächlich stand der Waldelb unversehens vor den Stufen, die zur Königsresidenz hinaufführten und wirkte, als käme er ganz zufällig hier vorbei, was Cyneric nicht einen Augenblick lang glaubte.
"Sieh mal einer an," sagte er und musste lächeln. "Hat es dir in den unsterblichen Landen etwa nicht gefallen, Meister Oronêl?"
Oronêl blickte auf und legte den Kopf schief. "Ich verstehe langsam, woher Kerry ihre scharfe Zunge bekommen hat," meinte er gelassen und kam die Stufen hinauf. "Es ist gut, dich zu sehen, Cyneric. Ich habe bereits nach dir Ausschau gehalten."
"Nun, hier bin ich. Und da du ebenfalls hier bist, gehe ich davon aus, dass es jemandem gelungen ist, dich von deiner Entscheidung abzubringen, in den Westen zu fahren."
"Es bedurfte der Überzeugungskraft Vieler," sagte Oronêl, dem keinerlei Verlegenheit anzumerken war. "Kerry, Mithrellas, Amrothos, und nicht zuletzt Siniel."
"Siniel?"
"Oh, ich meinte damit Irwyne," erklärte Oronêl. "Ich gab ihr diesen Namen als wir uns wiederbegegnet sind."
Cyneric nickte. "Ich verstehe," sagte er. "Schön, dass Irwyne wieder mit dir reist. Auch wenn ich fürchte, dass sie schon bald keinen Bedarf mehr für uns beide haben wird."
Oronêl lachte leise. "Es ist dir also aufgefallen. Nun, ich kann nicht sagen, dass mir ihre Wahl missfällt."
"Er scheint ein guter Mann zu sein, dieser Amrothos," meinte Cyneric.
"Das ist er," bekräftigte Oronêl. Er machte eine Pause und blickte über die geschäftigen Straßen der Stadt hinaus. "Ich hatte gehofft, Kerry wäre noch bei dir," fuhr der Waldelb schließlich fort.
"Sie ist wieder aufgebrochen," sagte Cyneric. "Ich habe es ihr nicht verbieten können."
"Ja, Zarifa erzählte mir davon. Ich bin ihr unten im Gasthof begegnet."
"Oh? Das ist erstaunlich. Für gewöhnlich schläft sie zu dieser Tageszeit."
"In ihrem Zustand ist das kein Wunder," sagte Oronêl. "Doch ich denke, sie schlägt sich ganz gut. Für den Augenblick..."
Noch während sie miteinander sprachen, zog eine Bewegung auf der Treppe Cynerics Aufmerksamkeit auf sich. Er warf Oronêl einen entschuldigenden Blick zu und nahm Haltung an. Dort auf den Stufen stand eine junge Frau mit zerzaustem schwarzen Haar, die sich unsicher umblickte. Sie trug fremdartig aussehende Kleidung, die ganz und gar nicht nach Rohan zu gehören schien. Sie erinnerten Cyneric stattdessen an einige der Ostlinge, die er in den Straßen Gortharias gesehen hatte.
"Halt, junge Dame. Dies ist die Residenz der Herrin von Rohan. Wie lautet Euer Name und was ist Euer Begehr?" fragte er, ohne dabei unfreundlich zu klingen. Ihm fiel auf, dass Oronêl die Szene mit etwas Abstand aufmerksam beobachtete.
"Ich bin Irri, die Prin... die Fürstin von Balanjar," antwortete die Fremde, zuerst etwas stockend, dann mit entschlossener Stimme. Sie sprach mit einem deutlichen rhûnischen Akzent. "Ich verlange, mit der Königin Rohans zu sprechen."
"Balanjar?" wiederholte Cyneric. "Das südlichste Fürstentum von Rhûn meint Ihr?"
"Nein," widersprach Irri. "Balanjar ist wieder ein freies Land. Doch mein Volk braucht Hilfe gegen den Schatten Mordors. Deshalb bin ich hier."
"Wenn das so ist, biete ich meine Hilfe gerne an," sagte Oronêl. "Ich habe ebenfalls vor, mit Königin Éowyn zu sprechen. Begleitet mich zu ihr."
"Wer... seid Ihr?" wollte Irri misstrauisch wissen.
"Man nennt mich Oronêl Galion. Wollt Ihr meine Hilfe nun, oder nicht?"
Irri dachte einen Augenblick über das Angebot nach. Dann nickte sie zögerlich. "Also gut. Gehen wir."
Cyneric öffnete die Eingangspforte der königlichen Residenz und gab Oronêl eine Wegbeschreibung zu den Gemächern der Königin. "Irwyne und Amrothos sollten noch dort sein," fügte er hinzu, ehe die beiden hineingingen.
Während wieder Ruhe auf seinem Wachposten einkehrte, fragte Cyneric sich, was die heutigen Ereignisse wohl zu bedeuten hatten, und was Zarifa wohl davon halten würde...
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