Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Dunland

Die Hügellande von Dunland

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Fine:
Kerry fand Finelleth am Rande des Dorfs, an einen hölzernen Pfahl gelehnt und nach Norden starrend. Vorsichtig kam Kerry näher, doch Finelleth hatte sie bereits bemerkt. Ohne sich umzudrehen sagte die Elbin: "Ich sagte doch dass ich alleine sein will." Ihre Stimme klang hart, aber Kerry ließ sich davon nicht beirren.
"Nein, du hast gesagt dass du dir einen ruhigen Ort suchen willst," stellte sie klar. "Hier ist es doch ziemlich ruhig, oder nicht?"
Sie sah, wie sich Finelleths Schultern hoben und dann absackten als sie tief ausatmete. Die Waldelbin drehte sich um und Kerry sah, dass ihre Augen voller Zweifel und Ratlosigkeit waren. Und sogar einen Anflug von Furcht glaubte Kerry zu entdecken. "Hat Oronêl dich geschickt?" wollte Finelleth wissen.
"Hat er nicht. Ich bin selbstständig hergekommen."
"Dann folge seinem Beispiel und lass' mir die Ruhe. Ich will jetzt gerade keine deiner unbeschwerten Gesprächsthemen hören."
"Du hast doch angefangen zu reden," gab Kerry mit einem kleinen Lächeln zurück. "Ich wollte dir einfach nur Gesellschaft leisten. Die Ruhe mit dir teilen. Aber ich höre mir auch gerne an, was du zu sagen hast. Wenn du es Oronêl nicht - oder noch nicht - sagen kannst, dann sag es mir. Du weißt, dass ich nicht über dich urteilen werde. Ich höre zu. Mehr nicht."
Finelleth ließ sich gegen den Pfahl sinken. "Du bist wirklich hartnäckig," seufzte sie. "Aber du hast ja recht, Kerry. Ich rede mit dir."

"Komm," sagte Kerry. "Setzen wir uns dort auf den großen Felsen." Sie nahm Finelleths Hand und zog die Elbin mehrere Schritte von ihrem Standort weg, zu einem großen, flachen Felsen, der am Ende des Dorfes des Schild-Stammes lag. Kerry hatte bei ihrem ersten Besuch im Dorf gesehen, wie Kinder darauf gespielt hatten. Doch um diese Uhrzeit schliefen diese längst. Die beiden Frauen setzten sich nebeneinander auf den Felsen und ließen die Beine baumeln. Ein leichter Wind spielte mit den Strähnen ihrer Haare - Kerrys goldblonde und Finelleths sandfarbene - und hoch über ihnen wurden die ersten Sterne sichtbar.
"Mir ist etwas klar geworden," begann Finelleth. "Ich muss in meine Heimat zurückkehren - ins Waldlandreich. Zu meinem Vater. Ich muss dringend mit ihm sprechen, und diese... diese ganze Sache ins Reine bringen."
"Welche Sache?" fragte Kerry vorsichtig nach.
"Einfach alles," stieß Finelleth überraschend heftig hervor. "Mein ganzes Leben lang hatte ich mich immer nach ihm und seinen Wünschen ausgerichtet. Zuerst spielte ich die Prinzessin - die kleine Faerwen, die stets ein braves Mädchen ist. Die schöne Tharandís, die genau wie ihr Vater ist und seinem Beispiel immer folgt. Wie ich das gehasst habe! Aber ich habe es immer ertragen. Meiner Mutter zuliebe und weil ich meinen Vater nicht enttäuschen wollte - oder konnte. Und dann kam mein Bruder. Ein Teil von mir war froh, frei von dem Druck zu sein, den er nun als neuer Thronfolger zu spüren bekam. Aber ein anderer Teil... ein größerer Teil... war verletzt. Verletzt durch die geradezu vollständige Abkehr meines Vaters. Es war, als würde ich für ihn kaum noch existieren. All seine Aufmerksamkeit lag bei meinem Bruder. Und als meine Mutter dann verschwand... hatte ich niemandem mehr. Niemanden außer die Kameraden, die ich bei den Kundschaftern fand. Ihre Namen werden für dich keine Bedeutung haben: Angvagor, Galanthir, Seldíriel und Lidhrim. Sie gaben mir den Namen, den ich heute trage, und mit dem ich die schönsten Erinnerungen meines Lebens verbinde."
"Was bedeutet dein Name denn?"
"Fin-elleth, das Mädchen mit den Haaren. Vielleicht kannst du dir ja denken, weshalb," sagte die Elbin mit einem traurigen Lächeln als sie den Zopf löste, der ihr über den Rücken gefallen war. Kerry sah staunend zu, wie sich das sandblonde Haar einer Wolke gleich über Finelleths Rücken ausbreitete.
"Ich glaube, ich weiß, was du meinst," sagte sie und strich bewundernd durch die Strähnen von Finelleths Haar. Da kam Kerry ein Einfall, und sie setzte sich hinter Thranduils Tochter. "Erzähl weiter, wenn du möchtest. Und ich werde dir in der Zwischenzeit eine Frisur nach Art der hohen Damen Rohans machen. Du wirst sehen, es wird dir gefallen."
Kerry konnte Finelleths Gesicht nicht sehen, aber sie spürte geradezu, wie die Elbin einen gewissen Widerstand überwand und schließlich nickte. "Danke, Kerry," hauchte sie und fuhr dann mit leicht belegter Stimme fort: "Ich blieb also bei den Kundschaftern - so lange, bis mein Vater mich als eine von ihnen behandelte. Auch das tat weh, aber ich wusste, dass es meine Wahl gewesen war, und er sie auf eine Art respektierte. Ich fand echte Freundschaften bei den Spähern, und war einige Jahrhunderte glücklich."
"Freundschaften sagst du," unterbrach Kerry mit einem kleinen Grinsen. "Oder vielleicht auch mehr?"
Finelleth machte ein tadelndes Geräusch. "Du bist wirklich schlimm, meine Liebe. Du weißt, dass ich über solche Dinge nicht reden werde."
"Ich weiß. Vielleicht eines Tages."
"Wenn du dich als vertrauenswürdig erweist und ich nicht morgen feststellen muss, dass das ganze Dorf darüber spricht, was ich dir erzählt habe."
"Dazu wird es nicht kommen. Erzähl weiter!"
"Seit dem... Tod meines Bruders habe ich ein sehr angespanntes Verhältnis zu meinem Vater," fuhr Finelleth fort. "Er sieht mich noch nicht wieder als seine Tochter und Erbin - dazu liegt die Nachricht vom Tod seines Sohnes noch zu kurz zurück- aber dennoch bin ich nicht länger unsichtbar für ihn. Er vertraute mir schwierige und gefährliche Missionen an, die er sonst nur an seine besten Leute vergibt. Er kennt meinen Wert als Späherin und Kämpferin. Wenn er mich ansieht, stelle ich fest, dass er mich auf eine seltsame Art und Weise respektiert. Aber dennoch... Der Fall des Waldlandreiches hat uns alle hart getroffen, aber für meinen Vater brach seine gesamte Welt zusammen - mehr noch als es beim Verschwinden meiner Mutter oder beim Tod meines Bruders der Fall war. Weißt du, Kerry, er fühlte sich in seinem Königreich unangreifbar und sicher. "Hier in diesem Reich werden wir alle Schatten überdauern," pflegte er zu sagen. Doch dann kam der erste Angriff aus dem Süden, der nur mit großer Mühe abgewehrt werden konnte. Und nach der Katastrophe am Schwarzen Tor erfolgte der zweite Angriff, der noch größer als der erste war. Wir wurden in die Flucht geschlagen und das Waldlandreich hörte auf zu existieren. Mein Vater ging nach Lothlórien und wahrte nach außen hin den Schein eines verletzten, aber noch nicht besiegten Königs - um seines Volkes willen - aber ich konnte deutlich sehen, dass er innerlich zerbrochen war. Sein Herz hatte aufgegeben. Und nichts und niemandem gelang es, ihn aus diesem Zustand herauszuholen - bis Saruman kam."
"Saruman!" entfuhr es Kerry. "Er steckt also dahinter!"
"Nein," sagte Finelleth. "Ursprünglich nicht. Aber es gelang ihm, meinen Vater mit seinen Versprechungen zu ködern. Er bot Thranduil die Rückgewinnung des Waldlandreiches an. Ich glaube, mein Vater hofft, dass sich alles wieder normalisieren wird, wenn er erst wieder auf seinem Thron inmitten seiner versteckten Hallen sitzt. Und wenn Saruman in der Lage ist, ihm das zu geben..." sie brach ab.
"Aber er darf doch Saruman nicht einfach so trauen!"
"Du unterschätzt die Kraft von Sarumans Stimme. Sie ist so machtvoll, dass nur sehr wenige ihr widerstehen konnten. Ich war nach dem Fall des Goldenen Waldes dabei, als Saruman meinen Vater fand, und wie alle war ich damals von den Worten des Zauberers so vollständig überzeugt, dass ich nicht einmal erkannte, dass er gerade um uns herum die Heimat unserer Verwandten zerstörte. Er sagte: "All dies geschieht aus einem guten Grund," und wir glaubten ihm. Sogar dann, als Saruman uns nach Aldburg begleitete und kurz darauf wieder alleine abreiste hielt die Wirkung noch an. Erst als mein Vater mich und zwei meiner Gefährten nach Dol Guldur entsandte merkte ich, was vor sich ging. Als ich mich mit Angvagor und Galanthir auf der Ebne von Celebrant versteckte und auf die Ankunft von Glorfindels Heer wartete, hatte ich einige Tage Zeit zum Nachdenken. Und mir wurde klar, dass Saruman meinen Vater nur für seine selbstsüchtigen Ziele benutzt. Ich muss gehen, und ihm die Augen dafür öffnen. Und ihm all das erzählen, was ich dir gerade erzählt habe. Wenn ich die Kraft dafür finde..."

Kerry war inzwischen mit dem Flechten der Frisur fertig geworden. Auf Finelleths Kopf waren die sandblonden Haare nun in einem kreisrunden Zopf zusammengebunden worden, sodass keine Strähne über ihren Hals fiel. Die Haare, die die Stirn bedeckten, teilten sich oberhalb der Augenbrauen und fielen in zwei breiten Strängen an Finelleths Wangen herunter, um an ihrem Oberkörper zu enden. "Du siehst wirklich sehr hübsch aus," kommentierte Kerry. "So solltest du vor deinen Vater treten: Nicht mehr als die kleine elbische Prinzessin oder die einfache Späherin. Du hast viel gesehen und bist durch so viele Gefahren gegangen. Finelleth, du bist stärker, als du es selbst glaubst. Sogar stärker als die Knoten, die dein Haar jetzt so zusammenhalten. Und deshalb werde ich mit dir kommen. Um dich daran zu erinnern - und dir, wenn du möchtest, immer dann diese Frisur zu verpassen, wenn du an dir zweifelst."
"Kerry! Du kannst nicht mit mir kommen!" rief Finelleth überrascht und drehte sich zu ihr um. "Das ist viel zu gefährlich!"
"Ich bin kein Kind mehr," gab Kerry entschlossen zurück. "Ich treffe meine eigenen Entscheidungen. Oronêl wird mit dir gehen - und ich auch. Ich sehe doch, wie wichtig dir das Ganze ist. Du hast den langen Weg von Fornost bis nach Carn Dûm und von dort nach Mithlond auf dich genommen, weil ich Hilfe brauchte. Und jetzt brauchst du Hilfe, also werde ich tun, was ich kann... selbst wenn das nur bedeutet, dir ab und zu die Haare zu flechten. Und außerdem wäre es sicherlich ein unvergleichliches Abenteuer, für Ordnung im Waldlandreich zu sorgen!"
Finelleth nahm Kerrys Hand und drückte sie. "Ich... das geht nicht... was würden deine Eltern dazu sagen?"
"Vermutlich dasselbe," antwortete Kerry. "Sie sind ebenfalls deine Freunde. Du bist nicht allein, Finelleth."
"Nein, ist sie nicht. Wir stellen uns gemeinsam dem, was uns im Waldlandreich erwartet," sagte Oronêls Stimme, und die beiden Frauen drehten sich überrascht um. Da stand Oronêl und betrachtete sie mit einem amüsierten Lächeln. "Hübsche Frisur, nethel. Ich sehe schon, Kerry versteht was vom Flechten." Er kam näher und breitete beruhigend die Hände aus. "Keine Sorge, meine edlen Damen, ich habe nur den letzten Satz gehört. Worüber habt ihr gesprochen?"
"Ach, du weißt schon," gab Kerry frech zurück. "Frauendinge und solche Sachen."
"Ja, Frauendinge," bestätigte Finelleth. "Kerry möchte uns ins Waldlandreich begleiten."
Oronêl nickte. "Das dachte ich mir schon. Sofern Mathan und Halarîn nichts dagegen haben, soll es mir recht sein."
"Danke, Oronêl," rief Kerry und umarmte den Elben herzlich.
"Ich glaube, ich übernehme hier," sagte Oronêl kurz darauf. "Die Sterne ziehen herauf, und dies ist ein exzellenter Platz für einen ungetrübten Blick darauf. Ich glaube, Faerwen wird mir Gesellschaft leisten. Und du, meine liebe Ténawen, solltest dich auf dem Weg zum Baum oberhalb des Dorfs machen. Ich glaube, dort wartet jemand auf dich." Er lächelte breit.
"Wirklich?" rief Kerry überrascht und sprang auf.

Kerry erinnerte sich an die Stelle, an der sie mit Lynet bei ihrem ersten Besuch im Dorf gesessen und geplaudert hatte. Der Baum war oberhalb der Dächer der Hütten deutlich zu sehen, und Kerry hielt schnellen Schrittes darauf zu. Als sie heran kam sah sie auf dem ungestürzten Stamm eine Gestalt sitzen, die ihr sehr bekannt vorkam.
"Hallo, Wolf," sagte sie leise, und Aéd blickte auf. Er schien in Gedanken versunken gewesen zu sein.
"Hallo, Kerry," antwortete er. "Was tust du hier?"
"Ich hörte, dass du hier bist und wollte die Gelegenheit nutzen, mit dir alleine zu sein. Vorhin warst du ja sehr beschäftigt und immer von so vielen Leuten umgeben. Da war mir zu viel los." Sie setzte sich neben Aéd und folgte seinem Blick, den er über das Dorf streifen ließ.
"Es passiert alles so schnell," sagte Aéd nachdenklich. "Mein Vater ist tot, und nun bin ich Häuptling des Stammes des Schildes. Und nicht nur das - sie haben mich tatsächlich zum Wolfskönig ausgerufen. Dem ersten seit drei Jahren, denn mein Vorgänger starb bei Helms Klamm. Und ich bin der jüngste Wolfskönig, den es in der Geschichte meines Volkes jemals gab. Es wird nicht leicht werden, die Häuptlinge bei Laune zu halten."
"Musst du sie denn bei Laune halten?" wunderte sich Kerry. "Du bist doch ihr König, oder? Wenn du ihnen etwas befiehlst, müssen sie dir gehorchen, oder nicht?"
"So wäre es in deiner Heimat. Und vieles wäre einfacher, wenn wir in Dunland einen König so wie in Rohan hätten. Aber wir Dunländer sind anders. Bei uns kommt es nicht auf Titel oder Adelsstand an. Jeder Mann schafft sich hier seinen eigenen Ruf - sein eigenes Schicksal. Und man wird auch nur an seinen Taten und an seinem Ruf gemessen. Blutlinien bedeuten nur wenig. Zwar bin ich der Sohn des vorherigen Häuptlings, doch an meiner Stelle hätte jeder im Stamm des Schildes zum neuen Anführer werden können, wenn er die Stammesmitglieder davon überzeugt hätte, dass er der Richtige ist. Alles basiert auf Respekt - und den muss ich mir bei den meisten Häuptlingen erst noch verdienen. Corgan und zwei andere haben im Krieg auf der Seite meines Vaters gekämpft und haben gesehen, was ich am Silbersee und in Tharbad geleistet habe, aber die anderen sind noch skeptisch. Viele haben noch immer Sarumans Lügen im Kopf. Es wird schwer werden, die Einigkeit unter den Stämmen Dunlands zu bewahren."
"Schon wieder Saruman," sagte Kerry. "Überall sorgt er für Ärger."
"Das hat jetzt ein Ende," versprach Aéd. "Ich werde nicht dulden, dass der Zauberer mein Volk weiter ausnutzt. Jeder, der es ab heute mit der Weißen Hand hält, wird meinen Zorn zu spüren bekommen."
"Und du wirst Frieden mit den Elben und den Rohirrim schließen, ja?" verlangte Kerry.
"Das habe ich, und das werde ich," bestätigte Aéd.
"Was hat dieser Häuptling damit gemeint, als er dich als "halben Dunländer" bezeichnet hat?" wollte sie neugierig wissen.
"Meine Mutter stammt aus Anfalas in Gondor," erklärte Aéd. "Ich habe sie nicht kennengelernt, denn sie starb früh. Ich weiß nur, dass ihr Name Eryn war, und das meine jüngere Schwester nach ihr benannt ist."
"Oh," machte Kerry. "Meine Mutter ist auch tot... aber ich habe eine neue gefunden. Genau wie du." Sie blickte zur Hütte des Häuptlings hinüber, wo Brigid und ihre Kinder schliefen. Und riss überrascht die Augen auf, als Aéd ihre Hände sanft ergriff und sie zu sich herumdrehte.
"Ich bin froh, dich kennengelernt zu haben," sagte er. "Ich hoffe, du wirst mich besuchen kommen, wenn du in Eregion wohnst."
"Das werde ich ganz bestimmt," gab Kerry zurück ehe sie daran dachte, dass sie womöglich nicht lange in Eregion bleiben würde. "Ich bin auch froh, Aéd," sagte sie dann und zog die Hände nicht weg. "Ich bin froh, dass du der bist, der du bist. Wolfskönig oder nicht... ich werde jeden Augenblick genießen, den ich mit dir verbringen kann."
"Dann lass uns die Zeit nutzen, die uns noch bleibt."
Gemeinsam blieben sie dort sitzen, und die Zeit schien für einen Augenblick still zu stehen. Kerry wandte Aéd das Gesicht zu, voller Erwartung und einer innerlichen Anspannung, die mit jeder Sekunde zunahm... und erst abfiel, als er sich zu ihr herunterbeugte, und sich ihre Lippen trafen.

Eandril:
Als Kerry in den Abend davongeeilt war, setzte Oronêl sich neben Finelleth auf den Felsen und sah schweigend zu den Sternen empor. Im alten Lórinand hatte er oft mit Calenwen auf einem hohen Flett gesessen und in einträchtigem Schweigen mit ihr die Sterne beobachtet. Zu dieser Zeit hatten sie nicht viele Worte gebraucht um einander zu verstehen, und das Schweigen war angenehm gewesen. Später, als er immer öfter an die Grenzen gehen musste um gegen Saurons Orks zu kämpfen, hatte sich das Schweigen zwischen ihnen verändert, und war immer öfter von bitteren Worten durchbrochen worden. Dann war wieder eine bessere Zeit gekommen, doch es war niemals wieder so gewesen, wie vor Saurons Angriff auf die Elben. Für einen Augenblick schweiften seine Gedanken zu Mathan, denn auch für ihn hatten diese Jahre eine große Veränderung bedeutet - wenn auch auf andere, brutalere Art.
Es war Finelleth, die schließlich das Schweigen brach. "Ist es dir wirklich recht, das Kerry uns begleiten will?", fragte sie. "Immerhin ist sie keine Kriegerin, und die Wege nach Osten sind gefährlich."
"Die ganze Welt ist gefährlich", erwiderte Oronêl. "Und man muss keine Kriegerin sein, um etwas bewirken zu können - das haben wir in der Schmiede gelernt, und nicht erst  dort." Er dachte an den Tag in Bruchtal, als Amrothos vom Wahnsinn des Ringes geheilt worden war, und an die Rolle, die Irwyne dabei gespielt hatte.
"Und Kerry mag nach unseren Maßstäben unendlich jung sein, doch nach den Maßstäben der Menschen ist sie längst erwachsen und sollte ihre Entscheidungen treffen", fuhr er fort. "Und wenn das ihre Entscheidung ist, dann freue ich mich über ihre Gesellschaft."
Finelleth wirkte erleichtert, als ob sie sich Sorgen gemacht hätte, dass er eigentlich anderer Meinung sein könnte. "Ich fürchte mich vor dem was kommt... aber die Tatsache, dass ihr mit mir kommen, mir helfen wollt, macht es erträglicher."
"Kerry hat ein gutes Herz, und ich glaube, du hast sie für dich eingenommen, als du mit uns nach Angmar gegangen bist. Und außerdem", fügte er mit einem Lächeln hinzu. "Außerdem glaube ich, dass sie das Abenteuer lockt. Sie scheint ein wenig Selbstvertrauen hinzugewonnen zu haben."
Finelleth gab einen leisen Laut von sich, der ein Lachen sein konnte. "Und ich dachte, du wärst blind was das Verhalten Anderer angeht... Genau das hat sie mir als Grund gesagt."
"Nun... auch in meinem Alter kann man noch dazulernen."
Sie schwiegen erneut einen Moment, bevor Finelleth plötzlich aufstand. "Du hast Kerry zu Aéd geschickt." Oronêl legte den Kopf schief und antwortete: "Mag schon sein... warum?"
Finelleth packte ihn am Arm und zog ihn auf die Füße, alle Furcht und Traurigkeit schien wie weggeblasen zu sein. "Ich will wissen, was sie bereden."
"Ich glaube nicht, dass..." Oronêl sprach nicht aus, denn es hatte keinen Zweck. Finelleth war bereits in Richtung der Stelle, die er Kerry genannt hatte, davongelaufen, und er musste sich beeilen, um sie einzuholen. Erst an der Kuppe des Hügels, ein wenig von dem umgestürzten Baumstamm, auf dem zwei Gestalten nah beieinander saßen, hatte sie angehalten, und dort holte Oronêl sie ein.
"Ich bin froh, dass du der bist, der du bist. Wolfskönig oder nicht... ich werde jeden Augenblick genießen, den ich mit dir verbringen kann", sagte Kerry gerade, und Aéd erwiderte: "Dann lass uns die Zeit nutzen, die uns noch bleibt."
Einige Herzschläge lang herrschte Stille, während der die Elben regungslos verharrten, und Oronêl sogar unwillkürlich den Atem anhielt. Dann wandte Kerry Aéd das Gesicht zu, und im Licht der Sterne sah Oronêl deutlich, wie der junge Dunländer die Gelegenheit nutzte, und sie vorsichtig auf die Lippen küsste.
Im selben Augenblick stieß Finelleth ihm vielsagend den Ellbogen in die Seite, was Oronêl ein wenig aus dem Gleichgewicht brachte. Er musste seinen Fuß bewegen, um das Gleichgewicht zurück zu erlangen, und trat dabei auf einen trockenen Ast, der mit einem gut hörbaren Knacken brach. Sofort fuhren Kerry und Aéd auseinander, und wandten sich in seine Richtung um. Auch in der Dunkelheit sah Oronêl Kerry deutlich erröten, und auch Aéds Wangen hatten sich ein wenig gefärbt.
"Das ist nicht, was..." begann der Wolfskönig, und Kerry sagte: "Also wir..." Beide sprachen nicht aus, und ein unangenehmes Schweigen legte sich über den Hügel. Schließlich räusperte Oronêl sich peinlich berührt, und sagte: "Es tut mir Leid, dass ich euch gestört habe. Eigentlich war es ja..." Faerwens Schuld, wollte er sagen, doch als er neben sich blickte, war von ihr keine Spur mehr zu sehen. Er seufzte, und stieß innerlich einen Fluch aus. "Jedenfalls freue ich mich für euch, und äh... sollte lieber gehen." Ohne eine Antwort abzuwarten wandte er sich um, und eilte den Hügel hinunter.
Am Fuß des Hügels angelangt erwartete ihn Finelleth, die ihm mit einem Grinsen entgegenblickte. "Bist du nicht ein wenig zu alt für so etwas?", fragte er vorwurfsvoll. "Andere Leute beim Küssen stören und mir die Schuld zu schieben?"
"Sie hätten uns gar nicht bemerkt, wenn du nicht so ungeschickt gewesen wärst", gab Finelleth ungerührt zurück, und trotz allem freute Oronêl sich, dass die Finelleth, die er in Bruchtal kennengelernt hatte, wieder da zu sein schien. "Und außerdem, für so etwas ist man nie zu alt - und ich bin viel jünger als du."
"Eindeutig", seufzte Oronêl, lächelte aber. Nach einer Weile fragte Finelleth schließlich: "Also... was hältst du davon?"
Oronêl zuckte mit den Schultern. "Im Grunde... Aéd ist nach allem, was ich von ihm gesehen habe, ein sehr vernünftiger und freundlicher Mann, und ich glaube auch in Kerrys Alter. Und wenn er ihr gefällt..."
Finelleth verdrehte die Augen, und stieß ihm mit der Faust gegen die Schulter. "Du bist viel zu vernünftig, gwador."
"Nicht immer", gab Oronêl mit einem flüchtigen Lächeln zurück. "Lass mich nur eben einen Eimer mit Eiswasser auftreiben..."
"Wag es ja nicht!" Finelleth drohte ihm mit der Faust, musste dabei aber lachen. Schnell wurde sie wieder ernst, und fragte: "Meinst du, Kerry wird jetzt noch immer mit uns kommen wollen? Ich könnte verstehen, wenn..."
"Ich auch", antwortete Oronêl. "Aber ein Kuss macht noch keine unsterbliche Liebe. Und ich denke, es hat keinen Sinn, sich darüber Gedanken zu machen... morgen werden wir es sehen, es ist noch immer ihre eigene Entscheidung."
"Ja...", meinte Finelleth langsam. "Morgen werden wir es sehen..."

Fine:
Oronêl verschwand wieder in der Dunkelheit, ebenso schnell wie er aufgetaucht war. Doch seine Unterbrechung hatte Folgen. Der magische Moment war verstrichen und Kerry kam endgültig wieder in der wirklichen Welt an. Sie blickte zu Aéd, der sie erwartungsvoll zu mustern schien.
"Also das war..." setzte sie vorsichtig an, kam jedoch nicht dazu, den Satz zu vollenden.
"...ein klein wenig peinlich," ergänzte Aéd. "Ich weiß. Aber ich denke, für Oronêl war es sicherlich genauso unangenehm. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er uns belauscht hat. Sicherlich war es nur Zufall, dass er hier war."
Kerry starrte angestrengt in die Dunkelheit. "Du kennst ihn nicht so gut wie ich. Zuzutrauen wäre es ihm... wenn ihn jemand dazu verleitet hätte. Von selbst würde er sowas nicht machen, aber... bist du sicher, dass er alleine war?"
"Ich habe nur einen Elb gesehen," meinte Aéd verwundert. "Was willst du damit sagen?"
"Nicht so wichtig," beschwichtigte Kerry ihn. "Also... ich sollte wohl gehen. Es ist spät," brachte sie hervor, ohne recht zu wissen was sie sagen sollte. "Das war... schön," fügte sie leise hinzu und hoffte, dass Aéd wusste, wovon sie sprach.
Und tatsächlich nickte er und nahm ihre linke Hand. "Das war es, Kerry. Du bist anders als die Mädchen, die ich bisher kennengelernt habe."
"Wieviele Mädchen hast du denn schon kennengelernt?"
Aéd lachte leise. "Einige. Aber keine davon kam aus Rohan. Komm, wir sollten hier nicht bleiben. Wer weiß, wer uns noch alles belauscht. Ich bringe dich zu deiner Unterkunft."
Sie sprachen nur wenig während sie das Dorf durchquerten und kamen schließlich vor dem Haus an, in dem Aéds Familie wohnte. Kerry würde bei Lynet schlafen. Aéd hingegen hatte zwar nun den Sitz des Häuptlings als Erbe seines Vaters in Anspruch genommen, sich jedoch entschieden, bis auf Weiteres sein ehemaliges Zimmer zum Schlafen zu verwenden. Drinnen sagten sie einander gute Nacht und jeder ging seiner Wege.

Kerry erwachte davon, dass sich ein Gewicht auf ihren Oberkörper legte und jemand ihr mehrfach auf die rechte Wange stupste, bei jedem Mal stärker als zuvor. Sie schlug die Augen auf und blickte in das Gesicht der kleinen Eryn, Aéds jüngster Schwester. "Du musst aufstehen," rief Eryn fröhlich. "Die Sonne ist schon aufgegangen, und sie hat Besuch mitgebracht!"
"Was..." brachte Kerry verschlafen hervor, doch Eryn sprang bereits vom Bett und zog ihr dabei die Felldecke weg. "Hee!" protestierte Kerry überrascht und schlang die Arme um ihren nur wenig bekleideten Körper.
"Deine Schwester sagt, du sollst schnell zu ihr kommen," erklärte Eryn strahlend. "Also zieh dir 'was an und komm!"
Kerry unterdrückte einen rohirrischen Fluch und kam der Aufforderung von Foraths Tochter schließlich nach. Nachdem sie sich ihre Reisekleidung angezogen hatte folgte sie Eryn nach draußen, wo bereits ein Elb in der Rüstung der Manarîn auf sie wartete. Es war Angatar, einer der Gardisten Faelivrins. "Aiya Ténawen," grüßte er auf Quenya und bedeutete ihr, ihm zu folgen. "A tule asenye."
Komm mit mir hieß das. "Was ist denn los?" fragte Kerry während sie neben Angatar herlief.
"Die Königin erwartet dich," erklärte Angatar als sie am nördlichen Tor des Dorfs ankamen, wo Kerry sich am Abend zuvor mit Finelleth unterhalten hatte. Dort stand Faelivrin mit großem Gefolge, und hinter ihr, auf der Ebene zwischen dem Dorf und dem Gwathló, hatte sich ihr Volk versammelt.
Die Manarîn sind hier, stellte Kerry erstaunt fest. Es schien sich nicht nur um die Besatzung der beiden Schiffe der Vorhut zu handeln sondern um den Großteil der Elben, die das Inselreich in den Neuen Landen verlassen hatten und nach Mittelerde gekommen waren.
"Da bist du ja, nésa," begrüßte Faelivrin sie und musterte Kerry eindringlich. Sie wirkte verändert seit ihrem letzten Treffen: königlicher, erhabener, aber auch distanzierter. "Wir sollten aufbrechen. Dies ist kein Ort für mein Volk."
"Aéd und sein Stamm sind uns doch freundlich gesonnen," meinte Kerry verwundert.
"Das mag sein. Dennoch möchte ich mein Volk in Sicherheit wissen und es nach Eregion bringen. Du warst gestern beim Treffen der Häuptlinge dabei und hast gesehen, dass die Herrschaft deines... Freundes Aéd nicht unumstritten ist. Ich bin mir sicher, dass der Stamm des Schildes keine feindlichen Absichten hat, aber von den übrigen Stämmen kann ich das nicht sagen. Oronêl hat mir erzählt, dass ihr in Eregion meinen Großvater getroffen habt. Dass ich ihn kennenlernen möchte ist nur ein weiterer Grund, so bald wie möglich aufzubrechen. Und nun, da du hier bist, können wir das tun."
"Wo sind Oronêl und Finelleth?" fragte Kerry, der die ganze Situation etwas seltsam vorkam.
"Sie wollten sich vom Wolfskönig verabschieden. Ich nehme an, sie..." Faelivrin brach ab als sie Oronêl, Finelleth und Aéd entdeckte, die heran kamen. Aéd wurde von Domnall und einigen weiteren jungen Kriegern begleitet.
"Ihr brecht auf, Herrin?" fragte er respektvoll.
Faelivrin nickte würdevoll. "Eregion erwartet uns."
"Dann heißt es jetzt wohl Abschied nehmen," meinte Kerry mit gemischten Gefühlen und wollte ihn umarmen, doch Faelivrin hielt sie zurück. "Vergiss nicht, wer du bist," raunte sie ihr auf Quenya zu. "Du bist jetzt ein Teil des Königshauses und solltest dich entsprechend benehmen. Deine Kleidung ist unangebracht, und dein Verhalten ebenfalls."
Kerry blickte an sich hinunter und ihr fiel auf, dass sie neben den edel gekleideten Elben Faelivrins aufgrund ihrer einfachen Reisebekleidung tatsächlich hervorstach. Doch das elbische Kleid, das sie mitgebracht hatte, hatte sie Lynet geschenkt. "Was meinst du damit?" fragte sie ebenso leise zurück und war sich dabei unangenehm bewusst, dass viele Augen auf ihr ruhten.
Faelivrins Augen fixierten Aéd. "Mir kam zu Ohren, was gestern geschehen ist." Sie legte missbilligend den Kopf schief. "Unsere Eltern werden nicht erfreut sein wenn sie davon hören."
Kerry stemmte irritiert die Hände in die Hüften. "Hat Oronêl etwa..."
"Nésa. Er musste mir nichts erzählen. Es steht dir ins Gesicht geschrieben was du fühlst."
"Und warum ist das ein Problem?" wollte Kerry wissen.
"Ich will nicht, dass du dich da in etwas verrennst. Du hast doch Reisepläne. Du willst mit Finelleth und Oronêl in ein Abenteuer ziehen. Lass dich nicht von jemandem davon ablenken, der..." Sie ließ den Satz unvollendet.
Kerry war erstaunt wieviel ihre Schwester bereits darüber wusste, was am Tag zuvor geschehen war und welche Entscheidungen sie getroffen hatte. Verärgerung stieg in ihr auf. "Jemand der was? Der unangemessen für mich ist? Nésa, er ist jetzt ein König!"
"Bitte," mischte Aéd sich respektvoll ein. "Ich möchte mich nur verabschieden, Herrin. Nichts läge mir ferner als Eurer Familie zu schaden."
Faelivrin bedachte ihn mit einem kühlen Blick. "Sagt einander Lebewohl. Ich werde warten... aber nicht lange." Sie drehte sich um und rauschte davon.

Oronêl war es, der das Schweigen brach. "Ihr solltet auf sie hören und sich verabschieden," meinte er leise. "Es tut mir Leid, wie das gelaufen ist."
"Ist schon gut," sagte Kerry. "Wolf, mir tut es Leid. Ich hätte dir sagen sollen, dass ich nicht in Eregion bleiben werde."
"Deine Freundin hat es mir erzählt," antwortete Aéd und deutete mit dem Daumen auf Finelleth, die bislang still daneben gestanden hatte. "Ich verstehe, weshalb du gehen willst. Du willst ihr helfen, ihre Heimat zurückzugewinnen und du willst ein Abenteuer erleben. Ich würde mit dir gehen, wenn ich könnte. Aber..."
"...aber du hast jetzt eine große Verantwortung deinem Volk gegenüber," beendete Kerry den Satz. "Ich weiß. Und ich weiß auch, dass du der beste Wolfskönig aller Zeiten werden wirst." Sie umarmte ihn fest. Als sie sich voneinander lösten, sagte sie: "Wir sehen uns wieder, Wolf."
Er nickte, sagte jedoch nichts.
"Komm, Kerry," sagte Finelleth leise. "Wir sollten aufbrechen."
"Ja," stimmte sie nachdenklich zu. "Begleiten wir die Manarîn nach Eregion."


Oronêl, Faelivrin, Finelleth und Kerry mit den Manarîn nach Eregion

Fine:
Córiel und Jarbeorn von den Furten des Isen


Ein dichter Nebel hing zwischen den Hügeln des östlichen Teils von Dunland, den Córiel und Jarbeorn gerade durchquerten. Sie hatten die Furten des Isen vor wenigen Stunden im Morgengrauen hinter sich gelassen und ritten nun im Trab die alte Straße entlang, die einst von den Königen Gondors angelegt worden war, um die Städte Minas Tirith und Tharbad miteinander zu verbinden.
Es war ein grauer Herbsttag, und die Bäume, die zu beiden Seiten der Straße standen, hatten sich bereits in vielen verschiedenen Gelb- und Rottönen verfärbt. Beide Gefährten waren schweigsam, denn selbst dem gutmütigen Jarbeorn schlug das Wetter auf die Stimmung. Die Sichtweite wurde immer geringer, je weiter sie kamen, denn der Nebel sank langsam von den Hügeln herab und sammelte sich als graue, dichte Masse zwischen den flachen Gipfeln, die teilweise kahl, teilweise spärlich bewachsen waren.
Einst, in einem längst vergangenem Zeitalter, war dieses Gebiet Teil des Reiches der Noldor von Eregion gewesen, dessen Ostgrenze von eben jenem Fluss gebildet wurde, der nun Rohans Westgrenze war. Der Isen hatte damals noch seinen Quenya-Namen getragen, und Ancanín geheißen. Córiel hatte die Schlachten, die damals in diesem Gebiet geschlagen waren, jedoch nicht selbst miterlebt, denn sie war noch zu jung gewesen, als die Heere Mordors das Elbenreich angegriffen hatten.

Die Böschung zu beiden Seiten der Straße stieg an, bis der Weg schließlich durch einen Hohlweg führte, dessen Ränder gerade noch erkletterbar waren. Córiel spürte, wie ihre Anspannung wuchs. Sie ritten seit ihrem Aufbruch von den Furten ins Ungewisse und hatten auf ihrem bisherigen Weg durch Dunland noch kein Anzeichen auf die Bewohner dieses Gebiets gesehen. Die Grenzwächter Rohans hatten ihnen erzählt, dass sich die Dunländer nur selten in die Nähe der Isen-Übergänge wagten, doch nun waren Córiel und Jarbeorn bereits ein ordentliches Stück ins Landesinnere vorgedrungen, und noch immer war ihnen niemand begegnet.
Hier stimmt etwas nicht, dachte Córiel, deren Blick aufmerksam von einer Straßenseite zur anderen ging. Doch selbst ihre Elbenaugen konnten den dichten Nebel nicht durchdringen.
Jarbeorn sog scharf die Luft zwischen seinen Zähnen ein und lenkte Córiels Aufmerksamkeit nach vorne, wo die Straße zwischen zwei hohen Felsen hindurch führte. Eine schemenhafte Gestalt war dort aufgetaucht, die sich ihnen langsam näherte. Córiels Hand glitt zum Griff ihres Speeres, und auch Jarbeorn tastete nach seiner Großaxt. Es war totenstill, bis auf den angespannten Atem der beiden Gefährten. Jarbeorns Pferd ließ ein Schnauben hören, aus dem Córiel die Angst des Tieres deutlich heraushörte.
Als die Gestalt näher kam, und deutlicher zu erkennen wurde, stutzte Córiel. Es handelte sich um eine Frau in einfachen Gewändern, die einen Umhang mit Kapuze trug. Córiel stieg vorsichtig aus dem Sattel und ging der Frau einige Schritte entgegen. Ihren Speer hatte sie nicht mitgenommen, doch ihre Hand lag an dem versteckten Dolch an ihrem Oberschenkel.
"Scheußliches Wetter, nicht wahr?" begrüßte die Frau Jarbeorn und Córiel, als sie bis auf wenige Meter herangekommen war. "Kein guter Tag für eine Wanderung. Und für einen eiligen Ritt schon gar nicht!"
Sie klang gleichzeitig alt und wiederum nicht alt, und auch ihr Gesicht, das unter der Kapuze hervorschaute, bot Córiel keinerlei Hinweise auf das Alter der seltsamen Dunländerin. Córiel kannte sich mit Menschen nicht sonderlich gut aus, obwohl sie schon einige Zeit lang in Rohan stationiert gewesen war.
"Grüß' Euch, gute Frau," sagte Jarbeorn, der offenbar bereits alle Vorsicht abgelegt hatte und seine Axt locker über der Schulter trug. "Ist es nicht ein wenig gefährlich für jemanden wie Euch, hier draußen alleine unterwegs zu sein? Immerhin soll in diesem Land ein Krieg herrschen."
"Gefährlich? Unsinn, mein Junge. Der Krieg ist vorbei, zumindest glauben die Häuptlinge das. Bis auf einige wenige haben sie alle diesem Jungspund die Treue geschworen und haben ihn sogar zum Wolfskönig gemacht." Sie machte ein geringschätziges Geräusch mit ihrer Zunge. Ganz offensichtlich hielt sie nicht sonderlich viel vom neuen Herrn von Dunland.
"Der Krieg ist vorbei? Wer hat ihn gewonnen?" fragte Córiel, deren Anspannung nun ebenfalls nachließ. Auch wenn ihr die Dunländerin ein wenig seltsam vorkam, schätzte Córiel sie nicht als Bedrohung ein.
"Diejenigen, die weder Sauron noch Saruman dienen wollen. Die idealistischen Narren, die Dunland nichts als Ärger einbrocken werden. Merkt euch meine Worte! Dieser Aéd Forathssohn ist kein guter Anführer. Er ist zu jung! Und nach allem was man hört, hat er sich sogar schon von einer Forgoil-Hure den Kopf verdrehen lassen." Sie spuckte aus.
Córiel verstand nicht recht, worum es bei dieser Aussage ging, doch Jarbeorn wusste offenbar, was die Worte der Frau zu bedeuten hatten. "Die Rohirrim wollen keinen weiteren Krieg mit den Dunländern," sagte er.
"Und dennoch haben sich beide Völker von Saruman abgewandt," unterbrach ihn die Frau. "Das wird noch übel ausgehen, für beide Seiten."
Sie weiß erstaunlich gut Bescheid, dachte Córiel misstrauisch. Die Nachricht vom Ende des Bündnisses zwischen Saruman und Rohan war erst wenige Wochen alt. "Wie ist Euer Name?" hakte sie rasch nach. "Und was führt Euch ganz alleine hier in diese trostlose Wildnis?"
"Es ist unhöflich, in der Fremde misstrauische Fragen zu stellen, ohne sich erst einmal selbst vorzustellen, Mädchen," gab die merkwürdige Frau unbeeindruckt zurück.
Córiel wollte schon eine bissige Erwiderung geben, doch Jarbeorn kam ihr zuvor. "Ich bin Jarbeorn, Sohn des Grimbeorn, und dies ist Córiel von den Noldor. Wir sind hier, um herauszufinden, was in Dunland vor sich geht."
"Aha, Spione seid ihr also, soso! Nun, dann könnt ihr ja froh sein, dass mir das gleich ist. Ihr seid weit weg von zuhause, ihr beiden." Sie musterte die beiden Gefährten eindringlich. "Ihr könnt mich Veca nennen. Meine Angelegenheiten gehen euch nichts an. Aber wenn ihr es unbedingt wissen wollt: Ich bin auf der Suche nach meinen Verwandten, die sich wegen den ständigen Kämpfen hier in der Gegend zerstreut haben. Nun schaut mich nicht so besorgt an, ich finde sie schon. Ihr solltet weiterreiten, dann findet ihr vielleicht die Antworten, die ihr sucht."
Jarbeorn sah aus, als wäre er dran und drauf, der Dunländerin Veca seine Hilfe anzubieten, doch Córiel hielt ihn mit einem eindringlichen Blick davon ab. Sie mussten Faramirs Auftrag erfüllen und hatten keine Zeit für Ablenkungen.
"Wir wünschen Euch viel Erfolg bei der Suche, Veca," sagte Córiel reserviert. "Doch Ihr habt Recht - wir sollten weiterziehen."
"Sichere Wege," wünschte Jarbeorn der Frau, ehe er sich wieder in den Sattel schwang. Córiel tat es ihm gleich.

Der Nebel ließ schon bald nach und sie kamen in offeneres Gebiet. Die Hügelkette hatten sie hinter sich gelassen und auch die meisten Bäume waren verschwunden. Dunland war an dieser Stelle recht karg, doch in der Ferne sahen die Gefährten mehrere Dörfer. Das Land war trotz all seiner Widrigkeiten bewohnt. Sie verließen die Straße und schlugen einen weiten Bogen um alle Dörfer, und Córiel versteckte ihre Elbenohren unter der Kapuze ihres blauen Umhangs. Sie hatten beschlossen, den Dunländern bis auf weiteres aus dem Weg zu gehen und sie nicht zu provozieren.
Als es Nacht geworden war, rasteten sie in einem kleinen Wäldchen, wagten jedoch kein Feuer zu entzünden. Sie hatten aus Rohan ausreichend Vorräte für drei Wochen mitgenommen, mussten sich also im Augenblick keine Sorge um Nahrungsbeschaffung machen.
Jarbeorn war schon bald eingeschlafen, doch Córiel lag noch eine ganze Weile wach und dachte über die Ereignisse der letzten Tage nach. Sie hasste ruhige Tage wie diese. Die Anspannung, die sie beim Treffen mit der merkwürdigen Veca verspürt hatte, hatte Córiels Kampfeslust erneut verstärkt, und sie spürte, dass sie mehr und mehr an ihre Grenze kam. Vielleicht könnten ein paar Übungskämpfe mit Jarbeorn für eine Zeit lang ausreichen, dachte sie, doch sie wusste, dass damit auf Dauer keine Abhilfe geschaffen war. Wenn sie nicht bald das Blut ihrer Feinde vergoss, würde es ihr schlecht ergehen...

Am folgenden Morgen war Córiel früh auf den Beinen. Sie hatte nicht sonderlich gut geschlafen, konnte sich aber nicht daran erinnern, geträumt zu haben. Jarbeorn streckte sich träge und grinste breit, als er die hell am Himmel stehende Sonne sah.
"Sieht ganz so aus, als wäre uns das Wetter heute wohlgesonnen, Stikke," sagte er gut gelaunt.
"Gestern ging die Sonne ebenso hell auf, schon vergessen? Und dann kam dieser elendige Nebel."
"Heute nicht. Das spüre ich."
"Ach wirklich? Und den Nebel hast du nicht gespürt?"
"Oho, ist da jemand mit dem falschen Fuß aufgestanden?" Jarbeorn war schon wieder unerträglich gut gelaunt und seine Neckereien machten das Ganze nicht wirklich besser.
"Halt den Mund und mach dich aufbruchsbereit." Sie hielt sich die Ohren zu, damit sie seine schadenfrohe Erwiderung nicht hören konnte, und packte ihre Sachen zusammen.

Sie schlugen einen Weg in nordwestlicher Richtung ein. Zu ihrer Rechten ragten in der Ferne die südlichsten Gipfel des Nebelgebirges empor und boten sich ihnen als Orientierungspunkt an. Die Landschaft veränderte sich kaum: Sie durchquerten eine breite Ebene, bewachsen von braunen und grünen Gräsern und übersät mit größeren und kleineren Felsen. Kein gutes Land für Ackerbau, wie Córiel feststellte.
Am Mittag geschah etwas, das den langen, ereignislosen Ritt jäh beendete. Córiel und Jarbeorn umrundeten gerade einen besonders großen, aufrecht stehenden Felsen, als sie sich unversehens von einer großen Horde von Dunländern umringt sahen. Córiel verfluchte sich innerlich dafür, dass sie sich von der Ereignislosigkeit der Reise dazu hatte verleiten lassen, die Wachsamkeit aufzugeben. Wäre sie vollständig aufmerksam gewesen, hätte sie den Hinterhalt vielleicht rechtzeitig bemerkt. Denn es handelte sich eindeutig um einen Hinterhalt - die Dunländer hatten auf sie gewartet und ihnen eine Falle gestellt.
Einer trat aus dem Kreis hervor, der sich um die beiden Gefährten geschlossen hatte. Sein Umhang war von einem breiten Pelzkragen gekrönt und sein Bart war dicht und buschig. Córiel vermutete, dass es sich bei ihm um einen Häuptling handelte. Ihr fiel auf, dass auf seinem rechten Unterarm zwei gekreuzte Messer tätowiert waren.
"So," sagte der Häuptling drohend. "Und wen haben wir hier? Zwei Spatzen, die sich zum weit von ihrem Nest entfernt haben."
Jarbeorn hob beschwichtigend die leere Hand. "Wir sind nur auf der Durchreise und wollen keinen Ärger."
Der Häuptling umrundete Córiels Pferd und riss mit einer ruckartigen Bewegung an ihrem Umhang. Als die Kapuze von ihrem Kopf rutschte, wurden Córiels spitze Ohren sichtbar, und ein Raunen ging durch die Menge. "Elben ist nicht zu trauen! Was habt ihr in Dunland zum schaffen? Sprecht schnell, ehe wir die Messer sprechen lassen," drohte der Häuptling und erntete zustimmende Rufe seiner Leute.
"Er hat die Wahrheit gesagt," presste Córiel zwischen ihren Zähnen hervor. "Wir sind nur auf der Durchreise."
"Ich glaube dir kein Wort, Elbenweib," knurrte der Häuptling. "Sicherlich seid ihr Spione der Königin im Norden. Und Yven, Sohn des Yven, ist wahrlich nicht gut auf Ihre Majestät zu sprechen!"
Seine Männer lachten, doch Häuptling Yven blieb grimmig. "Runter von den Pferden mit ihnen! Durchsucht sie, und nehmt ihnen die Waffen ab!" befahl er.
Córiel packte ihren Speer. Ohne einen Kampf würde sie sich nicht gefangennehmen lassen. Doch die Dunländer zählten mindestens drei Dutzend Mann. Der Kampf würde nicht lange dauern. Immerhin würde sie so sterben, wie sie gelebt hatte...
Etwas sirrte und einer der Dunländer schrie vor Schmerz auf. Ein Pfeil ragte aus seinem Rücken. Von fern war ein Hornstoß zu hören, und weitere Pfeile rauschten heran. Córiel und Jarbeorn zögerten nicht länger und sprangen mit gezogenen Waffen vom Rücken ihrer Pferde mitten unter die verdutzten Dunländer. Ein wildes Gefecht entbrannte. Córiel wirbelte um die eigene Achse und fegte mehreren Männern die Beine weg, ehe sie sie mit raschen Speerstichen außer Gefecht setzte. Rücken an Rücken mit ihr kämpfe Jarbeorn, dessen Großaxt eine blutige Schneise schlug. Und jetzt trafen jene ein, die die Pfeile abgefeuert hatten: Noch mehr Dunländer, die Yvens Gruppe offenbar feindlich gesinnt waren. Sie führten ein Banner mit sich, auf dem ein großer weißer Wolf im vollen Lauf zu sehen war.

Schon wenige Minuten später war bereits alles vorbei. Die meisten feindlichen Dunländer lagen tot am Boden oder hatten sich ergeben. Einige hatten es geschafft, zu entkommen, darunter zu Córiels Ärger auch Häuptling Yven. Doch sie fühlte sich viel besser als in den letzten Tagen. Ihr Blutdurst war gestillt worden... für den Moment.
Der Anführer der zweiten Gruppe von Dunländern trat auf sie zu. Er war jung, und trug den Pelz eines weißen Wolfes als Kopfbedeckung. Seine Männer machten keine Anstalten, Córiel und Jarbeorn anzugreifen.
"Habt Dank, dass ihr unsere Feinde aufgehalten habt. Mein Name ist Aéd Forathssohn... Wolfskönig der Dunländer."
Jarbeorn machte eine respektvolle Geste, indem er seinen rechten Arm gegen die Brust schlug. Córiel hingeben blieb stehen und musterte den Wolfskönig aufmerksam.
"Wir waren zufällig in der Gegend," meinte Jarbeorn mit einem schiefen Grinsen. "Selbstverständlich haben wir gerne geholfen."
"Wer waren diese Wilden?" wollte Córiel wissen.
Aéd seufzte. "Das, was vom Stamm des Messers und seinen Verbündeten noch übrig ist. Yven, dieser Sturkopf, führt sie an. Ich wünschte, er wäre nicht entkommen. Sie sind die letzten, die in Dunland noch Saruman folgen, seitdem der Krieg vorbei ist."
"Wir hörten davon," sagte Jarbeorn. "Wir kommen im Auftrag Rohans, um herauszufinden, was in Dunland vor sich geht. Mein Name ist Jarbeorn, Sohn des Grimbeorn, und dies ist Córiel von den Noldor, meine treue Gefährtin."
"Also dient ihr nicht der Königin der Avari?" fragte Aéd. "Nun, ich muss sagen, das ist eine Überraschung. Ich habe schon lange keine Nachrichten mehr aus Rohan erhalten. Doch lasst mich euch eines sagen: Ich bin kein Feind der Rohirrim. Sondern strebe ein Bündnis mit Aldburg an."
Jarbeorn nickte zufrieden. "Das ist mehr, als wir uns erhofft haben."
Aéd machte eine einladende Geste. "Meine Männer werden Yven weiter verfolgen. Begleitet mich in eines der nahe gelegenen Dörfer; dort können wir uns in Ruhe unterhalten und ihr könnt eure Vorräte aufstocken. Ich werde euch alle Fragen beantworten, die ihr oder eure Herren haben - vorausgesetzt, ihr beantwortet mir ebenfalls einige."
Jarbeorn und Córiel tauschten einen raschen Blick aus, doch schließlich nickte die Hochelbin. Sie hatte ein gutes Gefühl bei Aéd, auch wenn sie ihn später gründlich prüfen würde. Doch für den Augenblick würde Vertrauen ausreichen müssen. "Wir werden mit Euch kommen, Wolfskönig."

Fine:
Es war nicht weit bis zu dem Dorf, von dem Aéd gesprochen hatte. Zwei Dutzend seiner Krieger begleiteten den Wolfskönig, der Córiel und Jarbeorn unterwegs berichtete, dass sie Häuptling Yven bereits seit mehreren Wochen jagten. Doch bislang hatte sich der Anführer der letzten Reste des Stammes des Messers jeglichem Zugriff entzogen.
Das Dorf wurde von Dunländern vom Stamm des Stabes bewohnt und war größer, als Córiel erwartet hatte. Aéd führte sie zum Haus des dort lebenden Häuptlings, den er ihnen schon bald vorstellte. Corgan vom Stamm des Stabes war einer der wichtigsten Unterstützer Aéds bei der Wahl zum Wolfskönig gewesen, wie er ihnen gleich nach seiner Begrüßung erzählte.
Nachdem Córiel und Jarbeorn ihre Pferde außerhalb des Hauses angebunden hatten, lud man sie ein, für den Abend als Gäste des Wolfskönigs an seiner Tafel zu speisen. Jarbeorn rieb sich vor Freude die Hände, und auch Córiel hatte nichts gegen ein reichhaltiges Abendessen.
"Eigentlich sollte dies das Festmahl sein, mit dem wir den endgültigen Sieg über Yven und den Stamm des Messers feiern wollten," erklärte Aéd während dem Essen. "Doch da er uns nun erneut entwischt ist, müssen wir das Fest verschieben." Außer Aéd und Corgan nahmen nur drei weitere Dunländer an dem Mahl teil, und sie verwendeten nur einen der kleineren Räume in Corgans Häuptlingssitz für das Abendessen. Es gab genug zu Essen; hauptsächlich einfache Kost, was Córiel jedoch nicht störte. Sie beteiligte sich nicht allzu sehr an den Tischgesprächen, denn sie ging davon aus, dass alle wichtigen Dinge mit dem Wolfskönig nach dem Ende des Mahls besprochen werden würden.
Sie sollte Recht behalten. Aéd stellte Córiel und Jarbeorn keine Fragen, bis alle fertig gegessen hatten. Der Wolfskönig leerte sein Trinkhorn und suchte zunächst Jarbeorns Blick.
"Ihr seht aus, als stammtet Ihr von Helm Hammerhand ab, Freund Jarbeorn," sagte er abschätzend. "Aus welchem Teil Rohans kommt Ihr, wenn Ihr mir die Frage gestattet?"
"Aus gar keinem," antwortete der Beorninger mit einem breiten Grinsen. "Mein Volk und ich stammen aus dem Tal des Anduin, bis es dort zu gefährlich wurde. Seit dem Fall des Goldenen Waldes leben wir im Firienwald in der Ostfold."
"Verzeiht - ich hielt Euch für einen der Rohirrim," sagte Aéd entschuldigend.
Jarbeorn winkte ab. "Mein Vater sagte mir, dass seine Ahnen über einige Ecken mit den Vorfahren des Volkes von Rohan verwandt seien. Ihr liegt also vielleicht gar nicht so falsch. Aber jetzt verratet mir eines: Was hat es mit dem Titel "Wolfskönig" auf sich? Ich habe Euren Kopfschmuck gesehen, ziemlich beeindruckend. Hat jeder Wolfskönig ihn getragen?"
"Nein," antwortete Aéd. "Ich habe den Wolf selbst erlegt, dessen Pelz ich nun trage, lange bevor ich König über die Stämme Dunlands wurde. Ich schätze, das ist in meinem Fall einfach ein günstiger Zufall. Es kommt nicht allzu oft vor, dass sich die sieben Stämme Dunlands unter einem einzigen Herren vereinen," erklärte er dann. "Geschieht das, wird dieser Herrscher als Wolfsfürst oder Wolfskönig bezeichnet. Der Legende nach war es nämlich ein Mann, der einen großen Wolf gezähmt hatte, dem die Vereinigung Dunlands als Erstem gelang, lange bevor die Söhne Eorls aus dem Norden geritten kamen. Seitdem haben viele Wolfskönige die Nachfolge dieses Mannes angetreten, und jetzt bin ich an der Reihe."
"Und was für ein König plant Ihr zu sein?" warf Córiel ein. "Stimmt es, dass Ihr Frieden mit Rohan schließen möchtet? Ich nehme an, dass das vielen aus Eurem Volk nicht sonderlich gefällt?"
Aéd wählte seine Worte sorgfältig, als er antwortete: "Es sind mehr Menschen damit zufrieden, als Ihr glaubt, und mehr als ich zu hoffen wagte. Der Großteil der Dunländer ist erschöpft von den vielen Kriegen, die wir in den letzten Jahren geführt haben, stets für fremde Herren. Mein Vater hat alles dafür geopfert, damit Dunland endlich frei ist und damit wir selbst entscheiden können, wer über uns herrscht. Außerdem bin ich der festen Überzeugung, dass alle Menschen in diesen dunklen Zeiten gegen den Schatten Saurons vereint stehen müssen, wenn sie überleben wollen."
Córiel sah dem jungen König an, dass er ernst meinte. Sie nickte anerkennend, denn sie erkannte einen mutigen Entschluss, wenn sie einen sah. "Also habt Ihr den Krieg in Dunland zu Euren Gunsten entscheiden können," stellte sie fest.
"Das habe ich," bestätigte Aéd. "Doch der Preis war hoch. Mein Volk und mein Land bluteten. Mein Vater gab sein Leben. Ich werde sein Opfer und das Opfer meines Volkes nicht vergeuden."
Jarbeorn schlug bekräftigend mit der Faust auf den Tisch. "Ha! Gute Entscheidung! Ich mag ihn, Stikke," fügte er an Córiel gewandt hinzu.

Aéd begann nun, ihnen Fragen über Rohan und über ihren Auftrag zu stellen, und berichtete ihnen im Gegenzug in allen Einzelheiten von dem Krieg, der unter den Stämmen Dunlands getobt hatte. Die Hälfte der Stämme war auf der Seite der Weißen Hand Sarumans gestanden und die andere Hälfte war Aéds Vater Forath gefolgt. Foraths Anhänger hatten nach mehreren gewonnenen Schlachten schließlich bei der Eroberung Tharbads die Oberhand gewonnen.
"Werdet ihr beiden nun nach Rohan zurückkehren?" fragte Aéd. "Da ihr nun ja erfahren habt, was in Dunland vor sich geht."
"Noch ist unser Auftrag nicht erfüllt, sondern nur teilweise," entgegnete Córiel. "Wir sind auf der Suche nach Elben, die vor einigen Monaten durch die Pforte von Rohan nach Norden zogen."
"Elben," wiederholte Aéd. "Nun, in letzter Zeit hatten wir hin und wieder mit einer großen Gruppe von Elben zu tun. Mehrere große Schiffe fuhren während der letzten Schlacht um Tharbad den Gwathló-Fluss hinauf und trugen ihre Besatzung bis nach Eregion. Wenn ich die Elben richtig verstanden habe, stammen sie aus einem Inselreich im fernen Westen. Doch es gibt noch eine zweite Gruppe, die hingegen aus dem Osten Mittelerdes gekommen ist. Beide haben sich in Eregion versammelt, und ihre Königin hat mit dem Wiederaufbau der Ruinenstadt in der Nähe des Schwanenfleets begonnen."
Jarbeorn warf Córiel einen fragenden Blick zu, doch sie musste ihn enttäuschen. "Ich habe noch nichts von diesen Elben gehört," sagte sie wahrheitsgemäß. "Und ich habe nichts mit ihnen zu tun. Wie ich bereits sagte, sind Jarbeorn und ich im Auftrag der Herrscher von Rohan hier."
"Nun, dann richtet ihnen aus, dass sie von mir keine Bedrohung zu fürchten haben, wenn ihr zu ihnen zurückkehrt."
"Ich glaube, ihr wäret besser damit beraten, einen eigenen Boten zu entsenden," meinte Córiel. "Ich weiß nicht, wie lange wir zur Erfüllung unseres Auftrags noch benötigen werden."
"Vielleicht," überlegte Aéd. "Doch werden die Rohirrim einem Boten der Dunländer trauen?"
"Wenn er ein Geleitschreiben von Heermeister Faramir trägt vielleicht schon," sagte Córiel und zog die Schriftrolle hervor, die Faramir ihr in Aldburg gegeben hatte. "Ich werde eine Erklärung hinzufügen, damit die Grenzwachen nicht annehmen, dass ich getötet wurde und mir das Schreiben abgenommen wurde. Habt Ihr Feder und Tinte?"
Aéd ließ das Gewünschte herbeibringen und Córiel fasste in geschwungener Elbenschrift rasch das Geschehene zusammen. Zuletzt presste sie den Ring ihres Hauses in das warme, weiche Wachs einer der Kerzen, die auf dem Tisch standen, und versiegelte das Schreiben damit. "So - das sollte als Beweis ausreichen."
"Hoffen wir es," meinte Aéd und überreichte die Schriftrolle einem seiner Männer, der damit den Raum verließ.

Aéd war ein freundlicher Gastgeber, der noch viele Fragen zu den Ereignissen in Rohan und in der Welt jenseits davon hatte. Córiel erzählte ihm bereitwillig von Glorfindels und Erkenbrands Feldzug gegen Dol Guldur, und von dem zeitweiligen Bündnis, das die Rohirrim mit Saruman gehabt hatten. Aéd schien ebenso froh zu sein wie Jarbeorn und Córiel es waren, dass das Bündnis nun gebrochen worden war.
Als es spät geworden war, hatte sich das Gespräch bereits in viele unterschiedliche Richtungen entwickelt. Córiel war gerade dabei, von ihrer und Jarbeorns bisherigen Reise zu berichten, als ihr etwas einfiel.
"Wir trafen unterwegs jemanden, der nicht sonderlich gut auf Euch zu sprechen war und Euch beschuldigte, sich mit einer Hure aus Rohan eingelassen zu haben. Was hat es damit auf sich, wenn Ihr die Frage gestattet?"
Aéds Blick wurde hart. "Sie ist keine Hure," rief er. "Es stimmt, dass sie aus Rohan stammt, aber ich werde nicht zulassen, dass so über sie geredet wird. Wer war es, dem ihr begegnet seid?"
"Eine merkwürdige Frau, die sich Veca nannte," antwortete Jarbeorn. "Ich hatte das Gefühl, sie sei nicht ganz richtig im Kopf."
"Veca," stöhnte Aéd auf. "Auch das noch. Diese Frau macht seit einigen Wochen nichts als Ärger. Als ob ich nicht mit der Jagd auf Yven genug Ärger am Hals hätte..."
"Wie meint Ihr das?" fragte Córiel neugierig.
"Sie hetzt das Volk gegen mich auf und verbreitet Unwillen unter der Bevölkerung," erklärte Aéd. "Ich vermute, dass sie eine Dienerin Sarumans ist, wie auch Yven. Gesehen habe ich sie selbst noch nie... sie verschwindet schneller, als ein Tropfen Wasser in einen Teich fällt. Und taucht ebenso rasch am anderen Ende Dunlands wieder auf."
"Das klingt gar nicht gut," meinte Jarbeorn. "Wie ist die momentane Stimmung in den Stämmen?"
"Die, die mit meinem Vater gegen die weiße Hand gekämpft haben, sind mir größtenteils treu," antwortete Aéd. "Doch bei den übrigen Stämmen gibt es einige Schwierigkeiten. Noch ist es nichts, was ich nicht im Griff hätte, aber... lange kann das nicht mehr so weitergehen. Ich habe mir bei diesen Stämmen damit keine Freunde gemacht, dass ich offen über ein Bündnis mit Rohan nachgedacht habe und dass ich gute Beziehungen zu den Elben in Eregion pflege."
"Und dass ihr eine rohirrische Geliebte habt, macht es wohl nicht gerade besser," ergänzte Córiel.
"Sie ist es wert," sagte Aéd, und man sah ihm an, dass er es ernst meinte. "Doch im Augenblick ist sie weit weg."

Es wurde still in dem kleinen Raum. Córiel fiel auf, dass sie nur noch zu fünft waren: Jarbeorn, der Wolfskönig, sie selbst, und zwei dunländische Krieger. Der dritte Mann war mit der Botschaft Aéds nach Rohan aufgebrochen. Einer der Männer stand gerade auf und zog die Türe nach draußen zu, durch die ein kalter Luftzug gedrungen war. Er trug einen ledernen Helm, der Ohren und Nacken bedeckte.
Ein ungutes Gefühl breitete sich in Córiels Magengrube aus. Doch ehe sie etwas sagen oder tun konnte, zuckte die linke Hand des Mannes zweimal, und Aéd und der dritte Dunländer keuchten getroffen auf. Beide sackten in ihren Stühlen zusammen. Wurfmesser hatten sich tief in Aéds Brust gebohrt. Sein Stuhl kippte um und der junge Wolfskönig fiel regungslos zu Boden.
Jarbeorn sprang auf, den schweren Tisch mit seiner enormen Kraft beiseite schleudernd. Seine Axt hatte er draußen gelassen, doch seine Fäuste waren beinahe ebenso eindrucksvoll und gefährlich. Doch der verräterische Dunländer war schnell und geschickt, und wich sämtllichen Hieben aus, mit denen der Beorninger versuchte, ihn niederzuschlagen. Und der Mann ging sogar noch einen Schritt weiter, indem er einen mächtigen rechten Haken Jarbeorns mit einer raschen Körpertäuschung ins Leere laufen ließ, unter dem Fausthieb von Jarbeorns Linker hinwegtauchte, und dem Beorninger dann in rascher Folge beide Ellenbogen unter das Kinn rammte. Schwer getroffen stürzte Jarbeorn wie ein großer Baum der Länge nach hin.
Córiel gab dem Attentäter keine Gelegenheit, ihren Gefährten zu erledigen. Sie riss den verborgenen Dolch hervor, den sie versteckt an ihrer Seite trug und sprang mit einem Kriegssschrei über den umgekippten Tisch. Ihr auf sein Gesicht gezielter Tritt ging ins Leere, denn der Mann war erneut ausgewichen. Von draußen war Aufruhr zu hören, doch offenbar hatte der Verräter die Türe sorgfältig verschlossen, ehe er seinen Angriff begonnen hatte. Es wird keine Hilfe kommen, dachte Córiel. Nur du und ich also. Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, trotz der Lage, in der sie sich befand. Sie konnte das tun, was sie am liebsten tat: zu kämpfen.
Die Hochelbin ließ den Dolch locker in ihrer Hand kreisen und bewegte sich vorsichtig im Uhrzeigersinn um ihren Feind herum, der ihr jeden ihrer Schritte ihr gegenüber gleichtat. Auch er hatte nun ein Messer gezogen. Auf seinem Gesicht, das teilweise von einem Schal aus dickem Pelz verborgen war, spiegelte sich keinerlei Furcht. Und dann, ohne Vorwarnung, ging er zum Angriff über.
Er war schnell - viel schneller, als Córiel erwartet hatte, obwohl sie bereits gesehen hatte, wie rasch er Jarbeorns Hieben ausgewichen war. Nur mit größter Not und dank ihrer langjährigen Erfahrung gelang es ihr, den Dolchstoß abzufangen, der ihr beide Augen genommen hätte wenn sie ihn nicht mit ihrer eigenen Klinge pariert hätte. Sie drehte sich mit großer Geschwindigkeit weg und ließ aus der Drehung einen tief angesetzten Tritt folgen, der ihrem Feind die Beine wegfegen sollte. Doch mit beinahe schon lässiger Einfachkeit sprang dieser über Córiels Angriff hinweg, rollte sich ab und ging direkt wieder in Angriffsposition. Zwei blitzschnelle Stiche ließen Córiel vor Schmerz aufkeuchen, und ihre Oberarme färbten sich rot. Die Schnitte waren nicht tief, aber sie bluteten stark. Sie zwang sich dazu, die Schmerzen zu ignorieren und ging ihrerseits zum Angriff über. Obwohl sie die Reichweite ihres Speeres vermisste, gelang es ihr nun endlich, einen Treffer zu landen und dem verräterischen Dunländer eine Wunde unterhalb der Rippen beizubringen. Als sie versuchte, die Situation zu ihrem Vorteil zu nutzen und einen tödlichen Hieb gegen sein Gesicht zu führen, drehte er sich mit unglaublicher Geschwindigkeit weg, schlug ihr mit der flachen Hand auf den Unterarm, sodass sie die Waffe fallen lassen musste, und traf sie mit dem Griff seines Dolches an der Schläfe - ein Treffer, der Córiel benommen zu Boden schickte.
Ihr Feind schien keine Zeit verschwenden zu wollen. Verschwommen sah sie noch, wie sich seine drohende Gestalt über sie beugte, den Dolch zum Todesstoß erhoben. Und während sie ihre Kräfte verließen, bäumte sie sich ein letztes Mal auf, und trat mit aller verbliebenen Wucht, die sie noch aufbrachte, in seine Leistengegend.
Der Dunländer brach getroffen zusammen und gab einen hohen, wimmernden Laut von sich. Córiel bekam von irgendwoher sein Messer zu fassen, rang sich auf die Knie hoch - und stach es ihm bis zum Anschlag in den Hals, ehe sie zu Tode erschöpft auf seiner Brust liegenblieb.

"Komm schon, Stikke," sagte Jarbeorns Stimme, die wie von fern an Córiels Ohr drang. "Willst du wirklich so enden? Ich weiß, dass noch Leben in dir steckt." Seine Stimme war beinahe flehend geworden.
Córiel riss die Augen auf. Der Beorninger kniete neben der Leiche des Verräters, von der sich Córiel nun mühsam herunter rollte. Jarbeorn stützte sie und half ihr, sich auf einen der Stühle zu hieven.
"Wie schön, dass du wieder kampffähig bist," presste Córiel mühsam hervor. Jarbeorn hatte einen großen Bluterguss am Kinn, schien aber ansonsten unverletzt zu sein.
Im hinteren Teil des Raumes regte sich etwas. Ein schmerzvolles Ächzen erklang, als sich Aéd aufrichtete. Jarbeorn und Córiel betrachteten den Wolfskönig mit staunenden Blicken, denn sie hatten ihn für tot gehalten. "Ich habe durch irgendetwas das Gleichgewicht verloren und bin gestürzt," erklärte Aéd und fasste sich an den Hinterkopf. Anscheinend waren die Wurfmesser nicht durch seinen Brustpanzer gedrungen sondern darin stecken geblieben und bei seinem Sturz abgefallen. "Offenbar habe ich das Bewusstsein verloren, als ich auf dem Boden aufschlug. Was... was ist hier geschehen?"
"Ihr hattet einen Verräter in Euren Reihen," stellte Jarbeorn klar und wies auf die Leiche, unter der sich eine Blutlache bildete. "Córiel hat ihn getötet."
Aéds Gesichtausdruck war voller Unglauben. "Ich kenne diesen Mann nicht," sagte er. "Ich verstehe nicht, wie er hierher gekommen ist."
"Er war unglaublich schnell," murmelte Córiel und beugte sich über den Toten, der zu ihren Füßen lag. Vorsichtig zog sie ihm den Helm vom Kopf - und erstarrte. Unter dem schützenden Leder, das am unteren Rand des Helmes angebracht war, kamen zwei spitze Elbenohren zum Vorschein.
"Die Angelegenheit ist gerade richtig kompliziert geworden" stieß Jarbeorn geschockt hervor.

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