Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Dol Amroth
In der Stadt
Fine:
Nur wenige Minuten später standen Valion und Lóminîth vor dem Eingang eines kleineren, mehrstöckigen Haus, das sich nahtlos in die Nachbarschaft einfügte. Wie die übrigen Gebäude in der Umgebung war es aus hellgrauen Steinen im gondorischen Baustil errichtet worden und lag ungefähr auf halben Weg von den Gärten zum südwestlichen Tor Dol Amroths. Bewacht wurde es von zwei in schwere Rüstung gehüllte Soldaten, deren Helme ihre Gesichter verdeckten und auf deren Schilden nicht etwa der Schwan von Dol Amroth sondern das schwarze Segel von Haus Minluzîr prangte.
"Nicht gerade unauffällig," kommentierte Valion.
"Das muss es auch nicht sein," antwortete Lóminîth ungerührt. "Der Hof des Fürsten weiß über meine Abstammung Bescheid, und meine Anwesenheit in der Stadt sowie unsere baldige Heirat sind gebilligt worden."
"Wofür du dich bei Edrahil bedanken kannst."
"Jedenfalls fand ich es unangemessen, die Leute vor falsche Tatsachen zu stellen. Indem ich dieses Haus für Mädchen wie Váneth zur Verfügung stelle, bekunde ich meine guten Absichten, entgegen meiner Herkunft. Und deswegen dürfen die Menschen von Dol Amroth gerne wissen, wer dafür verantwortlich ist."
Valion gab darauf keine Antwort. Nachdenklich folgte er seiner Verlobten ins Innere des Hauses, als die Wächter den Eingang freigaben. Was Lóminîth gesagt hatte, ergab Sinn. Indem sie Bedürftigen half und ihnen Nahrung und ein Dach über dem Kopf gab, zeigte sie dem Adel und dem Volk von Dol Amroth, dass nicht alle, die aus Umbar stammten, kriegswütige und brandschatzende Korsaren waren, die Gondor hassten. Und je höher die Meinung, die man von ihr hatte, desto größer würde ihr Einfluß am Hofe sein. Valion fragte sich allerdings, ob das alles war, oder ob hinter der ganzen Sache noch mehr steckte...
Drinnen wurden sie von mehreren Mädchen in Váneths Alter begrüßt, denen Lóminîth rasch einige Anweisungen gab. Drei entsandte sie auf den Markt, um Lebensmittel zu kaufen, während zwei weitere junge Frauen eine Nachricht zum Hafen bringen sollten. Zuletzt wies Valions Verlobte die verbliebenen Mädchen an, das Haus auf einen bald eintreffenden Besucher vorzubereiten.
"Der erste Eindruck zählt," schärfte sie ihnen ein. "Nur wer sich hier willkommen fühlt kommt auch gerne wieder."
"Was hast du vor?" fragte Valion, während Lóminîths Dienerinnen davoneilten um ihre Aufträge auszuführen.
Lóminîth zeigte ein gerissenes Lächeln. "Du kennst sicherlich Amros von Edhellond, den Tirn Aear der gondorischen Flotte," sagte sie."
"Er ist mir bekannt, ja," meinte Valion. "Meine Schwester hat ihn dazu gebracht, uns Schiffe für den Angriff auf den Ethir zu leihen."
"Ich habe davon gehört. Und vielleicht kannst du dir jetzt denken, weshalb ich ihn hierher eingeladen habe." Lóminîth machte eine Pause und blickte Valion erwartungsvoll an.
Er brauchte eine volle Minute, bis er verstand. "Amros ist trotz seines Alters noch unverheiratet."
"Ganz genau. Und offenbar ist keines der angesehenen Häuser Gondors momentan dazu bereit, ihre Töchter mit Haus Edhellond zu verheiraten."
"Ich frage mich, woran das liegt," meinte Valion nachdenklich.
"Vielleicht werde ich dir diese Frage heute Abend beantworten können. Jedenfalls hoffe ich, dass arachír Amros eines meiner Mädchen so sehr gefällt, dass er sie heiratet."
"Wodurch du einen gewaltigen Einfluss auf Haus Edhellond und damit die Flotte gewinnen würdest," schlussfolgerte Valion.
Lóminîth nickte. "Und ich würde diesen Einfluss dafür nutzen, die Verbindung nach Tol Thelyn aufrecht zu erhalten und weitere Hilfslieferungen an meine Schwester zu schicken."
Valion atmete innerlich auf. Zwar führte seine Verlobte also durchaus etwas im Schilde, doch immerhin gab sie es ihm gegenüber offen zu, und ihre Ziele waren weder selbstsüchtig noch würden sie Dol Amroth oder Gondor Schaden zufügen. "Die Adeligen Gondors werden es nicht gerne sehen, wenn einer der ihren eine vom einfachen Volk heiratet," wandte er vorsichtig ein.
"Mach dir darüber keine Sorgen. Ich werde dafür sorgen, dass jedes meiner Mädchen ihre Abstammung auf ein angesehenes Haus Gondors, Arnors, Umbars oder sogar Tol Thelyns zurückführen kann," beschwichtigte Lóminîth.
"Nun, dann wünsche ich dir viel Erfolg bei deinem Unterfangen," sagte Valion. "Und ich bin froh, dass du diesen jungen Frauen ein Zuhause gegeben hast."
Lóminîth nickte, und Valion zog sie in eine enge Umarmung.
Valion blieb noch einige Minuten bei seiner Verlobten, ehe er sich zum Gehen wandte. Lóminîth würde sich erst spät Abends in ihren gemeinsamen Räumlichkeiten im Palast wieder mit ihm treffen.
"Bis dahin habe ich zu tun," verabschiedete sie sich von ihm am Eingang des Hauses.
"Ich bin mir sicher, es wird alles wie gewünscht verlaufen," ermutigte Valion sie.
"Wir werden sehen," meinte sie. "Meine Großmutter pflegte zu sagen: Plane für alle Möglichkeiten, gehe davon aus, dass der Plan scheitert, und wirf ihn dann über Bord. Im schlimmsten Fall werde ich improvisieren."
Valion nickte. "Eine gute Lebensweisheit," kommentierte er.
Der Nachmittag versprach nur wenig aufregend zu werden, und Valion stellte sich bereits darauf ein, sich die Zeit mit Belanglosigkeiten vertreiben zu müssen, als einige Straßen weiter urplötzlich seine Schwester vor ihm stand. Valirë wirkte fahrig und nicht ganz auf der Höhe, als wäre sie betäubt worden und erst vor wenigen Minuten aus dem Koma erwacht.
"Was ist denn mit dir passiert?" fragte Valion verwundert. Seine Zwillingsschwester roch nicht nach Alkohol oder sonstigen Rauschmitteln, und wies auch keine äußerlichen Verletzungen auf. Sie trug eng anliegende Reitkleidung sowie einen einfachen grauen Umhang, und ihr Haar war zerzaust und unordentlich. Rasch nahm Valion sie an der Hand und führte sie in eine kleine Seitengasse. Valirës Ruf in Dol Amroth war auch so schon skanadalös genug - sie in diesem Zustand zu sehen würde die Gerüchteküche nur erneut anheizen.
Valirë lehnte sich ermattet gegen die hohe Wand der Gasse und endlich gelang es ihr, den Blick auf Valion zu fokussieren. "Ich komme gerade vom großen Tor," stieß sie hervor. "Ein... berittener Bote von der Front ist eingetroffen."
"Was ist geschehen? Welche Nachricht brachte er?"
"Valion... Belegarth wurde bis auf die Grundfesten zerstört. Der Ethir ist gefallen."
Valion zum Fürstenpalast
Melkor.:
Am nächsten Morgen wachte Cynewulf in dem Bett auf, das er am Abend zuvor gemietet hatte. Sein Arm war um den nackten Körper der braunhaarigen jungen Frau geschlungen, die er in der Taverne kennen gelernt hatte. Scheinbar hatte er gestern zu tief ins Glas geschaut, denn als er seinen Arm wegnahm und sich aufrichten wollte, schoss ruckartig ein pochender Schmerz in seinen Kopf. Dem zum Trotz stand er auf und zog seine Kleider wieder an. Langsam ging er die Treppen hinunter, wobei jeder Schritt erzeugte einen stechenden Schmerz verursachte. Er setzte sich auf einen der Hocker vor dem Tresen und fuhr sich langsam einige Male durch sein Haar.
"Du triffst doch viele Leute, richtig?" fragte Cynewulf nach einiger Zeit, an den Schankwirt gerichtet.
Der Wirt nickte "Mhmm."
Cynewulf schnaufte leise. "Hast du dabei vielleicht ein junges Rohirim-Mädchen gesehen?" fragte er den Schankwirt erwartungsvoll.
"Nein, tut mir leid." erklärte dieser.
Ohne etwas dazu zu sagen stand Cynewulf wieder auf. "Trotzdem danke..." warf er noch ein als er die Schänke verließ.
Der Markt war bereits wieder eröffnet und die Händler versuchten wie am Tag zuvor, ihre Waren zu veräußern. Cynewulf wollte die Suche nach Déorwyn noch nicht aufgeben und so versuchte er es bei dutzenden Händlern und Bürgern der Stadt. Allen stellte er dieselbe Frage: Ob sie ein Mädchen gesehen hatten, das auf die Beschreibung von Cynewulfs junger Nichte passte.Zu seiner Enttäuschung wusste niemand etwas über den Verbleib Déorwyns. Mit jeder Absage sank Cynewulfs Mut.
Als die Sonne schließlich im Westen versank, gab er die Suche vorerst wieder auf und streifte etwas orientierungslos durch die Straßen. So tief war er in seinen Gedanken versunken, dass er gar nicht bemerkte dass wenige Schritte vor ihm eine junge, schwarzhaarige Frau ihm entgegen gelaufen kam. Mit einem lauten Klirren fiel der Korb, den die junge Frau trug, zu Boden, nachdem beide zusammengestoßen waren.
"Das tut mir leid. Ich habe wohl... nicht aufgepasst," sagte Cynewulf verlegen. Er kniete sich hin und half beim Aufräumen der Waren. Nachdem dies erledigt war, erhob er sich wieder.
"Ich danke Euch," sagte sein Gegenüber freundlich.
"Oh, Verzeiht. Wie unhöflich von mir, mich nicht einmal vorzustellen. Ich bin Cynewulf, aus Rohan."
In diesem Moment vernahm Cynewulf eine raue, ältere Männerstimme, die immer näher kam. "Da bist du ja, Vania." Ein älterer Mann mit ergrauten kurzen Haaren gesellte sich zur der jungen Frau, deren Name offenbar Vania lautete. "Wer ist denn das?" fragte der Neuankömmling an seine Tochter gerichtet.
"Cynewulf aus Rohan ist mein Name," erklärte der Rohír in einem bestmöglichst höflichen Ton. Die junge Dame lächelte Cynewulf zu.
"Bringst du die Sachen bitte rasch nach Hause?" fragte ihr Vater sie rau.
Vania nickte, winkte zum Abschied Cynewulf schüchtern zu und verschwand dann hinter dem großen Haus das sich an der nächsten Straßenkreuzung erhob.
"Versprecht euch nichts," meinte ihr Vater unfreundlich. "Vania ist meine einzige Tochter und ich suche für sie einen Ehemann, der mein Unternehmen auch nach meinen Tod betreiben kann."
Darauf wusste Cynewulf nichts zu sagen. "Guten Tag", sagte der ältere Mann, und folgte seiner Tochter ohne ein weiteres Wort.
Die Menschen in Gondor sind schon merkwürdig... dachte sich Cynewulf und folgte der Straße weiter bis zu der Taverne, in der er bereits am Abend zuvor zu Gast gewesen war. Die Sonne war inzwischen untergegangen als er das Gasthaus erreichte. Im Inneren herrschte schon erneut ein lebhaftes Treiben, und Cynewulf setzte sich auf einen freien Platz am Tresen. Nachdem er sich ein Getränk bestellt hatte, schaute er sich nachdenklich in der Taverne um. Sein Blick blieb an dem Mann hängen, der neben ihm saß, und Cynewulf erkannte ihn schnell wieder. "Herr Valion, es überrascht mich euch hier zu sehen," sagte er freundlich.
Valion, der neben einer Frau saß die ihm sehr ähnlich sah, reagierte nur langsam auf Cynewulfs Worte. Er schien schon einiges getrunken zu haben. Endlich wandte er sich dem Rohír zu und sagte: "Ach, du bist das. Der Reiter von Rohan der durch die Pfade der Toten kam. Hätte dich fast nicht erkannt. Für einen Moment sahst du aus wie meine Schwiegermutter." Er stieß lautstark auf und nahm danach rasch einen Schluck aus dem Krug, der vor ihm auf dem Tresen stand. "Wieso überrascht es dich, mich hier zu sehen? Man kennt mich und meine Schwester hier. Stimmt's, Ethelorn?"
Der Wirt, dessen Name offenbar Ethelorn lautete, gab einen bestätigenden Laut von sich und füllte Valions Krug erneut auf, was dieser mit einem dankbaren Grunzen quittierte.
"Und was is' mit dir?" fragte Valion in Cynewulfs Richtung. "Was bringt dich heute Abend in dieses gastfreundliche Haus, Freund?"
"Kummer und Sorgen," antwortete Cynewulf. "Um ehrlich zu sein: Der eigentliche Grund, weshalb ich nach Gondor gekommen bin, ist nicht hier. Ich habe jeden Händler in Dol Amroth gefragt, ob er etwas von meiner Nichte oder meinen Bruder weiß..." Cynewulf nahm einen Schluck aus dem Krug, den Ethelorn ihm bereits hingestellt hatte. "Keiner der Händler konnte, oder wollte mir helfen."
Valion legte ihm in einer Geste, die wohl mitfühlend gemeint sein sollte, die Hand auf die Schulter. "Nimm's nicht so schwer. Du wirst schon noch eine Spur finden, da bin ich mir sicher." Er klopfte Cynewulf aufmunternd auf den Rücken, verlor dabei jedoch das Gleichgewicht und landete auf dem Boden vor dem Tresen. Seine Schwester, die sich zuvor mit einigen anderen Gästen unterhalten hatte, half Valion wieder auf die Beine und wurde dadurch auf Cynewulf aufmerksam. Auch sie schien schon einige Krüge getrunken zu haben, denn Cynewulf konnte deutlich ihren nach Alkohol riechenden Atem riechen, als sie näher kam.
"Hallo," säuselte sie. "Ich bin Valirë. Meinen Bruder Valion scheinst du ja schon zu kennen. Du bist neu hier, nicht wahr?"
"Das ist richtig, denn ich komme aus Rohan. Meine Name ist Cynewulf."
Anstatt einer Antwort kam sie noch näher und legte seinen Arm um ihre Schulter. "Das is' ein guter Name," brachte sie undeutlich hervor.
"Lass' ihn in Ruhe, Schwester," mischte sich Valion wieder ein und schubste Valirë grob beiseite. "Er sucht nach... jemandem. Und zwar ganz sicher nich' nach dir."
"Sei doch nicht so grob zu deiner Schwester," sagte Cynewulf und fragte sich, ob er die Situation amüsant oder befremdlich finden sollte. "Aber ja du hast Recht, doch ich schätze, ich werde meine Nichte nicht mehr finden..."
"So schnell willst du schon aufgeben?" fragte Valion mit echter Verwunderung, während er seine Schwester davon abhielt, sich weiter an Cynewulf heranzumachen. "Hast du denn schon in den besetzten Gebieten im Osten gesucht? Da ist es zwar gefährlich, aber für einen Mann wie dich wäre das sicherlich kein Problem.
"Meinst du denn, ich würde da durchkommen? Die Orks würden mich eher töten als das ich durch ihre Netze schlüpfen könnte. Ich bräuchte eine wirklich gute Tarnung. Und selbst wenn ich es schaffen würde, meinst du meine Nichte würde dort leben? Sie wäre wahrscheinlich schon lange tot."
"Und wenn schon," mischte sich Valirë hämisch ein, doch ihr Bruder brachte sie mit einem finsteren Blick zum Schweigen. "Es gibt ja auch Menschen in Mordors Diensten," sagte er nachdenklich. "Hab' in der Schlacht in Morthond einen von ihnen enthauptet. Warte mal, das wär' vielleicht gar keine so schlechte Idee... geh' am besten morgen früh zu Hilgorn, dem General. Vielleicht hat er die Ausrüstung seines verräterischen Bruders mitgenommen. Er kann dir helfen, dich als Bote Mordors auszugeben."
"Du hast Recht, das wäre keine schlechte Idee.," befand Cynewulf. "Wenn ihr beiden mich jetzt entschuldigen würdet. Ich brauche Zeit für mich allein." Damit verabschiedete er sich und machte sich auf den Rückweg zu seiner Unterkunft.
Melkor.:
Nach einer langen Nacht wachte Cynewulf allein in seinem Bett wieder auf. Am Vorabend hatte er viel über seine Kindheit aber auch über seine Familie nachdenken müssen. Zudem hatte der Valion, Fürst des Ethirs, ihn mit seinem Einfall auf eine Idee gebracht, über die Cynewulf ebenfalls hatte nachdenken müssen. Letzlich war es ihm klar geworden, dass seine Suche in Gondor nach seinem Bruder und dessen Tochter wohl erfolglos bleiben würde. Er war daher mit sich überein gekommen, in Gondor zu bleiben und sich hier ein neues Leben aufbauen. Dennoch würde er weiterhin mit allen Mitteln versuchen, Informationen über den Verbleib seiner restlichen Familienangehörigen zu sammeln. Nachrichten dieser Art waren leider bislang äußerst rar, und der Beutel mit geld, den Cynewulf von Erkenbrand als 'Abschiedsgeschenk' bekommen hatte, würde nicht für immer reichen. Geldsorgen waren daher auf lange Sicht sein größtes Problem, über dessen Lösung er sich in Zukunft Gedanken machen müsste. Zuerst jedoch stand eine unangemeldete Audienz bei General Hilgorn auf Cynewulfs Plan.
Auf den Weg zum Palast kam er an einen Schießstand vorbei. Hier könnte ich später etwas Zeit verbringen, um meine Fähigkeiten in Schuss zu halten, dachte er.
Als Cynewulf dann wenige Augenblicke später von einer der Wachen des Palasts angehalten wurde, versuchte er, sich mit einem möglichst guten Grund eine Audienz bei Hilgorn zu sichern. "Valion vom Ethir schickt mich," begann er. "Ich soll mit General Hilgorn über eine ... dringende Angelegenheit sprechen," erzählte er den Wachen in einem ernsten Ton, um glaubwürdiger zu wirken. Geduldig wartete der Rohir auf eine Antwort des Wächters, der sich gerade mit der anderen Palastwache beriet.
Nachdem beide mit einem Nicken wieder ihre vorherige Position eingenommen hatten, sagte die Wache: "Ihr dürfte passieren. General Hilgorn wird nach Euch schicken."
Sein Kamerad öffnete das Tor.
Cynewulf betrat rasch den Palast und wartete in einem weiten, gangähnlichen Raum, an dessen Wänden Bildnisse ihn unbekannter Männer gemeißelt worden waren. Neben jenen Bildnissen hingen Wandteppiche oder das Banner Dol Amroths: ein silberner Schwan auf einen blauen Hintergrund gestickt. Zudem stützten vier Säulen, in denen ebenfalls einige Verzierungen eingearbeitet waren, die Decke des Raumes.
Cynewulf blieb vor dem Bild einer weiblichen Person stehen. Zu seiner Verwunderung war jenes Bild größer als die anderen. Nachdem er es näher betrachtete, fielen ihm die spitzen Ohren der Person auf, die durch das überliegende, steinernde Haar sehr leicht zu übersehen waren.
"Das ist Mithrellas, die Tochter Oronêls und Begründerin des Hauses von Dol Amroth," erklärte ihm einer der Wachen. "General Hilgorn hätte nun Zeit für euer Anliegen."
Cynewulf bedankte sich und folgte dem Mann durch weitere ähnlich gebaute Gänge zu dem Zimmer Hilgorns. Dort angekommen blieben beide einen Augenblick stehen.
"Wartet hier," sagte der Wachmann. Nach einem kurzen Moment wurde Cynewulf der Zugang zu den Gemächern Hilgorns gewährt.
"Ich bedanke mich, das ihr euch die Zeit für mich genommen habt, General." Obwohl es nicht Cynewulfs Art war so gestochen zu reden, kam er dennoch als Bittsteller zu Hilgorn und versuchte möglichst höflich zu erscheinen.
"Ich bin leider im Augenblick sehr beschäftigt", erwiderte Hilgorn, der hinter einem mit Papieren übersäten Schreibtisch saß. "In Anbetracht eurer bereitwilligen Hilfe in der Schlacht bin ich allerdings bereit, euch ein wenig meiner Zeit zu gewähren. Was also ist euer Anliegen? Und bitte sagt mir nicht, dass es ein Plan von Valion ist, den Ethir zurück zu erobern..."
"Ich danke euch," sagte Cynewulf dankbar. "Und nein - Valion hat keinen Plan den Ethir zurückzuerobern... Zumindest weiß ich davon nichts," gab er etwas unbeholfen zurück.
"Also schön", meinte Hilgorn, und er klang erleichtert. "Worum geht es dann?"
"Vielleicht könntet ihr mir helfen, unerkannt in die besetzten Gebiete zu gelangen," antwortete Cynewulf.
Hilgorn hob eine Augenbraue. "Über den Gilrain hinweg nach Osten? Das wird im Augenblick nur schwer möglich sein, fürchte ich. Welchen Grund hättet ihr für ein solches Unterfangen?"
Cynewulf zögerte einen Moment, eher er antwortete: "Ich suche meine Familie. Meine Nichte ist bereits seit Jahren verschollen, und dies ist der einzige Grund, weshalb ich überhaupt nach Gondor gekommen bin. Ich hoffe, meinen Bruder und seine Tochter in Gondor zu finden."
"Nun, ich fürchte es wird euch schwer fallen, in den von Mordor besetzten Gebieten die Spur von zwei Menschen aufzunehmen." Hilgorn schob einen Stapel Papiere beiseite und enthüllte eine Karte, die Gondor zwischen dem Schattengebirge im Osten und Dol Amroth im Westen zeigte. "Nach allen Berichten überleben Kriegsgefangene als Sklaven Mordors nicht lange, und werden meistens an andere Orte gebracht um die Wahrscheinlichkeit einer Flucht zu verringern." Der General fuhr mit dem Finger die Linie des Anduin hinab bis zum Meer. "Ich fürchte, euer Vorhaben könnte bereits jetzt zum Scheitern verurteilt sein - und darüber hinaus kann ich mir nur schwer vorstellen, welchen Vorteil es Dol Amroth bieten könnte, euch zu helfen.
Cynewulf überlegte kurz und sagte dann: "Ich könnte euch Informationen über das besetzte Gebiet liefern, vorallem über die Lage in Minas Tirith. Was habe ich schon zu verlieren?" Hilgorn blickte skeptisch drein. "Nun, Informationen über die Pläne des Feindes könnten tatsächlich nützlich sein. Aber warum kommt ihr damit zu mir? Es wäre doch sicherlich sinnvoller, mit unserem Herrn der Spione darüber zu sprechen."
Cynewulf fiel auf, dass Hilgorn damit durchaus recht hatte. "Es fällt mir sehr schwer, dieses Thema anzusprechen..." sagte er etwas unsicher. "Herr Valion hat mir erzählt, dass euer Bruder ein Verräter war. Während der Schlacht konnte dieser jedoch von Valion erschlagen werden. Ich könnte mit eurer Hilfe als einer der Boten eures Bruders durchgehen.
"Hm." Hilgorn klang ganz und gar nicht zufrieden. "Valion scheint wohl überaus redselig gewesen zu sein - demnächst wird ganz Gondor darüber reden." Er seufzte. "Jedenfalls hat er recht, mein Bruder Imradon war tatsächlich ein Verräter in Mordors Diensten. Ich weiß allerdings wenig über seine Kontakte in Mordors Reihen."
Der General strich sich nachdenklich über das Kinn. "Allerdings..." Offenbar war ihm eine Idee gekommen. "Ich muss dafür einige Dinge erledigen, mit einigen Leuten sprechen... Vielleicht kann ich tatsächlich etwas für euch tun, allerdings will ich keine Versprechungen machen, die ich nicht halten kann."
"Ich wäre euch sehr verbunden, wenn ich die Möglichkeit bekäme; doch ich verstehe es natüelich auch, wenn ihr mir nicht helfen könnt."
"Es freut mich, dass ihr das einseht", meinte Hilgorn mit einem unauffälligen Nicken zur Tür hin. "Ich muss mich nun leider noch um einige andere wichtige Dinge kümmern - wie kann ich euch erreichen, wenn ich eine Möglichkeit gefunden haben sollte?"
"Ich habe ein Zimmer in dem Gasthaus "Die Goldene Schwanenfeder, nördlich vom Markt gemietet, dort sollte ich erreichbar sein," antwortete Cynewulf.
Mit einem Nicken gab Hilgorn ihm zu verstehen, dass er sich, bei Neuigkeiten zu Cynewulfs Anliegen bei ihm im Gasthaus melden würde. Dankbar verließ Cynewulf den Palast auf schnellsten Wege wieder und blieb vor dem Schießstand, den er vor seinem Besuch beim General entdeckt hatte, stehen. "Zeit für eine Schießübung!" sagte er sich.
Fine:
Valion von den Mauern Dol Amroths
Valion hatte den Tag damit verbracht, sämtlicher Verantwortung aus dem Weg zu gehen. Den Vormittag über hatte er sich die Zeit in der Kaserne der Stadtwache vertrieben, in die Rüstung eines einfachen Soldaten gehüllt. Dank dem Helm erkannte ihn niemand, und dank des Goldes, das er den Wachposten gegeben hatte, ließ man ihn in Ruhe. Mehrere Stunden starrte er abwechselnd die grauen Wände des kleines Raumes und das Meer an, das durch das Fenster zu sehen war, bis er kaum noch richtig denken konnte. Dann nahm er seine Schwerter und drosch so lange auf die im Hof der Kaserne aufgestellten Übungspuppen ein, bis seine Arme zu sehr schmerzten um weiterzumachen. Zwei Männer vom Ethir, die bei der Rückeroberung von Belegarth aufgrund von Verletzungen in Dol Amroth geblieben waren, nahmen ihn schließlich mit sich, als es Abend wurde.
Wie er in der maroden Taverne in der Nähe des Hafens gelandet war, konnte Valion später nicht mehr sagen. Seine Schwester wartete dort auf ihn und hatte bereits einige Krüge geleert. Beide taten sie in den nächsten Stunden was sie konnten, um möglichst viel von den bisherigen Ereignissen zu vergessen - und es schien zu funktionieren.
Valions Wahrnehmung verschwamm, und er konnte nicht länger unterscheiden, was echt war, und was er sich nur einbildete. Er sah Valirë in einer der Ecken des großen, schlecht beleuchteten Schankraumes, umgeben von Menschen, die ihn an die Korsaren von Umbar erinnerten. Halb erwartete Valion schon, dass der alte Edrahil jeden Moment auftauchen würde. Doch stattdessen betraten zwei junge Frauen den Raum und blickten sich suchend um. Als sie näher kamen fiel Valion auf, dass die Haare der beiden kaum unterschiedlicher sein konnten: Eine hatte langes Haar, so schwarz wie die Nacht, die andere hingegen besaß kurzgeschnittenenes, nahezu makellos weißes Haar. Beide bauten sie sich vor Valion auf und musterten ihn eindringlich. Doch ehe sie etwas sagen konnten blinzelte er und schüttelte leicht den Kopf, um wieder etwas klarer denken zu können. Als er die Augen öffnete, stellte er fest, dass die Frauen in Wahrheit blond und braunhaarig waren. Ihre Absichten waren nur allzu deutlich, doch Valion war nicht in Stimmung für die Unterhaltung, die sie ihm anboten. Er leerte seinen Krug und forderte lautstark Nachschub, was ihm rasch gewährt wurde.
Er fühlte sich müde, unendlich müde. Nicht einmal in Umbar hatte er so exzessiv getrunken. Damals war es der Schock über Edrahils plötzliches Auftauchen gewesen, der Valion aus seinen vernebelten Gedanken gerissen hatte. Doch wahrscheinlich würde nicht einmal das jetzt helfen. Erneut verschwamm seine Sicht. Er sah, oder bildete sich ein, wie der Bandit Mustqîm seiner Schwester geradezu zärtlich durchs Haar strich. Am Tresen neben ihm prosteten sich die Fürsten Imrahil und Hasael wie alte Freunde zu. Irgendwo dazwischen sah er erneut weißes Haar aufblitzen. Neben der Tür lehnte eine in grün gekleidete Gestalt mit einer Axt in der Hand, deren stechender Blick Valion ein tief gehendes Gefühl von Enttäuschung vermittelte, als wäre der Fremde zuiefst erschüttert über die Zustände, die sich hier, in den niedersten Bezirken von Dol Amroth darboten. Doch als er genauer hinsah war der grüngekleidetete Fremde verschwunden. Valion zuckte mit den Schultern und nahm einen weiteren Schluck.
Eine halbe Stunde später kam Valirë zu ihm herüber. Sie konnte kaum noch geradeaus laufen. Geradezu erschöpft ließ sie sich in einen großen Sessel fallen. Um ihre Füße strich eine Katze mit rötlichem Fell. Aufgrund des Zustands ihres Oberteils war Valion klar, dass sie es nicht den ganzen Abend über getragen haben konnte. Doch es war ihm egal mit wem seine Schwester ihren Spaß hatte. Solche Dinge lenkten ihn von seinen Fehlern ab und ließen ihn vergessen, ließen die Zeit verstreichen bis die hohen Herrschaften im Palast endlich für einen militärischen Gegenschlag im Ethir bereit waren.
Valirë verscheuchte mit einer heftigen Handbewegung ein allzu aufdringliches Mädchen mit blonden Haaren und türkisen Ohrringen, an denen offensichtlich falsche Kristalle hingen. Sie schlug die Beine übereinander und ließ geradezu nachdenklich ihre Hände über die enge schwarze Hose gleiten, die sie überraschenderweise noch immer trug.
"Ich.... ich glaube, ich habe vorhin Edrahil gesehen," brachte sie hervor.
"Er hat mehr Klasse als das hier," gab Valion zurück. Das blonde Mädchen hatte sich nun ihm zugewandt, und er ließ zu, dass sie sich in seinem Schoß niederließ. Sie zu vertreiben war ihm in seinem Zustand zu anstrengend.
"Vielleicht war er's, aber in Verkleidung," vermutete Valirë undeutlich und leerte Valions Krug.
Der breite Zopf des Mädchens fiel über Valions Gesicht als sie ihm die Sicht auf seine Schwester verdeckte. Verärgert zog er eine Silbermünze hervor und ließ das Geldstück hinter sich zu Boden rollen. Das Mädchen sprang auf und griff danach, doch eine andere Frau war schneller und ließ die Münze in ihrer Hand verschwinden. Auch sie war blond, trug jedoch eng anliegende Lederkleidung und hatte einen Bogen auf dem Rücken hängen.
Valion wandte sich wieder seiner Schwester zu, doch sie war verschwunden. Stattdessen saß ihm ein Mann von adeligem Aussehen gegenüber, der ihn an General Hilgorn erinnerte. Valions Mund öffnete sich vor Überraschung, als er ihn erkannte.
"Du solltest doch tot sein, Verräter," raunte er.
"So tot wie du bald sein wirst," antwortete Imradon Thoron mit einem furchterregenden Lächeln. Sein Kopf fiel von seinem Hals und sein Körper löste sich in Rauch auf.
Das nimmt langsam etwas überhand, dachte Valion. Er sprang auf - oder versuchte es zumindest. Als er sein linkes Bein belasten wollte, fand er sich stattdessen auf dem dreckigen Boden neben dem Tresen wieder.
Eine Hand wurde zu ihm heruntergereicht, um ihm aufzuhelfen. Valion griff danach und fand sich Auge in Auge mit demselben grüngekleideten Fremden wieder, den er zuvor gesehen hatte.
"Du bist besser als das," raunte der Fremde und beugte sich leicht vor. Seltsamerweise erinnerte er Valion an den Elb Ladion. Ehe er jedoch genauer hinsehen konnte hatte der Fremde Valions Arm losgelassen und war im Durcheinander des Schankraumes verschwunden.
Es folgte eine weitere halbe Stunde voller unzusammenhängender Bilder und Eindrücke, von denen Valion später kaum Erinnerungen zurückbehielt. Er wusste nur noch, dass ihn irgendwann der Verräter Imradon in sich zusammengesunken mit dem Rücken an den Tresen gelehnt fand.
"Verschwinde," murmelte Valion undeutlich. "Du bist tot."
Doch Imradon lachte diesmal nicht, sondern schien eher verwirrt zu sein. "Tot? Das würde mich doch sehr überraschen."
Valion tastete nach Imradons Kopf. Tatsächlich schien er sehr fest auf dessen Schultern zu sitzen. Und da erkannte er, wen er da wirklich vor sich hatte.
"Ihr stinkt schlimmer als die Abwasserkanäle von Pelargir, Valion," sagte Hilgorn und zog Valion auf die Beine.
"Ich gebe mir alle Mühe. Was bei allen Meeresgeistern tust du hier?" Hilgorn erinnerte ihn an Imrahils Entscheidung und daran, was der General während jener Ratssitzung gesagt hatte... und das machte ihn wütend. "Geh' mir aus den Augen."
"Ich verstehe Euren Zorn," erwiderte Hilgorn, und trotz seines vernebelten Geistes konnte Valion sehen, dass der General es auch so meinte. "Aber es gibt etwas, worüber ich dringend mit Euch sprechen muss."
Valion machte ein verärgerte Geräusch, doch dann nickte er langsam. "Also gut. Aber hör' mit diesem höfischen Gerede auf, bei den Sternen. Setz' dich, trink' etwas, und dann reden wir."
Hilgorn schien dieser Vorschlag nicht allzu sehr zu gefallen, doch nach einem kurzen Augenblick betrenem Schweigens bestellte er am Tresen zwei Krüge mit Wasser und setzte sich in den Sessel, in dem zuvor Valirë gesessen hatte.
Noch immer war in der Taverne so viel los, dass der Geräuschpegel ihr Gespräch unbelauschbar machte. "Es geht um Eure... umd deine Verlobte," begann Hilgorn. "Weißt du von ihren Intrigen und von dem Netzwerk, das sie sich aufgebaut hat?"
"Ich habe ihr Mädchenhaus gesehen. Ziemlich beeindruckend, wenn du micht fragst. Aber mach' dir keine Sorgen. Das Ganze ist harmlos."
"Amrodin scheint da anderer Meinung zu sein."
"Sie braucht einfach eine Beschäftigung. Außerdem gibt sie diesen Mädchen genug zu Essen und ein Dach über den Kopf. Und außerdem," sagte Valion und beugte sich leicht vor, "leidet Amrodin meiner Meinung nach an Verfolgungswahn, seitdem Lothíriels Entführung nicht verhindern konnte."
Hilgorn zog nachdenklich die Augenbrauen hoch. "Nun, auf mich machte er eigentlich nur einen besorgten Eindruck. Du verstehst sicher, dass deiner Verlobten einiges an Misstrauen entgegen gebracht wird, wenn man bedenkt, woher sie stammt."
"Sie wird schon keinen Unsinn machen," beschwichtigte Valion. "Aber wenn Amrodin sich wirklich solche Sorgen macht, werde ich mich mal etwas genauer bei ihr umsehen. Auch wenn ich nichts finden werde."
"Gut," meinte Hilgorn einigermaßen zufrieden. Er machte ein Handzeichen in Richtung der Tür der Taverne, und zwei Soldaten der Stadtwache kamen herein. "Diese Männer werden dich jetzt zum Palast begleiten," erklärte er. "Denn morgen früh erwartet dich der Fürst, und dafür solltest du ausgeschlafen sein."
"Auch das noch," stöhnte Valion, als die Männer ihn unter den Armen packten und hinaus schleiften.
Valion zum Fürstenpalast
Eandril:
Hilgorn aus dem Fürstenpalast
"... und dazu muss ich wissen, wie viele Männer der Wache ihr entbehren könnt, bis die Ernte eingebracht ist und die neuen Rekruten aus dem Westen eintreffen." Hilgorn wartete einige Zeit ab, doch als keine Antwort kam, hakte er nach: "Beretar?" Der Kommandant der Stadtwache, der gedankenverloren mit einem Blatt gespielt hatte, schüttelte den Kopf als wäre er aus einem Traum erwacht. "Verzeiht, Hilgorn", erwiderte er. "Ich... war mit den Gedanken woanders." Hilgorn konnte sich denken, wo genau Beretar mit seinen Gedanken gewesen war. Immerhin war sein Vater ein Vasall des Fürsten von Anfalas, dessen Ländereien in der Nähe der Gegend lagen, aus der beunruhigende Gerüchte nach Dol Amroth gedrungen waren. Und auch wenn Beretar mit seinem Vater gebrochen und das Erbe abgelehnt hatte war es für Hilgorn gut verständlich, dass er sich Sorgen machte.
Dennoch, die Aufgabe vor der sie eigentlich standen war in diesem Augenblick ungleich wichtiger, also wiederholte Hilgorn: "Ich fragte euch, wie viele Männer der Wache ihr entbehren und mir als Verstärkung schicken könnt, bis nach der Ernte die neuen Rekruten aus dem Westen eintreffen." Sie hatten sich in Beretars Haus getroffen, um letzte Einzelheiten ihres Plans zur Verteidigung der Ostgrenze, den Hilgorn gemeinsam mit den übrigen Hauptleuten Gondors geschmiedet hatte, zu besprechen. Schon in zwei Tagen würde Hilgorn mit allen Männern, die er auftreiben konnte, nach Linhir aufbrechen, denn der Stadt würde mit aller Wahrscheinlichkeit Mordors Hauptschlag gelten. Zur Verteidigung der Küste waren bereits die Hälfte der Kriegsschiffe aus Dol Amroth nach Tolfalas verlegt worden, wo sie einerseits sicher waren, andererseits aber in der Lage, schnell zu handeln wenn Linhir angegriffen werden würde. Entlang der restlichen Linie des Gilrain waren in regelmäßigen Abständen Lager errichtet worden, die zwar zu schwach waren um einem entschlossenen Angriff Mordors auf Dauer Widerstand zu leisten, aber, so hoffte Hilgorn jedenfalls, lange genug aushalten konnten bis Verstärkung aus Linhir oder Ethring, wo ebenfalls eine größere Anzahl Soldaten postiert worden war, eintreffen konnte. Die Elben aus Lórien unter Ladions Kommando würden als Späher dienen, und bei Bedarf die Verteidiger unterstützen.
Beratar seufzte und warf das Blatt, dass er von einem der Büsche in dem kleinen Garten hinter dem Haus abgerissen hatte, ins Gras. "Ich denke, unter dem Schutz der Flotte wird uns niemand überraschend angreifen können - ohnehin nicht, seit Umbar seine Flotte verloren hat." "Und aller Voraussicht nach inzwischen belagert wird", ergänzte Hilgorn. "Wenn die Nachrichten aus dem Süden stimmen." Er ging davon aus, dass eben das der Fall war - nach der Schlacht bei Linhir traute Hilgorn Qúsay durchaus zu, Suladan in einer Schlacht zu schlagen. Erst recht, wenn der Malik ein ausreichendes Bündnis um sich geschart hatte. "Nun, in diesem Fall werde ich etwa die Hälfte der Wache mit euch nach Osten schicken können", meinte Beretar. "Der Rest wird ausreichen, um die Kontrolle über die Stadt zu behalten und später die Ausbildung der neuen Rekruten fortzusetzen. Und ihr werdet im Osten jedes Schwert brauchen."
"Jedes Schwert und jeden Mann", erwiderte Hilgorn ernst. "Ich danke euch." Er wollte sich gerade von der Bank, auf der er Beretar gegenüber saß, erheben, als Beretars Frau Hirien aus dem Haus hinaus in den Garten trat. "Da ist ein Bote gekommen", sagte sie. "Er sagt, er bringt Nachrichten aus Nan Faerrim." Hilgorn sah, wie sich Beretar bei der Erwähnung seiner Heimat anspannte, und fragte daher: "Soll ich gehen?" Beretar zögerte einen Augenblick, und schüttelte dann den Kopf. "Nein... bleibt, bitte." Hilgorn kannte Beretar seit über zehn Jahren, und war bereits mehrere Male in dessen Haus zu Gast gewesen. Seine Frau Hirien war ein stilles Wesen, die ihre äußerliche Schüchternheit gegenüber Adligen nie ganz abgelegt hatte, aber dennoch angenehme Gesellschaft war. Hilgorn hatte es sich schon längere Zeit vorgenommen, ihnen Faniel vorzustellen, doch bislang hatte es sich nie ergeben.
Hirien trat zur Seite und legte ihrem Mann eine Hand auf die Schulter, und der Bote, ein junger Mann mit dem roten Luchs des Hauses Seren auf der Brust. Er verneigte sich in Beretars Richtung und sagte: "Herr, ich bringe Nachrichten aus Nan Faerrim. Es tut mir Leid, aber - euer Vater Maecar, Herr von Nan Faerrim, wurde ermordet." Die Stimme des Boten hatte bei diesen Worten belegt geklungen, und für einen Augenblick herrschte Stille, in der nur leise die Geräusche der Stadt hinter den Mauern des Gartens zu hören waren. Schließlich ergriff Hilgorn das Wort. "Es tut mir Leid, Beretar. Jeder wird verstehen, wenn ihr nach Nan Faerrim zurückkehren wollt, und..."
"Ich danke euch", unterbrach ihn Beretar mit leiser, aber fester Stimme. "Aber das wird nicht nötig sein. Trotz allem was zwischen uns stand, habe ich meinen Vater geliebt, und alles in mir schreit danach, seinen Mörder in die Finger zu bekommen. Aber... Gondor steht im Krieg. Jeder Mann wird hier im Osten gebraucht, und ich habe meine Pflicht."
"Ich bin sicher, es würde sich eine Lösung finden lassen", meinte Hilgorn, doch ohne Nachdruck. Er würde Beretar seine eigene Entscheidung treffen lassen, und er konnte ihn nicht guten Gewissens dazu drängen, Dol Amroth in dieser Stunde zu verlassen. "Mein Neffe ist in Nan Faerrim", erwiderte Beretar. "Und meine Nichte auch, und daher sogar Prinz Erchirion selbst. Sie werden tun was notwendig ist, und das Grab meines Vaters wird auf mich warten, bis die Zeiten besser sind." "Valion vom Ethir ist euer Neffe", stellte Hilgorn verblüfft fest, und ein winziges Lächeln zuckte über Beretars Gesicht. "Natürlich. Mein Vater hat meine Schwester Míleth mit Amlan vom Ethir verheiratet - das war, bevor sowohl ich als auch mein Bruder Tórdur ihn so tief enttäuscht haben. Valion ist der Herr des Ethir - falls wir ihn eines Tages zurückerobern - doch wenn Erchirion Valirë heiratet, wird er einen Anspruch auf Nan Faerrim haben. Es wäre nicht die schlechteste Lösung, immerhin wird er als zweiter Sohn Imrahils vermutlich nicht der Erbe von Dol Amroth werden." "Und was ist mit euch?", fragte Hilgorn, und Beretar wechselte einen Blick mit Hirien. "Ich habe keine Söhne", erwiderte Beretar. "Und werde vermutlich niemals Kinder haben. Ich bin zufrieden da wo ich bin." Er wandte sich dem Boten zu. "Ihr könnt hier im Garten warten - ich werde einen Brief als Antwort an meine Schwester schreiben." Er stand auf, und auch Hilgorn erhob sich von seiner Bank und verabschiedete sich.
Von Beretars Haus aus führte ihn sein Schritt rasch durch die Gassen von Dol Amroth - zu Faniel.
Hilgorn vor die Stadt
Navigation
[0] Themen-Index
[#] Nächste Seite
[*] Vorherige Sete
Zur normalen Ansicht wechseln