Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Rohan

Aldburg - In der Stadt

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Fine:
"Oronêl ist wieder da," sagte Zarifa mit vollem Mund.
"Ich weiß. Er ist mir vorhin begegnet," antwortete Cyneric, ehe er einen Schluck aus dem Krug neben seinem Teller nahm.
"Wieso ist er zurückgekommen? Mir hat er nur gesagt, er hätte sich... umentschieden."
"Ich hörte, es bedurfte der guten Zurede durch einige Personen, die ihm sehr am Herzen liegen," mutmaßte Cyneric. "Genaueres weiß ich leider auch nicht."
"Er hat nach Kerry gefragt," meinte Zarifa und griff nach dem Brot, das in einem Korb zwischen ihnen auf dem Tisch lag. "Und sich einige Zeit lang mit mir unterhalten. Das war seltsam, aber..."
"Aber?" hakte Cyneric nach.
"Es hat mir gefallen, ihm ein wenig von mir zu erzählen," sagte die junge Südländerin leise, als würde sie diese Tatsache gerade erst selbst feststellen.
"Du hast ihm deine Geschichte erzählt?"
"Einen Teil davon. Und er hat mir etwas von sich berichtet. Dass er über tausend Jahre in Gondor im Exil gelebt hat, aber ursprünglich aus dem... "Goldenen Wald" stammt, was auch immer das sein mag."
"Er hat es wohl nicht für nötig gehalten, dies genauer zu erklären?" fragte Cyneric belustigt.
"Nein, wohl nicht. Was ist denn der Goldene Wald?" wollte Zarifa wissen.
"Ein Elbenwald, der ungefähr auf halbem Weg zwischen Rohan und dem Düsterwald liegt. Wir sind auf unserer Reise nach Süden daran vorbeigekommen, haben aber einen sicheren Abstand dazu gehalten."
"Wieso? Spukt es dort etwa?"
"Das nicht, aber heute leben dort leider keine Elben mehr. Sarumans Orks hausen nun im Goldenen Wald, nachdem sie ihn erobert haben."
"Saruman..." murmelte Zarifa nachdenklich. "Hmm. Man hört nichts Gutes über diesen Kerl."
Cyneric musste schmunzeln. "Nein, ich schätze, das tut man wirklich nicht."
Damit schienen Zarifas Fragen für den Augenblick beantwortet zu sein und sie widmete sich dem Rest ihrer Abendmahlzeit.

Cyneric war nach dem Ende seiner Schicht, kaum eine halbe Stunde nachdem er Oronêl und der geheimnisvollen Irri den Weg zu Königin Éowyn gewiesen hatte, zu Zarifa in das Gasthaus "Zur Alten Straße" zurückgekehrt. Inzwischen war es Abend geworden und sie hatten ein gemeinsames Abendessen zu sich genommen, das sie nicht wie gewohnt auf ihrem Zimmer aßen, sondern unten, in der großen Schankstube. Je später es wurde, desto voller wurde der Raum, weshalb Zarifa nach dem Essen schon bald vorschlug, auf das Zimmer zurückzukehren.
Dort angekommen setzte sie sich auf ihr Bett und starrte einige Augenblicke nachdenklich aus dem Fenster hinaus. Die Sonne war bereits untergegangen. An ihrer Stelle hing der Mond voll und schwer über den Wäldern östlich von Aldburg, die sich als schemenhafte Silhouetten jenseits der strohgedeckten Hausdächer der Stadt erhoben.
Zarifa seufzte tief und schien einen inneren Gedanken abzuschütteln. Sie riss ihren Blick vom Fenster los und sagte: "Es geht das Gerücht um, das eine fremdländische Prinzessin in der Stadt ist. Hast du schon davon gehört?"
Cyneric wunderte sich ein wenig über die Neugierde der jungen Frau, während er sich auf der Kante seines eigenen Bettes niederließ. "Es ist wahr, zumindest wenn man diesem Ostling-Mädchen Glauben schenken kann. Sie kam kurz vor Ende meiner Wachschicht ganz allein zur Residenz der Königin und bat um eine Audienz. Oronêl bot ihr an, sie zu Herrin Éowyn zu begleiten. Ihr Name lautet Irri und sie stammt aus Balanjar, dem südlichsten Fürstentum Rhûns."
"Mhmm," machte Zarifa, die sich mittlerweile hingelegt hatte. "Was sucht eine Ostlingprinzessin bloß hier in Rohan?"
"Sie sprach davon, dass ihr Volk Unterstützung gegen den Schatten Mordors sucht. Balanjar liegt ungefähr zwischen Gortharia und dem Schwarzen Land, wenn ich mich recht entsinne. Weshalb die Menschen, die dort leben, sich gegen Mordor auflehnen, weiß ich nicht. Ich vermute, da stecken wieder irgendwelche der zahllosen Intrigen dahinter, die den Königshof Rhûns wie Fliegen umschwirren."
Zarifa gähnte. "Naja, es ist ja nicht unser Problem," sagte sie und verkroch sich unter ihrer Decke. "Wenn du morgen in der Königsresidenz bist, kannst du dich ja mal umhören, was aus dieser Irri geworden ist. Es würde mich interessieren."
"Ich werde mich nach ihr umhören," versprach Cyneric.

Zarifa war schon bald darauf fest eingeschlafen. Cyneric hingegen lag noch einige Zeit lang wach und dachte über die Ereignisse des Tages nach. Oronêls unerwartete Rückkehr hatte in Cyneric Vorwürfe ausgelöst, dass er seine Tochter so leicht hatte gehen lassen. Wenn Déorwyn doch nur einige wenige Tage länger gewartet hätte! Sicherlich hätte sie nur allzu gerne gewusst, dass Oronêl von seinem Vorhaben, in den Westen zu fahren, abgesehen hatte. Cyneric fragte sich, ob Déorwyn Dunland sicher erreicht hatte und wie es ihr ging. Er hoffte, sie würde gemäß ihren Beteuerungen gut auf sich aufpassen und keine Dummheiten anstellen. Der junge Aéd hatte zwar einen soliden Eindruck bei Cyneric hinterlassen, aber als Mensch von Rohan fiel es ihm trotzdem schwer, sein angeborenes Vorurteil den Dunländern gegenüber einfach so abzulegen. Er fragte sich, ob er nicht härter hätte durchgreifen sollen...

Ein kühler Windstoß kitzelte Cynerics Nase und er öffnete die Augen. Er stellte fest, dass er wohl eingeschlafen sein musste, denn der Vollmond war verschwunden und das Zimmer war in tiefe Finsternis gehüllt. Cynerics Augen gewöhnten sich nur sehr langsam an die Dunkelheit, doch schließlich konnte er erkennen, dass das Fenster einen Spalt offen stand.
Muss sich wohl durch den Wind geöffnet haben, dachte er sich und schlug die Bettdecke zurück, um aufzustehen.
"Du solltest besser liegenbleiben, wenn dir dein Leben etwas wert ist, Cyneric," sagte jemand direkt neben dem Bett. Es war eine vertraute Stimme, die Cyneric seit seinem Aufbruch aus Gortharia nicht mehr gehört hatte...
"Ryltha? Bist du das?" flüsterte er ungläubig.
Ein Licht sprang urplötzlich in der Finsternis auf, eine winzige Flamme, die von einem kurzen Holzstäbchen ausging. Rylthas sonnengebräuntes Gesicht und ihre dunkelblonden Haare schälten sich aus der Dunkelheit. Das Flackern des Feuers spiegelte sich unheilvoll in den dunklen Augen der Schattenläuferin.
"Wirklich, Cyneric, ich bin enttäuscht. Uns weis zu machen, dass du mit Salia zurück zur Stadt Varek gingst, nur um in Wahrheit in die entgegengesetzte Richtung zu fliehen."
Ryltha stand in einer fließenden Bewegung auf und entzündete eine Lampe, die sie offenbar mitgebracht hatte. Das trübe Glas der Öllampe dunkelte das Licht in ihrem Inneren so stark ab, dass das Zimmer sich nur so weit erhellte, dass man sich darin bewegen konnte, ohne an Betten oder andere Möbel zu stoßen. Ryltha wandte sich wieder Cyneric zu und er sah, wie die Schattenläuferin einen Dolch geschickt in der Hand kreisen ließ.
"Du weißt, warum ich mich in eure Dienste begab," erklärte er leise, während er einen Blick hinüber zu Zarifa riskierte.
"Keine Sorge. Das arme Ding schläft - tief und fest. Dafür habe ich gesorgt." Ryltha sprach nun mit normaler Lautstärke und ihre weißen Zähne blitzten auf, als sie boshaft lächelte. "Natürlich weiß ich, dass du doch nur deine Tochter retten wolltest. Aber musstest du uns dafür anlügen und hintergehen?"
"Ich hatte damals keine Zeit für eure endlosen Intrigen, und ich habe sie auch jetzt nicht," entgegnete Cyneric mit fester Stimme. "Als ich erfuhr, wo meine Tochter zuletzt gesehen worden war, konnte ich nicht länger warten. Die Täuschung war notwendig, damit ich sofort aufbrechen konnte."
Ryltha legte den Kopf leicht schief. "Du hättest mit uns darüber sprechen können. Wir hätten dafür sorgen können, dass du deine kleine Déorwyn bereits am Erebor getroffen hättest - oder sie sogar zu dir nach Gortharia bringen können."
"Ich hoffe, sie wird diese verfluchte Stadt ihr Leben lang niemals betreten müssen," sagte Cyneric. "Ich tat, was ich für richtig hielt, Ryltha. Wenn du mich töten willst, dann tu', was du tun musst. Ich werde meine Entscheidung nicht bereuen."
"Sieh mal einer an. Das Rückgrat steht dir gut, Cyneric," säuselte Ryltha. "Dich zu töten wäre... Verschwendung. Auch wenn es natürlich Spaß machen und für ein wunderbares Durcheinander hier in dieser rückständigen Stadt sorgen würde. Ein Gardist der Königin, ermordet von der wilden Südländerin, für deren Schutz er sich eingesetzt hatte? Tragisch. Dramatisch! Wie wird die Weiße Königin damit umgehen? Entscheidet sie sich für Gerechtigkeit - ein Leben für ein Leben? Oder lässt sie Gnade vor Recht ergehen?"
"Genug davon," unterbrach Cyneric die Schattenläuferin unwirsch. "Wenn du nicht hier bist, um mich zu töten, dann komm' zum Punkt, oder lass' mich schlafen."
Ryltha kicherte. "Du hast dich verändert, Cyneric. Hat es damit zu tun, dass du deine Tochter gefunden hast? Wo ist sie denn?"
"Das geht dich überhaupt nichts an," knurrte Cyneric. "Raus mit der Sprache - was, verdammt noch mal, willst du von mir?"
"Oh, nicht viel. Nur deine überaus nützlichen Talente, die du uns ungefragt entzogen hast. Wir mussten so einige Pläne verschieben oder sogar ganz abbrechen, und das war nicht sonderlich erfreulich. Außerdem hast du dir mit deinem Streich im Bezug auf Zarifa die Stahlblüten zu Feinden gemacht, was auf uns zurückgefallen ist. Ich musste in einer ärgerlichen nächtlichen Aktion diesen Geldsack Castav um genügend Gold erleichtern, um Lilja für das Mädchen zu entschädigen, das da so friedlich neben dir schläft."
"Lass Zarifa aus dem Spiel. Sie hat genug Leid erdulden müssen."
"Das werde ich, wenn du brav bist und genau tust, was ich sage," forderte Ryltha.
"Und was wäre das?"
"Pack deine Sachen und triff mich morgen Mittag an der Wegkreuzung der Großen Weststraße eine Meile nördlich von Aldburg. Wir haben einen langen Ritt vor uns."
"Aber..." wagte Cyneric einzuwenden.
"Kein aber, Cyneric," schnitt Ryltha ihm das Wort ab. "Wenn du es nicht um Zarifas Willen tun wirst, dann tu es für Milva."
"Milva? Was hat sie mit der Sache zu tun?"
"Mehr als du denkst. Aber genug geredet. Du solltest versuchen, noch etwas Schlaf zu finden. Die Reise wird anstrengend werden."
"Wohin gehen wir?" fragte Cyneric, der Böses ahnte.
"Zurück nach Gortharia natürlich. Dorthin, wo alles angefangen hat..."

Eandril:
Während des kurzen Weges durch den Palast betrachtete Oronêl die angebliche Fürstin von Balanjar verstohlen aus dem Augenwinkel. Sie sah wirklich nicht wie eine Fürstin aus, mit abgetragener, teilweise zerfetzter Kleidung und zerzausten Haaren - ohnehin war sie nicht gerade das sauberste Wesen, dass Oronêl unter die Augen gekommen war. Dennoch zweifelte er nicht an ihren Worten, denn er hatte keine Lüge in ihren Augen gesehen und keine Falschheit an ihr gespürt. Diese Sache versprach interessant zu werden, doch sein Weg würde ihn zuerst weiter nach Norden führen...
"Hattet ihr eine schwierige Reise?", fragte er höflich, und erntete zuerst einen misstrauischen Blick. Dann seufzte Irri, schien sich an ihre Würde als Fürstin zu erinnern und sich zusammenreißen. "Sie war nicht leicht. Ich verlor mein Pferd als ich den großen Fluss überquerte, und musste den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen." Vom Anduin nach Aldburg alleine und zu Fuß. Sie musste doppelt so lange wie erwartet gebraucht haben, dachte Oronêl. Kein Wunder, dass sie glaubte keine Zeit zu haben, sich vor einer Audienz mit der Königin von Rohan frisch zu machen.
Sie erreichten die Tür zu den Privatgemächern der Königin, wo ein etwas gelangweilt wirkender Gardist Wache hielt.
"Ich wünsche, die Königin Rohans zu sprechen", sagte Irri, und Oronêl stellte zu seiner Belustigung fest, dass sie sich aufgerichtet hatte um ein wenig größer zu wirken als sie eigentlich war. "
"Königin Éowyn ist beschäftigt", erwiderte der Gardist. "Ihr seid...?"
"Irri, Fürstin von Balanjar. Ich ver... erbitte eine Audienz."
"Mein Name ist Oronêl Galion", ergänzte Oronêl mit einem Lächeln über die verwirrte Miene des Wächters. "Ich bin mit Amrothos von Dol Amroth gereist, der sich im Augenblick vermutlich in diesem Raum befindet." Der Wächter machte keine Anstalten sich zu bewegen, sondern blickte lediglich verwirrt zwischen ihnen hin und her, also fuhr Oronêl fort: "Ich schlage dringend vor, dass ihr hineingeht und uns ankündigt."
"Natürlich, natürlich." Der Wächter verschwand durch die hölzerne Tür, und kam lediglich einen Augenblick später wieder heraus. "Königin Éowyn wird euch empfangen. Folgt mir."
Oronêl reihte sich freiwillig hinter Irri ein, um der Fürstin den Vortritt zu lassen, und hinter dem Wächter traten sie durch die Tür.
"Irri, die Fürstin von Balanjar, und Oronêl Galion, Begleiter des Prinzen Amrothos", kündigte der Gardist sie gewichtig an. Oronêl nutzte den Augenblick, um einen raschen Blick durch den Raum zu werfen. Der Boden war aus Steinfliesen, aber bedeckt mit verschiedensten Fellen und Teppichen. An der Wand gegenüber der Tür brannte ein munteres Feuer in einem Kamin, und vor dem Kamin stand ein länglicher Tisch um den mehrere Stühle gruppiert waren. Nur einer dieser Stühle, der eine höhere, geschnitzte Lehne aufwies, war besetzt. Éowyn saß in der Mitte der Längsseite des Tisches, einen schlichten Goldreif auf dem blonden Haar und wie üblich ganz in weiß gekleidet. Faramir, in grün und schwarz, stand schräg hinter ihrem Sitz, eine Hand locker auf die Rückenlehne gelegt. Zur linken, ein wenig abseits an der Wand, standen Amrothos und Irwyne. Amrothos verzog keine Miene, betrachtete Irri jedoch intensiv, während Irwyne Oronêl verstohlen zuwinkte.
Als sie ungefähr die Mitte des Raumes erreicht hatten, sank Oronêl hinunter auf ein Knie, während Irri einfach stehen blieb.
"Erhebt euch, Oronêl", begann Éowyn. "Ihr braucht vor mir nicht zu knien, schließlich hat die Herrin Galadriel euch die Herrschaft über das Volk Lóriens übertragen und ihr seid mir im Rang ebenbürtig. Seid willkommen in Rohan."
"Ich fühle mich nicht gerade als Fürst, und ich möchte es auch nicht besonders gerne sein", erwiderte Oronêl, kam jedoch wieder auf die Füße. "Ich danke euch für euer Willkommen." Éowyn schenkte ihm ein kurzes Lächeln, bevor sie sich an Irri wandte. "Und auch euch heiße ich willkommen in Rohan, Fürstin. Ich werde mir anhören, was ihr zu sagen habt."
Irri entspannte sich spürbar, und neigte ein wenig den Kopf. "Ich danke euch."
"Danke, Dúnfred, du kannst gehen", ergriff Faramir, an den Gardisten gerichtet, das Wort. Dúnfred verbeugte sich tief, und verließ den Raum.
"Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, euer Anliegen vor den Anwesenden vorzutragen", fuhr Faramir an Irri gewandt fort. "Prinz Amrothos vertritt in diesem Fall Gondor, das unser Verbündeter ist, und Herr Oronêl vertritt die Elben von Lórien, die ebenfalls an unserer Seite stehen."
"Ihr könnt ihnen allen bedingungslos vertrauen", ergänzte Éowyn. "Denn ich tue es auch." Bei dem Wort Elben hatte Irri Oronêl einen verwirrten Seitenblick zugeworfen, doch jetzt nickte sie zustimmend.
"Also gut. Das Volk von Balanjar hat lange für die Könige Rhûns an der Seite Mordors gekämpft, doch ich bitte euch, unsere Feindschaft zu begraben. Wir haben den Fürsten, der uns in den Krieg geführt hat, gestürzt und den Göttern geopfert, und wir werden nicht länger für den Schatten Mordors in den Krieg gegen den Westen ziehen." Éowyn und Faramir tauschten einen nicht zu deutenden Blick. "Da Mordor direkt an unserer Südgrenze liegt und der Schatten Verrat nicht milde behandelt... bitte ich euch im Namen meines Volkes außerdem um Hilfe. Allein werden wir der Rache des Schattens nicht widerstehen können."
"Gerne stimme ich einem Frieden zwischen unseren Völkern zu", erwiderte Éowyn, erhob sich, ging um den Tisch herum und streckte Irri, die mehr als einen Kopf kleiner war als sie, eine Hand entgegen. Irri ergriff sie zögerlich, und Éowyn fuhr fort: "Möge es nie wieder Feindschaft zwischen uns geben, solange das Volk von Balanjar nicht erneut unter den Schatten fällt." Bei den letzten Worten fixierten Éowyns graue Augen Irris schwarze, doch die junge Fürstin hielt dem Blick stand.
"Balanjar wird nicht wieder unter den Schatten fallen. Nicht, wenn ihr uns helft."
In Éowyns Gesicht zuckte ein einzelner Muskel, und in diesem Augenblick erkannte Oronêl die Anspannung, die die immer noch junge Königin beherrschte. "Das können wir nicht."
Irri machte einen Schritt zurück, und Éowyn hob die Hände. "Ich schwöre, dass ich euch helfen würde, wenn es uns möglich wäre. Doch Rohan hat im Krieg gegen den Schatten schwere Verluste hinnehmen müssen. Ausreichend Männer nach Balanjar zu schicken um dem Angriff Mordors vielleicht kurzzeitig zu widerstehen würde bedeuten, unsere eigenen Grenzen zu entblößen. Mordor könnte aus dem besetzten Gondor eine Armee schicken, die unser Land besetzt, während wir im Osten Krieg führen um euer Volk zu retten. Mein Volk würde sterben um das eure zu retten, und deswegen... können wir euch nicht helfen."
"Dann ist mein Volk verloren", stellte Irri mit Bitterkeit in der Stimme fest. "Wir hätten überlebt, wären wir einfach weiter für den Schatten in den Kampf gezogen. Ich glaubte, mein Volk zu retten."
"Euer Volk hätte nicht überlebt", ergriff Oronêl das Wort. "Sauron hasst die Menschen, ohne Ausnahme. Er hätte euch weiterhin benutzt, um die Herrschaft über ganz Mittelerde zu erlangen, und sobald er sein Ziel erreicht hätte, wärt ihr an der Reihe gewesen."
"Also werden wir so oder so sterben." Oronêl kannte die Verzweiflung und Ratlosigkeit, die sich in ihre Stimme geschlichen hatten.
"Nicht unbedingt. Lasst mich euch einen Ratschlag geben - wenn ihr erlaubt, Königin", ergänzte er an Éowyn gewandt. "Nur zu", erwiderte diese mit einem Funken Belustigung in der Stimme. "Ihr sprecht ja ohnehin schon." Oronêl lächelte verstohlen, bevor er sich wieder an Irri wandte. "Flieht", sagte er schlicht. "Euer Volk ist ohnehin zum größten Teil nomadisch, nicht war?" Die Fürstin nickte. "Sammelt so viel ihr könnt von eurem Volk, und dann zieht nach Norden, an den Rand des großen Waldes. Kennt ihr Saurons Festung, die Dol Guldur genannt wird?" Irri nickte erneut, und beobachtete Oronêl konzentriert.
"Ein wenig südwestlich von Dol Guldur liegt eine Lichtung, die man Rhosgobel nennt. Dort lebt der Zauberer Radagast, ihn müsst ihr aufsuchen. Richtet ihm Grüße von mir aus, erzählt ihm, was geschehen ist, und bitte ihn, euer Volk durch den Wald ins nördliche Tal des Anduin zu führen. Folgt dem Fluss weiter nach Norden, und ihr werdet nahe seiner Quellen ein Land finden, in dem ihr für einige Zeit in Sicherheit wärt. Zumindest so viel Sicherheit, wie es dieser Tage in Mittelerde gibt."
"Oronêls Vorschlag ist gut", meinte Éowyn, bevor Irri etwas sagen konnte. "Die Vorfahren meines Volkes sind einst selbst aus den Ländern östlich des Waldes dorthin geflüchtet, und haben einige Zeit dort in Frieden gelebt, bevor mein Urahn Eorl sie nach Rohan führte."
"Ich... werde darüber nachdenken müssen", sagte Irri. Es war deutlich, dass der Gedanke an eine Flucht nach Norden ihr nicht sonderlich behagte, doch gleichzeitig musste ihr klar sein, dass ihr Volk keine andere Chance hatte.
"Es ist spät, also seid ihr eingeladen, zumindest die Nacht hier zu verbringen", ergriff jetzt Faramir das Wort. "Vielleicht könnten wir Boten entlang des Anduin aussenden - nicht mehr viele Menschen leben entlang des Flusses, doch wir könnten sie darauf vorbereiten, die Balanjari auf dem Weg nach Norden passieren zu lassen und ihnen zu helfen soweit es geht."
Éowyn nickte zustimmend, und klatschte in die Hände. Sofort steckte Dúnfred den Kopf zur Tür herein, und Éowyn sagte: "Geleite die Fürstin von Balanjar zu einem der freien Gästezimmer und gib den Dienern Bescheid, dass sie sich um sie kümmern sollen. Danach gehst zu zu Elfhelm, er soll... vier Männer suchen, die bereit sind einen längeren Botenritt anzutreten." Dúnfred schlug sich mit der rechten Faust gegen die linke Brust, und wandte sich an Irri: "Wenn ihr mir bitte folgen würdet, Herrin?" Oronêl lächelte der Fürstin, die ein wenig überrumpelt wirkte, zu. "Ihr gewinnt nichts, wenn ihr im Dunkeln und Schneetreiben wieder aufbrecht. Verbringt eine Nacht in einem richtigen Bett und brecht morgen mit neuen Kräften wieder auf."
Irri nickte langsam. "Ich danke euch... allen." Sie wandte sich Éowyn zu. "Ich werde nicht lügen, ich hatte mir mehr erhofft. Doch ich verstehe, warum diese Hoffnung vergebens war, und ich danke euch für das, was ihr dennoch für mein Volk tut."
"Jeder, der gegen Mordor steht, ist unser Verbündeter in diesen Tagen", erwiderte Éowyn ernst. "Ich wünschte, ich könnte mehr tun, und ich danke euch, für das Verständnis, dass ihr unserer Lage entgegenbringt. Wir werden unser Gespräch morgen fortsetzen."

Sobald Irri mit Dúnfred den Raum verlassen hatte nahm Éowyn den goldenen Reif ab und ließ sich mit einem Seufzer in ihren Sessel sinken. "Genug der Förmlichkeiten", sagte sie mit einem nachlässigen Wink. "Amrothos, Irwyne, hört auf euch an der Wand herumzudrücken und setzt euch. Du auch, Oronêl - ich hoffe, dich stört die Vertraulichkeit nicht. Immerhin bist du etwas wie ein Urgroßvater meiner Kinder, wie ich höre."
Oronêl schmunzelte, und setzte sich ihr gegenüber. Irwyne saß zu seiner Linken, Amrothos wiederum links von ihr an der Kopfseite des Tisches und Faramir ließ sich neben seiner Gemahlin wieder. "Ich glaube, dass können jede Menge Kinder von sich behaupten", meinte er. "Man mag kaum glauben, wie viele Generationen von Menschen in gerade etwas über tausend Jahren vorüberziehen."
Im gleichen Moment ertönte aus einem Nebenzimmer, zu dem eine Tür neben dem Kamin führte, ein gedämpftes Weinen. Éowyn seufzte. "Und dort hört man die nächste Generation. Würdest du...?", fragte sie an Faramir gewandt, der sanft ihre Hand drückte und sich erhob. "Natürlich." Irwyne sprang so plötzlich auf, dass sie beinahe ihren Stuhl umgestoßen hätte. "Ich würde gerne mitkommen, wenn... ich darf..."
Faramir und Éowyn tauschten ein Lächeln, und Faramir nickte. "Nur zu gerne, edle Irwyne. Schließlich kann man nie früh genug anfangen für später zu lernen." Er zwinkerte Amrothos zu, der ein wenig errötete, und verließ mit Irwyne im Schlepptau den Raum.
"Natürlich wäre es einfacher, sie einer Amme zu übergeben... und vielleicht auch schicklicher", meinte Éowyn ein wenig verlegen. "Aber in der Zeit in der wir leben... möchte ich so viel Zeit wie möglich mit meinen Kindern verbringen, solange es geht. Auch wenn es manchmal ein wenig anstrengend sein kann." Sie tauschte einen wissenden Blick mit Oronêl, der an die ersten Jahre mit Mithrellas zurückdachte. "Daran ist nichts falsch oder unschicklich", sagte er. "Ich... manchmal habe ich mir mehr Zeit mit meiner Tochter gewünscht. Am Ende... ist es aber jede Anstrengung wert, selbst in Zeiten wie diesen."

Eandril:
Der nächste Morgen dämmerte klar und kalt. Im Osten erhob sich eine bleiche Sonne über den Horizont, und ließ den Schnee auf Dächern und Mauern glitzern. Oronêl hatte den Morgen vor dem Eingang des Palastes erwartet, dort, wo er am Abend zuvor Cyneric begegnet war. Zu seinem Bedauern war jener nirgends zu sehen, und ein anderer Gardist hatte seinen Platz eingenommen.
Er hörte leise Schritte hinter sich, und nur wenige Herzschläge später stand Irwyne neben ihm. Heute trug sie ein komplett weißes Kleid, dass ihr vermutlich Éowyn geliehen hatte, und ihre blonden Haare waren noch vom Schlaf zerzaust. "Du bist früh auf", meinte Oronêl, ohne den Blick vom Sonnenaufgang abzuwenden. Irwyne schlang einen Arm um seinen. "Ich hatte befürchtet, du würdest dich still und heimlich davonstehlen."
Oronêl musste lächeln. Trotz allem. "Das habe ich hinter mir, Siniel. Ich hätte mich auf jeden Fall von dir verabschiedet."
"Aber verabschieden wirst du dich", stellte Irwyne bedauernd fest.
"Ja." Einen Augenblick lang beobachteten sie schweigend den Sonnenaufgang. "Ich... hatte einen Traum. Er war seltsam, und durcheinander, doch eindeutig eine Warnung. Kerry kam darin vor, und Aéd. Sie sind beide in Gefahr, fürchte ich. Und... da war noch mehr. Ich glaube, ich habe Eregion gesehen, und dunkle Wolken, die sich darüber sammelten. Irgendetwas geht vor sich."
"Dann musst du gehen." Irwyne ergriff seine Hände. "Kerry ist meine Freundin ebenso wie deine. Also verstehe ich es."
Oronêls Erleichterung war größer als erwartet. Auf keinen Fall hatte er eine weiteren Abschied wie den von Kerry gewollt.
"Hast du von einem bestimmten Ort geträumt?", fragte Irwyne. "Das wäre doch ganz praktisch, wenn du wüsstest, wohin du gehen musst."
Oronêl dachte nach, versuchte sich zu erinnern. Die Bilder in seinem Traum waren durcheinander gewirbelt, verwirrend, verzerrt gewesen. Und doch... "Da war ein Turm. Ein sehr hoher Turm aus schwarzem Stein, in... in der Mitte eines zerstörten Mauerrings."
"Isengard", flüsterte Irwyne. "Das ist Isengard."

Bei den Ställen trafen sie auf Amrothos, bereits vollständig angezogen und frisiert, und Irri, die heute deutlich erholter und gepflegter wirkte als am Abend zuvor.
"Ihr brecht auf?", fragte Oronêl sie mit einer leichten Verbeugung.
"Ja. Königin Éowyn war so freundlich, mir ein Pferd zu schenken, und ich will nicht mehr Zeit verlieren als nötig", erwiderte die Fürstin.
"Habt ihr über meinen Vorschlag nachgedacht?"
"Das habe ich, und... ich werde sehen, wie die Lage in meiner Heimat ist. Doch ich fürchte, wenn Mordor kommt wird uns keine andere Wahl bleiben."
Aus einem Impuls heraus ergriff Oronêl ihre Hand. "Möget ihr euer Volk in Sicherheit führen. Und mögen wir uns wiedersehen, ehe die Tage dunkler werden." Irri befreite ihre Hand mit einem sanften Ruck, lächelte aber. "Ich danke euch für eure Worte. Mögen die Götter des Grases, des Windes und des Himmels euch auf euren Wegen beschützen."
Mit einer fließenden Bewegung schwang sie sich aufs Pferd. "Lebt wohl. Ihr lasst mich glauben, dass unsere Wahl die richtige gewesen ist."

Nur wenig später war auch für Oronêl die Zeit des Abschieds gekommen. Er schwang sich auf den Rücken seines Pferdes, eines Grauschimmels den die Elben aus Lindon hier zurückgelassen haben und der besser an die Reitart der Elben gewöhnt war als das Pferd, dass er auf dem Weg von Dol Amroth nach Rohan geritten hatte. Er blickte auf Irwyne und Amrothos, die nebeneinander standen, herab. "Lebt wohl, meine Freunde. Es mag einige Zeit vergehen, bis wir einander wiedersehen, doch ihr werdet in meinen Gedanken sein."
"Und du in unseren", erwiderte Amrothos, und legte einen Arm um Irwynes Schultern. Ihre Augen glitzerten verdächtig, und je länger Oronêl die beiden anblickte, desto schwerer fiel ihm der Abschied. "Sei anständig zu ihr", sagte er an Amrothos gewandt. "Denn wenn du es nicht bist, wird dich keine Verwandschaft der Welt vor mir retten können."
Amrothos grinste. "Wenn ich nicht anständig zu ihr bin, wird mich nichts in der Welt vor ihr selbst retten können."
"Das ist wahr", meinte Irwyne, und legte den Kopf auf seine Schulter. "Und jetzt reite, Oronêl. Rette Kerry, und diesen Aéd. Und dann die Welt."

Oronêl nach Isengard

Rohirrim:
Zarifa saß noch eine ganze Zeit lang im Zimmer und wunderte sich über Cynerics merkwürdiges Verhalten. Sie waren beide ganz normal aufgestanden und hatten gefrühstückt, doch aus irgendeinem Grund war Cyneric an diesem morgen sehr schweigsam gewesen. Normalerweise war es Cyneric, der versuchte die morgendliche Konversation am Laufen zu halten, während Zarifa versuchte, ihre Übelkeit und ihre Sorgen zu vergessen. Doch heute morgen waren ihre Rollen aus irgendeinem Grund vertauscht gewesen. Zarifa hatte gut geschlafen, während Cyneric müde, gestresst und vor allem besorgt wirkte. Er hatte sich jedoch nicht erklären wollen und war ganz normal zu seinem Wachdienst aufgebrochen und hatte Zarifa wie üblich im Gasthaus zurückgelassen.

Allmählich gingen Zarifa diese immer gleichen Tagesabläufe ziemlich auf die Nerven. Bis auf ihr kurzes Zusammentreffen mit Oronêl war seit der Abreise von Kerry nichts spannendes mehr passiert und Zarifa verbrachte ihre Tage mehr oder weniger nur damit zwischen Langeweile und schmerzlichen Erinnerungen hin und her zu schwanken. Sie war zwar einige Male über den Markt der Stadt geschlendert, doch wirklich genießen hatte sie das auch nicht können. An sich war die Stadt zwar schön (wenn man mal von dem Pferdegestank absah), aber dennoch ging es ihr schlecht. Sie kannte niemanden, hatte keine Gesellschaft abgesehen von Cyneric, der stets früh zu seinem Wachdienst antrat und abends früh ins Bett ging, um am nächsten morgen wieder fit zu sein. Und außerdem schaffte sie es nach wie vor nicht, ihre Gedanken bei sich zu behalten. Immer wieder schweifte sie ab, musste anfangen zu weinen, ohne dass es irgendeinen konkreten Anlass dafür gab. Zarifa wünschte sich nichts sehnlicher, als ihr Leben aus Umbar zurück. Ihr Leben in Armut, aber dafür in kompletter Freiheit.
„Aber ich bin doch frei“, überlegte Zarifa. „Niemand in dieser Stadt sagt mir, was ich tun kann und was nicht. Ich kann jetzt in diesem Moment machen was ich will. Zumindest theoretisch“

Sehnsüchtig dachte Zarifa daran zurück, wie sie bei strahlendem Sonnenschein in ihrem selbst zusammengebauten Zelt saß und eine Mahlzeit zu sich nahm, die sie sich von dem Geld irgendeines reichen Arschlochs gekauft hatte und wurde dabei immer trauriger. Würde diese Zeit jemals zurückkehren? Würde sie jemals wieder frei und unbeschwert Leben können? Oder war sie dazu verdammt auf ewig an ihren Erinnerungen zu leiden? Zarifa konnte einfach nicht aufhören darüber nachzudenken. Sie wollte wieder das unbeschwerte junge Mädchen von früher sein, doch wie sollte ihr das gelingen, wenn ihre Gedanken immer wieder abschweiften? Wenn sie den ganzen Tag über nichts zu tun hatte, außer über ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart und ihre Zukunft nachzugrübeln? Sie brauchte eine Beschäftigung. Sie hielt nicht noch einen weiteren Tag aus, an dem sie darauf wartete, dass Cyneric vom Wachdienst nach Hause kam, ihnen etwas zu Essen machte und dann schlafen ging. Sie musste etwas tun. Irgendetwas. Doch was genau wollte sie eigentlich machen? Was waren die Dinge, die sie gern tat? Was hatte sie früher getan, um sich zu beschäftigen? Damals in Umbar? Zarifa musterte das Bettlaken, auf dem sie gerade saß und ihr kam eine Idee. Wenn sie wieder so frei und unbeschwert leben wollte wie früher, musste sie einfach wieder mehr so werden wie früher.


Zufrieden betrachtete Zarifa sich selbst im Spiegel. Dieses weiße zu einem Kleid umfunktionierte Bettlaken stand ihr wesentlich besser, als der Krempel, den sie von Cyneric erhalten hatte. Während die junge Frau so da stand, konnte sie ihrem Spiegelbild förmlich dabei zusehen, wie es anfing, immer breiter zu lächeln. Sie sah es vor sich, wie sie mit einem solchen „Kleid“ in ihrem „Zelt“ in Umbar saß, während die Sonne auf sie herabschien und sie eine leckere Mahlzeit zu sich nahm. Bis auf ein paar zusätzliche Narben und einen inzwischen etwas runderen Bauch, sah ihr Spiegelbild dem Mädchen von damals erstaunlich ähnlich. Nichts würde sie jetzt noch davon abhalten, ihren Plan in die Tat umzusetzen und zu dem Mädchen zu werden, das sie früher einmal war.

Bereits zehn Minuten später musste sie feststellen, dass sie bei ihrem Plan ein entscheidendes Detail übersehen hatte: In Rohan war es um diese Jahreszeit eiskalt. Matschiger Schnee bedeckte die Straßen und Zarifa fror sich in ihrem Kleid fast zu Tode. Widerwillig stapfte Zarifa wieder in ihr Zimmer, um sich doch etwas wärmeres anzuziehen. Doch das sollte sie jetzt nicht aufhalten. Ein paar Minuten später war Zarifa am Marktplatz angekommen und blickte sich um. Zunächst hatte sie Schwierigkeiten, sich in ihre neue Rolle einzufinden, doch schon sehr bald kam ihr alles sehr vertraut vor. Sie lauerte hinter einer Ecke, während sie das Treiben auf dem Markt beobachtete. Sie sah ehrliche, hart arbeitende Händler, die ihre Ware selbst bei dieser Kälte anboten. Sie sah Leute die an den Ständen vorbei liefen, hin und wieder anhielten, um etwas zu kaufen und ansonsten kaum miteinander redeten. Das schlechte Wetter schien die Stimmung im Vergleich zum Markt in Umbar zu drücken. Doch die Rollenverteilung war genau die selbe, wie damals. Reiche Leute, die auf die Armen runter schauten. Händler, die allen Widrigkeiten trotzten, um Geld zu verdienen. Arme Leute, die versuchten Preise herunterzuhandeln, um sich eine Mahlzeit leisten zu können. „Es ist wohl überall das Selbe“, dachte Zarifa traurig. Doch gleichzeitig machte ihr dieser Gedanke auch Mut. Sie erinnerte sich daran, wie sie damals gemeinsam mit vielen anderen Angehörigen der Unterschicht Umbars einen Aufstand angezettelt hatte – einen Aufstand gegen die Reichen. Einen Aufstand gegen die ungerechten Verhältnisse. Und alles begann mit einem einfachen Diebstahl.

Zarifa analysierte die Situation genauer. Ein reich aussehender Mann machte gerade einen Händler zur Schnecke, weil dieser sein Gemüse nicht schnell genug verpackte. Zarifa sah die verlockend prall gefüllt aussehende Geldbörse des Mannes. An anderer Stelle beobachtete sie, wie ein schüchtern aussehender, pickliger Junge in seinen Händen einen Ball aus Schnee formte. Dieser Anblick faszinierte Zarifa. Und brachte sie prompt auf eine Idee. Ihre Gedanken rasten so schnell, dass sie gar nicht bemerkte, wie ein auffällig gut aussehender Mann an ihr vorbei lief und sie interessiert musterte.
Zarifa kniete sich hin und tat es nun dem schüchtern aussehenden Jungen gleich. Sie formte in ihren Händen einen Schneeball und musste dabei schnell feststellen, dass das schwieriger, als sie es sich vorgestellt hatte. Der Schnee war eiskalt und schmolz in ihren Fingern viel zu schnell dahin, um einen vernünftigen Ball hinzubekommen. Doch mit ein bisschen Mühe gelang es ihr schließlich. Ihr Auge fiel wieder auf den reichen Mann, der den armen Händler offenbar immer noch nicht in Ruhe lassen wollte. Sie atmete tief ein, zielte und...
„HEY!“

Der Schneeball traf den reichen Mann genau am Hinterkopf. Erschrocken fuhr dieser herum und schimpfte laut stark vor sich hin. Zarifa konnte durch den Wind Wörter wie „Unverschämtheit“ „Wer wagt es?“ und „Wenn ich den erwische“ auf. Vorsichtig schlich sie sich näher ran und beobachtete den reichen Mann dabei ganz genau. Sie musste den richtigen Moment abpassen. „Sir, hier ist ihr Gemüse!“ „Was?“ Der reiche Mann drehte sich schlagartig zurück zu dem Händler. Genau darauf hatte Zarifa gewartet. Blitzartig schlug sie zu, schnitt dem Mann seine Geldbörse ab und zog sich so schnell sie konnte wieder zurück. Sie hatte nur ein paar Sekunden, bis der Mann seinen Verlust bemerken würde. Zarifa versuchte zu rennen, doch plötzlich bemerkte sie einen heftigen Schmerz in ihrem Bauch.

„Verdammt, Verdammt, Verdammt!“, dachte Zarifa, während sie sich unter Schmerzen so schnell wie möglich vom Ort des Geschehens entfernte. Früher wäre ein solcher Rückzug ein leichtes für sie gewesen. Sie war einmal sehr schnell und kaum zu fassen gewesen. Doch jetzt machte sich ihre Schwangerschaft auf einmal bemerkte. Sie betete, dass der Mann noch etwas brauchte, bevor er bemerkte was geschehen war. Sie musste so schnell wie möglich zum Gasthaus. Völlig in Gedanken versunken bemerkte Zarifa erneut nicht, dass sie beobachtet wurde.

Etwa zwei Stunden später war Zarifa damit beschäftigt den Tisch in ihrem Zimmer für ein leckeres Abendessen zu decken. Sie hatte es geschafft, sich in den Gasthof zurückzuziehen, bevor jemand sie erwischen konnte und anschließend abgewartet, bis sie sich in Sicherheit gewogen hatte, und mit dem gestohlenen Geld einkaufen gegangen war. Sie freute sich schon darauf, Cynerics Gesicht zu sehen, wenn sie ihm diese Mahlzeit präsentierte. Schließlich hatte er in den letzten Tagen ständig angeregt, dass Zarifa sich unter die Leute mischen sollte. Und endlich hatte sie es getan.

Zehn Minuten später kam Cyneric von seinem Wachdienst zurück. Bei seinem Gesichtsausdruck erinnerte sich Zarifa schlagartig wieder daran, wie merkwürdig sich Cyneric am Morgen verhalten hatte. Er wirkte viel angespannter als sonst und realisierte zunächst gar nicht, was in dem Zimmer vor sich ging. „TADA!“, sagte Zarifa und präsentierte stolz das angerichtete Abendessen. Cyneric erstarrte und blickte grimmig von Zarifa, die inzwischen wieder in ihr Bettlakenkleid geschlüpft war, und dem angerichteten Esstisch hin und her. Es schien, als würde er im Kopf zwei und zwei zusammenzählen.

„Also bist du für den Vorfall heute auf dem Markt verantwortlich?“, fragte Cyneric und runzelte dabei die Stirn
„Was für ein Vorfall? Und wie kommst du darauf, dass ich etwas damit zu tun hatte?“, wollte Zarifa grinsend wissen.
„Du weißt genau wovon ich spreche. Ich habe während meiner Schicht davon gehört. Und wo sonst solltest du das Geld für all das herhaben? Ich habe dir längst nicht so viel hiergelassen.“
„Okay, erwischt!“, meinte Zarifa immer noch grinsend. „Wirst du mich jetzt verhaften?“
Cyneric schien nicht so recht zu wissen, ob er wütend oder belustigt sein sollte. Er versuchte ein strenges Gesicht aufzusetzen, konnte sich ein flüchtiges Grinsen jedoch nicht verkneifen.
„Wie kommt es denn, dass dich niemand verdächtigt hat, als du die Sachen gekauft hast? Eine junge Südländerin mit so viel Geld? Da muss doch jemand skeptisch geworden sein.“
„Man darf niemals das gesamte Geld beim gleichen Händler ausgeben. Immer portionsweise ein bisschen hier und ein bisschen dort. Alles andere wäre ein Anfängerfehler“, entgegnete Zarifa immer noch grinsend. Cyneric seufzte und atmete tief durch.
„Hör zu, Zarifa! Ich weiß, dass du dich früher auf der Straße mit Diebstählen durchschlagen musstest und habe vollstes Verständnis dafür. Aber diese Zeiten sind vorbei. Du musst nicht mehr andere Leute bestehlen, um dich über Wasser zu halten. Dafür sorge ich schon.“

Jetzt war es an Zarifa, die Stirn zu runzeln. Cyneric verstand manchmal wirklich keinen Spaß. Aber wenn sie ehrlich war, hätte sie mit so einer Reaktion rechnen müssen.
„Ich hatte einfach keine Lust mehr, jeden Tag nur rumzuhängen und nichts zu tun. Du hast doch selber gesagt, ich solle mich unter die Leute mischen und versuchen Spaß zu haben. Und den hatte ich heute. Und nebenbei bemerkt, wenn man ein reiches Arschloch bestiehlt, dass gerade einen armen Händler unnötig fertig macht, geht es nicht nur darum, sich selbst zu bereichern. Es geht darum ein Zeichen zu setzen und dem Arschloch eins auszuwischen“, erklärte sie. „Und außerem habe ich keine Lust mehr, von dir abhängig zu sein. Früher war ich von niemandem anhängig. Ich war frei. Und jetzt muss ich immer darauf hoffen, dass jemand anderes mir etwas zu Essen vorsetzt. So kann es doch nicht weitergehen. Insbesondere, wenn in ein paar Monaten mein Kind geboren wird. Was, wenn dein Lohn für drei Personen nicht mehr ausreicht? Was wenn du einmal nicht mehr da bist?“

In diesem Moment wurde Cyneric auf einmal kreidebleich. Sein Gesichtsausdruck erinnerte Zarifa an den von heute morgen, als sich der Gardist vor seinem Wachdienst so seltsam verhalten hatte. Würde Zarifa jetzt endlich erfahren, was ihn den ganzen Tag so bedrückte? Cyneric schien etwas sagen zu wollen, doch er brachte es nicht über die Lippen. Zarifa musterte ihn. Nach einer kurzen, unangenehmen Stille, bohrte Zarifa schließlich nach: „Was ist denn? Du willst mir doch irgendetwas sagen, oder? Du benimmst dich schon den ganzen Tag so seltsam.“
Cyneric senkte den Blick. Er konnte Zarifa anscheinend nicht mehr in die Augen sehen.
„Heute Nacht hatten wir Besuch.“
„Besuch? Wer war es? Und warum hast du mir nicht Bescheid gesagt?“
Cyneric berichtete von dem nächtlichen Besuch von Ryltha und vermied es dabei, Zarifa in die Augen zu sehen. Dieses Verhalten war äußerst ungewöhnlich. Ihm schien das ganze ziemlich unangenehm zu sein. Gegen Ende seiner Erzählung fasste er sich jedoch und blickte der jungen Frau tief in die Augen: „Und das bedeutet, dass ich weggehen muss. Zurück nach Rhûn. Zurück nach Gortharia. Zurück in die Fänge der Schattenläufer.“

Während Cyneric diese Worte sagte, stießen Tränen in die Augen der Südländerin. Das durfte einfach nicht war sein. Langsam begrub sie ihr Gesicht in den Händen und fing dann heftig an zu schluchzen. Cyneric legte beutsam seine Hand auf ihre Schulter, doch Zarifa schlug sie weg. Dass schien den Gardisten ziemlich zu verunsichern. Er sagte nichts, sondern betrachtete Zarifa besorgt und wartete bis sie das Wort ergriff. Zarifa wusste jedoch gar nicht wo sie anfangen sollte. Ihre Gedanken rasten hin und her, ohne Ziel und ohne echten Zusammenhang. Sie wusste nur eines: Sie wollte auf keinen Fall zurück nach Rhûn. Nach einer Weile blickte sie schließlich auf und die folgenden Worte sprudelten nur so aus ihrem Mund, ohne dass sie selbst so richtig wusste, wo sie mit ihren Ausführungen eigentlich hin wollte.

„Das ist es dann also? Erneut lässt du mich allein? Genau wie damals in Gortharia? Wie zum Teufel soll ich denn klarkommen, schwanger und ohne Geld?“ „Komm doch einfach mit“, versuchte Cyneric sie zu beschwichtigen, doch unwissentlich machte er damit alles nur noch schlimmer. Zarifa redete sich nun richtig in Rage. „Mitkommen? Ich kann nicht mitkommen und das weißt du auch. In Rhûn habe ich die schlimmste Zeit meines Lebens verbracht. Und außerdem bin ich schwanger, verdammt nochmal! Mich bekommen keine zehn Pferde zurück nach Rhûn!“ „Okay, Okay... Ich sorge dafür, dass man sich um dich kümmert. Ich...“ „Jaja, schon klar. Das letzte mal, als du mir sowas versprochen hast, war ich kurz darauf in einem Haus voller überpriviligierter Frauen, die meine Fähigkeiten ausnutzen wollten. Ständig, sagst du, dass du mir helfen willst. Doch in Wahrheit denkst du immer nur an dich selbst. Du nimmst mich aus Gorak mit nach Gortharia, nur um festzustellen, dass du nicht weißt wohin mit mir und dass ich deinen Plänen eigentlich nur im Weg stehe. Du nimmst mich mit aus Gortharia, doch anstatt auch nur eine Sekunde daran zu denken, wie es mir dabei geht, schwanger und traumatisiert durch völlig fremde Länder zu reiten, denkst du nur daran, so schnell wie möglich deine Tochter wiederzufinden. Auf dem Weg begegnen wir Alvar, doch anstatt ihn wie versprochen zu töten, siehst du nur zu, wie Salia mich festhält. Schließlich finden wir endlich deine Tochter, gehen nach Aldburg und dann weißt du nichts besseres, als mich den ganzen Tag hier versauern zu lassen und wenn ich einmal eigenständig versuche Spaß zu haben, maßregelst du mich. Und jetzt sagst du mir, dass du abhaust und mich hier alleine, mittellos und ohne eigene Unterkunft zurücklässt? Na toll, danke für nichts, Cyneric, oh hochwohlgeborener Gardist von Rohan!“

Cyneric wich das letzte bisschen Farbe aus dem Gesicht und nun schossen ihm die Tränen in die Augen. Hatte er bei dem Versuch, Zarifa zu helfen in Wahrheit alles nur noch schlimmer gemacht. Hilflos, fast flehend blickte er Zarifa an, unfähig ein Wort zu sagen. Zarifa betrachtete den Gardisten und sah ihm tief in die Augen. Es war das erste mal, dass sie Tränen aus seinen Augen kommen sah. Diese Augen, die sie so stark an die von Ziad  erinnerten. Sie erinnerte sich, wie sie zum ersten mal in diese Augen geblickt und in ihm den Mann wiedererkannt hatte, der ihr als kleines Kind das Leben gerettet hatte. Das war vor dem brennenden Haus von Fürst Radomir von Gorak gewesen. Vor dem Haus, aus dem Cyneric sie gerettet hatte, nachdem sie den Fürsten umgebracht und anschließend in ihrer Panik beinahe ums Leben gekommen war. Er hatte sich selbst in Gefahr gebracht, um sie zu retten. Und das, obwohl er sie zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht gekannt hatte. Anschließend hatte er sie weg von dem Ort gebracht, an dem sie nichts als Leid erfahren und sich fast das eigene Leben genommen hatte. Hatte sie stets vor Konsequenzen geschützt, die sie ohne sein Eingreifen sicher hätte erfahren müssen. Er hatte immer versucht sie zu trösten, wenn sie wiedereinmal traurig war. War immer nett gewesen, auch wenn sie auf ihrer Reise manchmal echt nervig gewesen war. Hatte stets für sie gesorgt, auch wenn er selber seine eigenen Sorgen hatte. Er hätte sie einfach zurücklassen können. Er hätte Déorwyn viel schneller wiederfinden können, wenn Zarifa ihn nicht so oft aufgehalten hätte. Doch darüber hatte er nie auch nur nachgedacht. Dank Cyneric, konnte sie zum ersten mal in ihrem Leben regelmäßige Mahlzeiten, ein warmes Bett und ein nahezu sorgenfreies Leben führen.

Zarifa war auf einmal selbst davon überrascht, wie schnell die Worte vorhin aus ihrem Mund gesprudelt waren. Sie blickte in Cynerics immer noch tränende Augen und umarmte den Mann, dem sie nahezu alles zu verdanken hatte. „Tut mir Leid, so habe ich das nicht gemeint“, meinte Zarifa entschuldigend und drückte Cyneric dabei so fest, wie sie es noch nie zuvor getan hatte. „Du hast mir das Leben gerettet. Obwohl du mich überhaupt nicht gekannt hast. Hast immer für mich gesorgt, und das obwohl ich oft sehr anstrengend war und du eigentlich einfach nur Kerry wiedersehen wolltest. Danke für alles. Ohne dich wäre ich schon lange tot. Und mit mir mein ungeborenes Kind.“
Nach einem kurzen Zögern, erwiderte Cyneric schließlich die Umarmung und erklärte: „Es tut mir Leid, dass ich zurück nach Rhûn muss und dich hier zurücklassen muss. Ich weiß, dass du dicht mitkommen kannst. Aber es geht leider nicht anders.“ „Ich weiß. Danke für alles, Cyneric. Du warst für mich da in einer Situation, in der niemand sonst für mich da war und in dem ich mehr denn je jemanden brauchte. Aber du kannst nicht dein ganzes weiteres Leben aufgeben, um weiterhin für mich zu sorgen. Ich muss es schaffen auf eigenen Beinen zu stehen.“

Die beiden so ungleichen Menschen umarmten sich noch eine ganze Weile und ließen schließlich voneinander ab. „Also dann, ich habe nicht mehr viel Zeit. Ich...“ Erneut schien Cyneric um Worte verlegen zu sein. „Schon gut. Ich werde dich vermissen. Und grüß Milva von mir. Die Alte kann jemanden wie dich gebrauchen. Aber pass auf, dass du sie nicht aus Versehen schwängerst. Sonst wird sie noch anstrengender als ich“, meinte Zarifa grinsend und machte sich über das Essen her. Cyneric blickte verdutzt und schüttelte dann den Kopf, bevor er sich selbst einen Happen zu Essen genehmigte.

Fine:
Nach dem Essen saßen sie noch den ganzen Abend beisammen und unterhielten sich so frei wie noch nie zuvor. Beide schienen einander nun besser zu verstehen und insbesondere Zarifa hatte einen Teil ihrer Zurückhaltung abgelegt. Cyneric erfuhr in diesen Stunden viel davon, wie Zarifa einst in der fernen Stadt Umbar gelebt hatte und was sie durchgemacht hatte. Es machte ihm seinen Abschied nicht gerade einfacher, doch er war dennoch froh, Zarifa noch besser kennenlernen zu können. Seinerseits erzählte er der jungen Südländerin Geschichten aus der Zeit vor dem Krieg, von dem ruhigen Familienleben in Hochborn und von seinem jüngeren Bruder. Bis kurz vor Mitternacht verbrachten sie einen geradezu unbeschwerten Abend miteinander und trotz des Abschiedes, der ihnen beiden bevorstand, schlief Cyneric in dieser Nacht außerordentlich gut und ungestört.

Am darauffolgenden Tag war Zarifa früh auf den Beinen und öffnete lautstark die Fensterläden des kleinen Zimmers, das Cyneric für sie beide gemietet hatte. Längst schon hatte er dafür Sorge getragen, dass der Gastwirt das Mädchen aus Umbar mindestens für einige Wochen nicht mit Geldforderungen behelligen würde - so lange die von Cyneric im Voraus bezahlten Münzen eben reichen würden. Gemeinsam nahmen sie unten in der Schankstube ein Frühstück ein; danach packte Cyneric seine Habseligkeiten zusammen.
"Was wirst du den anderen Gardisten denn nun sagen?" fragte Zarifa neugierig. "Werden sie nicht Fragen stellen, wenn du plötzlich verschwindest?"
"Ehrlich gesagt weiß ich es nicht," entgegnete Cyneric, als sie gerade den Gasthof verließen. Obwohl er sich bereits lange den Kopf darüber zerbrochen hatte, war ihm einfach keine schlüssige Erklärung dafür eingefallen, dass er kaum einen Monat nach seiner Rückkehr nach Rohan erneut in Richtung Rhûn aufbrechen würde. Er hatte sich letzten Endes dafür entschieden, mit der Königin darüber zu sprechen, falls Éowyn dafür Zeit hatte.
Auf dem Weg zur königlichen Residenz begegneten Cyneric und Zarifa mehrere Gardisten, die Cyneric zum Großteil amüsierte Blicke zuwarfen. "Sei bloß vorsichtig!" sagte einer der Männer. "Wenn du nicht aufpasst, wird sie bald über dein ganzes Leben bestimmen!"
Cyneric warf Zarifa einen verwunderten Blick zu, doch diese antwortete nur mit einem ebenso ahnungslosen "Hä?"
Vor den Toren des Palastes angekommen offenbarte sich ihnen die Lösung des Rätsels. Vier Gardisten standen dort im Halbkreis um eine vertraut wirkende Frau herum, die dem Aussehen nach eine Schildmaid Rohans zu sein schien. Das hellbraune Haar war zu einem breiten Zopf geflochten, der Cyneric an die Lieblingsfrisur seiner Tochter erinnerte und der unter dem Helm der Kriegerin hervorragte. Sie trug eine schwere Rüstung aus Leder und war mit Schild und Speer bewaffnet. Ein dunkelgrüner Umhang nach Art der Rohirrim der Ostfold vervollständigte die Ausrüstung.
"Ich muss schon sagen, Cyneric," sagte einer der Gardisten, als sie näher gekommen waren. "Das hätte ich dir nach all der Zeit gar nicht zugetraut. Firalda scheint ja wirklich ein bodenstädiges Mädchen zu sein."
Firalda - bei der es sich natürlich um niemand anderen als Ryltha handelte, die nahezu perfekt in die Rolle einer Schildmaid der Riddermark geschlüpft war - lächelte strahlend. "Ich hoffe, ich lerne seine Tochter bald kennen," sagte sie und beeindruckte Cyneric mit ihrem akzentfreien Rohirrisch.
"Wer hätte gedacht, dass es in der Wold noch solche Frauen gibt?" mischte sich ein anderer Wächter ein. "Wenn du dort angekommen bist, solltest du ihnen ausrichten, dass es in Aldburg so manche tapfere Recken gibt, die noch zu haben sind."
Cyneric konnte sich inzwischen relativ gut denken, was hier gespielt wurde. Zarifa hingegen...
"Ich versteh's nicht," sagte sie, glücklicherweise leise genug, dass nur Cyneric sie hören konnte.
"Da bist du ja, mein Held," sagte "Firalda" und fiel Cyneric um den Hals. Dabei zischte sie ihm beinahe unhörbar ins Ohr: "Spiel mit, sonst bereust du es..."
"Äh... Ja. Wie schön, dich zu sehen," stotterte er etwas betreten. "Du... hast dich also bei den Gardisten vorgestellt?"
"Sie hat uns von euren Plänen erzählt," beantwortete einer der Soldaten die Frage. "Zu schade, dich jetzt schon wieder zu verlieren."
"Nun, ich denke, es ist für uns so am Besten," meinte Cyneric, der Böses ahnte.
"Die Grenze am Ostwall ist seit dem Feldzug gegen Dol Guldur ruhig geblieben," meinte ein anderer Gardist. "Ich glaube, wir müssen uns um euch beiden keine Sorgen machen, wenn ihr euch den Reitern der Grenzpatrouille anschließt."
"Wir würden alles tun, um unser Volk in Sicherheit zu wissen," sagte Ryltha zuckersüß. "Deshalb werden wir Aldburg verlassen und in die Wold zurückkehren, um im Haus meiner verstorbenen Eltern zu leben und unsere Tage mit dem Schutz der Grenzen verbringen."
Die Gardisten nickten und ihre Blicke zeugten von Respekt und Bewunderung. Auch ein klein wenig Neid war dabei. Cyneric konnte die Männer zu einem gewissen Grad verstehen - Ryltha war durchaus hübsch anzusehen und konnte eine charismatische Aura an den Tag legen, wenn es ihr von Nutzen war. Gleichzeitig war er zutiefst angewidert von der Leichtigkeit, mit der die Schattenläuferin ihrer Betrügereien über die Bühne brachte.
"Ihr beiden... sollt ein Paar sein?" platzte es aus Zarifa heraus, die mittlerweile offenbar verstanden hatte, was "Firalda" andeutete.
"Ist das nicht offensichtlich?" sagte Ryltha und klammerte sich verliebt an Cynerics Arm.
"Äh... naja..." stammelte Zarifa, bis Cyneric ihr mit einer versteckten Geste zu verstehen gab, dass er ihr alles später in Ruhe erklären würde.
"Jetzt sollten wir uns auf den Weg machen, mein Geliebter," säuselte Ryltha und begann, an Cynerics Hand zu ziehen. "Du hast deine Sachen ja bereits zusammengepackt, wie ich sehe. Unsere Pferde warten an den Stallungen schon auf uns."

Notdürftig verabschiedete Cyneric sich von den Gardisten und gemeinsam mit Zarifa folgte er Ryltha durch die vollen Straßen Aldburgs bis zum großen Tor im Norden der Stadt, wo sich die Stallungen befanden. Unterwegs flüsterte Cyneric Zarifa die Lösung des Rätsels namens "Firalda" ins Ohr - Ryltha gab ihm einen triftigen Grund, die Stadt zu verlassen, indem sie sich als Cynerics Geliebte ausgab, die aus der Wold stammte und dorthin zurückkehren wollte. Zarifa hatte mit Skepsis reagiert, jedoch keine Einwände erhoben.
Wie selbstverständlich führte Ryltha sowohl Cynerics Schlachtross Rynescéad als auch eine hellbraune Stute heraus, welche die Schattenläuferin rasch mit dem wenigen Gepäck belud, das sie mit sich führte. Ohne noch länger zu warten kletterte sie in den Sattel.
"Ich schätze, jetzt heißt es Abschied nehmen," sagte Cyneric bedrückt zu Zarifa, die etwas verloren am Ausgang der Stallungen gewartet hatte.
Er sah, wie die junge Südländerin tief durchatmete. Dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck und sie nahm Cynerics Hand zwischen ihre beiden Hände. "Pass auf dich auf," sagte sie mit fester Stimme.
"Du ebenfalls," war alles, was Cyneric zur Antwort einfiel. Er wusste nicht, was er Zarifa sagen sollte. Natürlich wünschte er sich, sie würde bald jemanden finden, der ihr half, ihr Leben in Frieden zu leben, doch genauso gut wusste er, dass Zarifa es sich mehr als alles andere wünschte, unabhängig und frei zu sein, und für sich selbst sorgen zu können.
"Solltest Aldburg verlassen, ehe ich aus Rhûn zurückkehre, richte jemandem aus, wohin du gehst," sagte er. "
"Immer noch in Sorge um mich, was?" stichelte Zarifa. Doch dann nickte sie. "Ich werde schon nicht spurlos verschwinden. Wir sehen uns bestimmt wieder."
"Ja, bestimmt. Bis dahin - lebewohl, einstweilen, Zarifa."
"Leb' wohl!"
Mit schwerem Herzen schwang Cyneric sich in den Sattel und folgte Ryltha, die bereits am Tor ungeduldig wartete, auf die Straße jenseits von Aldburg hinaus.


Cyneric und Ryltha in die Wold

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