Córiel, Jarbeorn und Vaicenya aus dem Fürstentum DervesalendSchnee fiel in winzigen Flocken vom weißen Himmel herab, der sich über ihren Köpfen in schier endloser Weite erstreckte. Noch war es dem weißen Kleid des Winters nicht gelungen, die Lande zu beiden Seite des Flusses Tajnik unangefochten zu bedecken, doch hier und da hatte der Schnee bereits Fuß gefasst und sprenkelte die Landschaft mit hellen Flecken. Die Bäume hatten ihre Blätter längst verloren und boten dem Schnee daher nichts als ihre kahlen Äste als Liegefläche. Das bräunliche Gras und die Felsen, die eine eigenartige rötliche Färbung aufwiesen, schienen zum Großteil noch zu warm zu sein, um das sofortige Schmelzen der Schneeflocken zu verhindern. Doch dass es schneite, machte Córiel eindeutig klar, dass der Winter nahte.
Seit ihrem Aufbruch aus der Stadt Dervogord hatten sie dem Verlauf des Flusses in nordöstlicher Richtung ohne große Schwierigkeiten folgen können. Obwohl die kleine Straße, die entlang des östlichen Ufers des Flusses verlaufen war, nach einem Tagesritt abrupt geendet hatte, war das Gelände zu Pferde dennoch leicht zu überqueren gewesen und sie waren gut voran gekommen. Der Fluss war zunächst in nahezu gerader Linie nach Nordwesten durch eine flache Ebene verlaufen, in der nur wenig Vegetation gewachsen war. Je weiter die Reisegruppe jedoch nach Nordosten gekommen war, desto mehr Bäume waren zu sehen gewesen und der Fluss hatte begonnen, in kleinen Biegungen zu verlaufen. Er war inzwischen nicht mehr als zehn Meter breit und an den meisten Stellen so seicht, dass die Pferde ihn jederzeit hätten überqueren können. Rechter Hand war seit einigen Tagen eine Gebirgskette am Horizont erschienen und es war immer kälter geworden. Alle drei Gefährten trugen inzwischen dicke Pelzmäntel, die sie unterwegs von einem einsamen Fallensteller erworben hatten. Ihr Atem war bei jedem Luftholen sichtbar und die Tatsache, dass es schneite, macht es nur umso deutlicher, dass der eisige Norden mit jedem Schritt, den sie taten, näher rückte.
Fünf Tage nachdem sie Dervogord verlassen hatten rasteten sie an einem kiesigen Strand am Flussufer. Es war früher Nachmittag und ein karges Mittagessen lag hinter ihnen, das aus den mitgebrachten Vorräten bestanden hatte. Die Natur rings um sie bot ihnen nur wenig an, mit dem sich ihre Nahrungsvorräte ergänzen ließen.
Vaicenya stand etwas abseits der Gruppe und betrachtete nachdenklichem Gesichtsausdruck einen der Felsen, der aus dem Gras ragte und auf dem sich eine kleine Ansammlung von hartnäckigen Schneeflocken zu sammeln begonnen hatte. Nach einem langen Augenblick hob die Dunkelelbin den Blick und ließ ihn in die Ferne schweifen. Nach Osten hin, wo die gewaltige Gebirgskette am Horizont aufragte.
„Ich weiß, wo wir sind,“ murmelte sie. „
Dalvarinan...“
Der Name weckte in Córiel eine Erinnerung Melvendës, die einst gewusst hatte, dass es einen Ort mit dieser Bezeichnung gegeben hatte. In einem längst vergangenen Zeitalter hatten die ersten Elben das Gebiet rings um ihren Heimatwaldes Dalvarinan genannt. Es war ein beliebter Ort gewesen, um entlang der klaren Wasser des Flusses über die Wiesen zu schlendern und sich nachts am unverhüllten Anblick der Sterne zu erfreuen. Melvendë selbst hatte eine solche Reise nur ein einziges Mal unternommen.
Córiel stellte sich neben Vaicenya. „Wenn dies Dalvarinan ist, dann haben wir das Land Palisor erreicht, und die Berge dort am Horizont müssten das große Massiv darstellen, das einst an Ostrand des Elbenwaldes grenzte und unsere Heimat von den Stämmen auf der anderen Seite trennte.“
„Die Orocarni nannten wir sie, und diesen Namen tragen sie bei vielen Völkern noch heute,“ sagte Vaicenya. „Dann sind wir nahe an unserem Ziel. Ich spüre es deutlich.“
„Eins verstehe ich nicht,“ sagte Jarbeorn, der im Schneidersitz auf einer leichten Decke hockte. „Wieso ist es überhaupt so schwer, den Ort zu finden, an dem Níthrar sich aufhält? Wenn es einst eure Heimat war, solltet ihr doch eigentlich ganz genau wissen, wo er liegt, oder etwa nicht?“
„Viel hat sich seit den Altvorderen Tagen verändert. Eine Zeitspanne ist seither vergangen, die über deinen Verstand hinaus geht. Die Welt ist eine andere geworden. Sie wurde in den Kriegen der Valar zerbrochen und neu geformt. Täler und Flussläufe haben sich verschoben und Berge sind versetzt worden. Nachdem die Hälfte meines Volkes auf die Große Wanderung nach Westen ging, regte sich auch unter jenen, die in ihrer Heimat blieben, die Sehnsucht, neue Länder zu erforschen. Und als wir hörten, dass der Schatten besiegt worden sei, hielt uns nichts mehr davon ab, den Wald und die Wasser unseres Erwachens hinter uns zu lassen. Wenn ich daran zurückdenke, kommt es mir seltsam vor, dass es dazu kommen konnte, dass nahezu alle Elben Cúivienen verlassen haben, aus welchen Gründen auch immer.“
„Und du selbst? Weshalb bist du gegangen?“ fragte Córiel leise.
Vaicenyas Blick blieb an Córiels Augen hängen und sie schwieg für einen langen Moment. Dann seufzte sie tief. „Nachdem du...
gefallen warst, hatte sich für mich alles verändert. Tarásanë habe ich mit meinem Zorn auf die Welt vertrieben; sie verschwand nicht lange nach der Großen Wanderung. Mir blieb niemand mehr. Das, was mich am Leben hielt, war der Kampf gegen die Kreaturen des Schattens, die ich jagte, wo immer ich sie fand. Nach der Niederlage ihres Herrn verkrochen die meisten von ihnen sich im hohen Norden, wo ich sie nicht erreichen konnte und meine Streifzüge der Rache wurden immer weitläufiger. Schließlich verließ ich als eine der letzten den Wald unserer einstigen Heimat, als ich von der Ankunft eines neuen Volkes im Osten hörte. So begegnete ich zum ersten Mal den Vorvätern der Menschen. Und ich sah, dass es unter ihnen einige gab, deren Herzen dem Schatten zugewendet waren. Also machte ich mich daran, diese Saat im Keim zu ersticken. Ich lebte über Jahrtausende an den Küsten des östlichen Meeres und scharte eine kleine Anzahl von Gleichgesinnten um mich. Zwar gab es unter ihnen niemals jemanden, der das ersetzen konnte, was wir einst geteilt hatten, aber... du musst verstehen, ich war in jenen Tagen trotz allem einsam. Ich dachte, einer von ihnen könnte das Loch in meinem Herzen füllen.“
Vaicenya starrte hinab ins Wasser des Flusses, der leise vor sich hin plätscherte. Für einen Augenblick hatte Córiel erwartet, die Dunkelelbin würde anfangen zu weinen, doch der flüchtige Augenblick verstrich so schnell wie er gekommen war. Ihr Blick verhärtete sich wieder und sie blieb stumm.
„Selbst ich weiß, dass eine funktionierende Beziehung Liebe braucht,“ meinte Jarbeorn. „Und darüber hinaus verstehe ich nicht, wie es dazu kommen konnte, dass du den Weg nach Hause einfach vergessen hast.“
„Jarbeorn...“ setzte Córiel an, doch Vaicenya war schneller.
„Hast du nicht zugehört, oder sind meine Worte an dem Fell in deinen Ohren abgeprallt? Ich sagte doch, die Welt hat sich seither verändert. Während ich am Ozean jenseits der Orocarni lebte, wurden weit im Westen die Kriege von Beleriand geschlagen. Mein Volk kämpfte dort tapfer gegen den Herrn der Schatten, der aus der Gefangenschaft der Valar geflohen war, und als man ihn endlich niederwarf, erzitterten Berge und Meere erneut. So gewaltig waren die Auswirkungen der finalen Schlacht, dass ganze Länder im Meer versanken und Gebirge und Täler verschoben wurden. Ich konnte den Weg nach Hause nicht mehr finden, weil er nicht mehr da war. Außerdem wollte ich es auch gar nicht. Dort gab es nichts mehr für mich.“
„Und was ist mit Níthrar? Wie... kam es dazu, dass du einen Sohn bekamst?“ fragte Córiel. Sie war sich bewusst, dass es vermutlich viel Zeit benötigen würde, Vaicenya noch einmal so zum Reden zu bekommen. Deshalb musste sie die Gelegenheit, die sich ihr gerade bot, einfach nutzen.
Vaicenyas Blick zeugte von Misstrauen, gepaart mit lange unterdrücktem Schmerz. „Wieso willst du das wissen?“ hakte die Dunkelelbin nach.
„Du sagtest doch, dass niemand aus deinem Gefolge dir geben konnte, was du suchtest. Und doch...“
„Und doch hast du doch offensichtlich entschlossen, einem von ihnen deinen ganz persönlichen Schatz zu zeigen.“ Jarbeorns Grinsen hätte wohl kaum mehr fehl am Platz sein können, und doch war es da. Córiel schlug die Hände vors Gesicht aufgrund seines kindischen Benehmens.
Anstatt zu explodieren nickte Vaicenya wider Erwarten jedoch nur. „Es gab gewisse...
lockere Umgangsformen unter jenen, die sich entschlossen hatten, mir zu folgen. Zu Beginn war es der Respekt, der die an mich gerichteten Anfragen abhielt, doch irgendwann machte ich ihnen klar, dass ich auch nur eine von ihnen war. Ich besaß zwar die Autorität, ihnen Befehle zu erteilen und sie im Kampf gegen die Diener des Schattens anzuführen, doch ich war trotz allem Teil der Gemeinschaft.“ Sie hielt inne und seufzte. „Ich weiß nicht, wer von ihnen Níthrars Vater ist. Es war mir damals egal. Und das ist es heute noch immer. Ich weiß nicht, wo meine einstigen Gefährten jetzt sind. Sie sind vom Zahn der Zeit in alle Winde verstreut worden. Ob Níthrars Vater überhaupt noch lebt, steht in den Sternen.“
„Wichtig ist, dass
dein Sohn noch am Leben ist,“ meinte Córiel aufmunternd. „Wir werden ihn schon bald gefunden haben; jetzt, wo wir wissen, dass wir auf dem richtigen Weg sind.“
Jarbeorn schien noch nicht fertig zu sein. „Was ist mit Saruman? Wie kam es, dass du dich ihm angeschlossen hast?“ fragte er geradeheraus.
„Ich stand nur zum Schein in seinem Dienst,“ antwortete Vaicenya. „Vor vielen Jahren kam der Zauberer in die Lande, die ich damals durchstreifte, nachdem Níthrar mich verlassen hatte. Dabei machte ich seine Bekanntschaft, doch ich dachte mir nicht viel dabei. Seine Absichten deckten sich nicht mit den meinen. Als er jedoch vor drei Jahren in den Osten zurückkehre und neue Verbündete um sich scharte, wurde ich aufmerksam. Eine Armee von Orks plante er aufzustellen, um sie gegen seine Feinde zu richten, zu denen auch Sauron gehört. Eine gute Gelegenheit bot sich.. zu gut, um sie ungenutzt zu lassen. Ich würde dafür sorgen, dass sich Sarumans Orks im Krieg gegen Saurons Orks verheizten und dass beide Seiten herbe Verluste hinnehmen würden.“
„Doch Saruman hat nicht nur Mordor angegriffen,“ wandte Jarbeorn ein. „Es ist seine Schuld, dass Lothlórien zerstört wurde.“
„Ich habe nichts dazu zu sagen,“ entgegnete Vaicenya. „Ich befand mich tief im Gebirge, um einige widerspenstige Orkstämme in den Dienst der Weißen Hand zu zwingen, als er den Goldenen Wald überfiel. Ich hätte ihm davon abgeraten, doch ich wusste, dass er bereits meine wahren Absichten erahnte. Also ließ ich mich für einige Zeit von ihm benutzen. Bis ich in Dunland eine Begegnung hatte, die alles veränderte.“ Sie blickte Córiel lange an, ehe sie den Blick senkte.
„Du hast mich zunächst nicht wiedererkannt, nicht wahr?“ stellte die Hochelbin fest.
„Natürlich nicht. Viele Zeitalter waren seit deinem Tod vergangen. Zu Anfang gab es oft Augenblicke, in denen ich glaubte, du wärest zurückgekehrt, wenn ich jemanden traf, der dir ähnlich sah. Doch jedes Mal wurden meine Hoffnungen enttäuscht. Erst bei unserer dritten Begegnung war die Asche in meinem Herzen wieder zu einem fahlen Funken geworden. Und so beschloss ich schließlich, dir deine Erinnerungen zurückzugeben.“
„Und das ist dir gelungen, auch wenn ich dir nicht dankbar dafür bin,“ antwortete Córiel leise. „Es ist noch immer schwierig für mich.“
Vaicenya schien darauf keine Antwort zu haben.
Als es Nacht geworden war, ritten sie noch einige Meilen weiter. Der Mond stand als schmale Sichel am Himmel über ihnen, und der Schneefall hatte sich verstärkt. Dicke Flocken sanken zu Boden, und nur wenige schmolzen sofort. Schon bald würde das Land von einer weißen Schicht bedeckt sein.
Vaicenya ritt mehrere Stunden schweigend am Ende der Gruppe. Als sie schließlich ihr Lager für die Nacht aufgeschlagen und gegen den Schneefall eine befehlsmäßige Schutzschicht aus Ästen und Laub errichtet hatten, gesellte sie sich schließlich zu Córiel, während Jarbeorn sich beinahe sofort schlafen legte. Der Beorninger war für die letzte Wachschicht eingeteilt worden.
„Ich weiß, dass wir auf dem richtigen Weg sind, aber wir müssen vorsichtig sein,“ wisperte die Dunkelelbin kaum hörbar. „Heute morgen noch war es kaum mehr als eine unheilvolle Ahnung, die meinen Geist belastete, doch inzwischen habe ich Gewissheit.“
„Worüber denn?“ fragte Córiel ebenso leise zurück.
„Wir sind nicht allein,“ stellte Vaicenya klar. „Jemand beobachtet uns, seitdem wir Dalvarinan betreten haben...“