Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Imladris
Elronds Haus
Eandril:
Oronêl aus den Gärten
Es war bereits früher Vormittag, als Oronêl auf den östlichen Söller von Elronds Haus hinaustrat. Dort begegnete er Celebithiel, die auf einer kleinen Bank in der Sonne saß und ihm mitteilte: "Die anderen sind im Haus. Finelleth ist bereits reisefertig, offenbar hat sie es eilig, nach Hause zu kommen."
"Den Eindruck hatte ich bislang nicht...", meinte Oronêl. Er hatte insgeheim gehofft, wenigstens ein paar Tage des Friedens in Imladris genießen zu können, doch er verstand Finelleths Eile - alleine schon, weil der Herbst voranschritt und es jeden Tag auf dem Hohen Pass schneien konnte. "Aber es ist ihre Entscheidung, wann wir aufbrechen, denn es ist ihre Reise."
"Das wird sie sicher zu schätzen wissen." Ein geradezu schelmisches Lächeln hatte sich auf Celebithiels Gesicht gestohlen - etwas, das höchst untypisch für sie war. "Kerry allerdings weniger, sie dürfte ein wenig... müde sein, nachdem was Arwen mir erzählt hat."
Oronêl beugte sich interessiert vor. "Tatsächlich? Erzähl mir mehr..."
Er betrat das Haus, und folgte dem Flur in eine kleine, sonnendurchflutete Halle. Dort saßen Kerry und Finelleth an einem langgezogenen Tisch, Finelleth bereits vollkommen gerüstet und Kerry frühstückend.
Als Oronêl in den Raum trat, hob Finelleth den Blick und sagte: "Ich finde, wir sollten sobald wie möglich aufbrechen, bevor der Pass zuschneit. Jeder Tag den wir hier warten, macht die Gefahr größer."
"Es ist deine Entscheidung", erwiderte Oronêl, und ließ sich ihr gegenüber neben Kerry auf der langen Bank nieder. "Ich denke, wir könnten gegen Mittag aufbrechen und vor Einbruch der Nacht noch ein paar Meilen zurücklegen."
Neben ihm unterdrückte Kerry zwischen zwei Bissen ein Gähnen, und Oronêl warf ihr einen möglichst unschuldigen Seitenblick zu. "Du wirkst ein wenig müde, liebe Kerry. Wie kommt das?"
"Ich, äh... habe schlecht geschlafen. Träume und so", erwiderte sie ablenkend, und heftete den Blick konzentriert auf ihren Teller. Oronêl wechselte einen raschen Blick mit Finelleth, die das Kinn in die Hände stützte und sich offensichtlich darauf einstellte, das Schauspiel zu genießen.
"Hm", machte Oronêl. "Und ich dachte, in Bruchtal hätte man schöne Träume... bist du sicher, dass dein Schlaf nicht eher gestört wurde?"
Kerry hob den Blick von ihrem Teller, die Augenbrauen misstrauisch zusammengezogen. "Bist du etwa Ardan begegnet?" Oronêl schüttelte den Kopf, unsicher, wen sie mit Ardan meinen konnte. Vermutlich einen ihrer Freunde unter den Dúnedain, der hier war. "Nein... aber Celebithiel, die eine hochinteressante Geschichte von Arwen gehört hat. Offenbar ist es sehr schwierig, hier das richtige Bett zu finden..."
Finelleth zog interessiert eine Augenbraue in die Höhe, und Kerry errötete - allerdings nicht nur verlegen, sondern auch ganz und gar nicht amüsiert. "Wie kommt es, dass ihr Elben so unerträgliche... Klatschtanten seid?"
Oronêl wich, gespielt verletzt, ein Stück zurück. "Klatschtanten? Das verletzt mich, Kerry."
Finelleth, deren Augen funkelten, ergänzte: "Also wirklich. Das war ganz und gar nicht höflich."
Kerry schnaubte verächtlich. "Ja ja, spielt nur die Opfer. Ich war müde von der Reise, und das Bett war so bequem, und... nun hört schon auf zu Lachen!"
Oronêl räusperte sich, und bemühte sich, seinem Gesicht einen ernsten Ausdruck zu verleihen. Die Mischung aus Verlegenheit, Zorn, und vielleicht einer Spur Belustigung über sich selbst auf Kerrys Gesicht war einfach zu komisch gewesen um nicht darüber zu lachen. Auch Finelleth hatte eine übertrieben würdevolle Miene aufgesetzt. Kerry sah zwischen den beiden hin und her, seufzte dann resigniert und musste selbst lachen.
"Ihr seid wirklich furchtbare Schauspieler, wisst ihr?"
"Man kann nicht alles können", meinte Oronêl, gab die ernste Miene auf und lachte ebenfalls. "Du kannst froh sein, dass wir schon wieder aufbrechen", sagte er dann mit einem Augenzwinkern. "Auf der Reise wirst du wohl eher nicht ins falsche Bett geraten..."
"Ha ha", gab Kerry zurück, und stieß ihm den Ellbogen gegen den Oberarm. Kräftig.
"Schon gut, schon gut", sag er, und rieb sich die getroffene Stelle. "Du musst mir aber erklären, was du vorhin meintest - ob ich jemanden namens Ardan getroffen hätte."
"Damit meinte sie mich", sagte eine männliche Stimme von der Tür her. Am Türrahmen lehnte ein kräftiger Mann mit schwarzen Haare und lächelte. Oronêl erkannte ihn nach kurzem Überlegen wieder - es war Ardóneth, über dessen Schicksal nach der Schlacht von Fornost verhandelt worden war.
"Gut euch zu sehen, Ardóneth", erwiderte Oronêl, und gab damit zu verstehen, dass er den Dúnadan erkannt hatte. Insgeheim fragte er sich, wie lange Ardóneth schon in der Tür gestanden und zugehört hatte, und Kerrys Miene war zu entnehmen, dass sie sich das gleiche fragte. "Vielleicht könnt ihr dieses Rätsel lösen?"
"Ich nehme an, dass Kerry unsere Begegnung früher am Morgen meinte", erklärte Ardóneth, und Kerry nickte. "Wenn du mit Begegnung meinst, dass du und deine Tochter mich unsanft geweckt haben... ja."
"Erst im falschen Bett und dann nicht mal ausschlafen können...", sagte Oronêl vor sich hin, hob aber auf Kerrys warnenden Blick hin abwehrend die Hände. Dann wandte er sich wieder an Ardóneth: "Ich wusste nicht, dass ihr eine Tochter habt."
"Ich bis vor kurzem auch nicht", erwiderte der Dúnadan. "Es war ein merkwürdiger Zufall, wie ich Mara - Maraniel heißt sie eigentlich - in Laegobel gefunden habe."
Das Lächeln, dass sich auf Ardóneths sonst ernstem Gesicht ausbreitete als er von seiner Tochter sprach, war beinahe ein wenig verlegen, und Oronêl konnte nicht anders, als es zu erwidern.
"Vielleicht war es kein Zufall, sondern Schicksal, dass euer Weg euch dorthin geführt hat", meinte er. "Auf jeden Fall ist es gut, dass in diesen Tagen nicht nur Dinge verloren gehen, sondern auch wiedergefunden werden."
Ardóneth nickte zustimmend, und fragte dann mit einem Blick auf die bereits gerüstete Finelleth: "Also... ihr wollt bereits wieder aufbrechen?"
Es war Kerry die antwortete: "Ja. Wir wollen über die Berge, in Finelleths Heimat." Ardóneth fragte nicht weiter nach, denn es war klar, dass sie nur das Waldlandreich meinen konnten. Stattdessen strich er sich über den kurzen Bart, und sagte: "Über den Hohen Pass also... Ich könnte euch ein Stück begleiten, wenn ihr nichts dagegen habt. Der Pass ist gefährlich, und auch wenn ich glaube, dass ihr Elben gut genug auf euch und auf Kerry achten könnt, kann ein zusätzliches Schwert nicht schaden."
"Wir werden eure Hilfe nicht ablehnen", antwortete Oronêl. "Aber ihr solltet bedenken, dass ihr vermutlich alleine über den Pass zurückgehen müsstet."
"Eine größere Gruppe wie ihr erregt Aufmerksamkeit", erklärte Ardóneth. "Ich alleine könnte problemlos zwischen den Orks hindurchschlüpfen."
Oronêl neigte den Kopf. "Es ist eure Entscheidung. Seid und also als Begleiter für die Reise willkommen."
"Und was ist mit Mara und... Cairien?", fragte Kerry. Oronêl hätte schwören können, dass das Gesicht des Dúnadans ein wenig verlegen war, als er antwortete: "Sie sind hier sicherer als irgendwo sonst - und ich bin ja nicht lange fort."
Gegen Mittag versammelte sich die Gruppe auf dem Hof vor Elronds Haus. Finelleth sprach mit Mírwen, die ihre Zwergenarmbrust auf dem Rücken und das Kurzschwert an der Seite trug. Nach dem was Oronêl hörte, schienen sie sich über das Verhältnis der Elben im Waldlandreich zu den Zwergen des Erebor vor dem Krieg zu unterhalten.
Celebithiel verabschiedete sich von Elrond und Arwen - der Abschied fiel allen drei sichtlich schwer, doch als Celebithiel sich abwandte, lächelte sie ein wenig angestrengt. "Es ist nicht leicht, schon wieder zu gehen", gab sie Oronêl gegenüber leise zu. "Aber ich muss wissen, ob es Glorfindel gut geht, und ihn sehen."
Kurze Zeit später gesellte sich Ardóneth zu ihnen, der in eine Lederrüstung nach Art der Dúnedain des Nordens gekleidet war. An den Unterarmen trug er er stählerne Armschienen, einen Bogen elbischer Art auf dem Rücken und ein Langschwert am Gürtel. Nach dem, was Finelleth über ihre Reise über den Pass vor einigen Monaten erzählt hatte, war Oronêl froh, dass sie auf die Hilfe des Waldläufers zählen konnten.
Als letzter kam Mathan mit langsamen, langen Schritten um die Ecke des Hauses gebogen, und trat schweigend zum Rest der Gruppe - allerdings nicht, ohne zumindest grüßend zu nicken. Oronêl nahm es ihm nicht übel. Was immer Mathan am letzten Abend erfahren hatte, schien ihn noch immer zu beschäftigen, und Oronêl würde ihn seinen Gedanken überlassen.
Eine Zeit lang standen sie wartend im Hof, bis Finelleth bemerkte, dass Oronêl sie auffordernd anblickte. Sie unterbrach ihr Gespräch mit Mírwen, schien sich innerlich zu straffen und warf einen Blick durch die Runde. Dann sagte sie: "Also... lasst uns aufbrechen."
Sie verließen Bruchtal ein Stück weit auf dem selben Weg wie etwa zwei Monate zuvor, als Oronêl und seine Gefährten nach Fornost aufgebrochen waren, bis sie die Kreuzung erreichten, an der die Pass-Straße nach Nordosten sich von der Großen Oststraße teilten. Sie verließen die Oststraße und folgten der anderen Straße, dem Hohen Pass entgegen.
Oronêl, Mathan, Ardóneth, Mírwen, Celebithiel, Finelleth und Kerry zur Pass-Straße
Melkor.:
Ardóneth und Lóvarië vom Hohen Pass
Der Weg über den Hohen Pass war sehr durch die Verletzungen Lóvariës erschwert gewesen. Beide Dúnedain waren nur schleppend voran gekommen, doch nach einer mehrtägigen Reise hatten sie den Scheitelpunkt des Passes wohlbehalten erreicht. Nachdem sie am folgenden Tag auch den Abstieg überwunden hatten, erreichten sie einige Stunden später das verborgene Tal von Imladris. Zur ihrer Ankunft dämmerte es bereits; dennoch bat Ardóneth um eine Audienz bei Meister Elrond, die ihm schließlich gewährt wurde. Nachdem der Dúnadan Lóvarië zu den Heilern Bruchtals gebracht hatte, ging er zu Elrond, der sich in seiner Bibliothek aufhielt. Dort angekommen berichtete Ardóneth dem Herrn von Imladris davon, was seine Gefährtin, die oberste Kundschafterin des Sternenbundes, herausgefunden hatte.
"Saruman plant etwas. Wir können nicht riskieren, dass er Fornost erneut angreift. Die Stadt wird einer weiteren Belagerung nicht standhalten," sagte Ardóneth aufgebracht, und redete sich dabei fast in Rage.
"Du sollest in den Trollhöhen nach dem Rechten sehen; vielleicht findest du heraus, was der Verräter Saruman vorhat und kannst es so womöglich noch im Keim ersticken," überlegte Elrond, während er sich nachdenklich auf das Geländer des Balkons stützte, auf den die beiden Gesprächspartner hinaus getreten waren.
"Lóvarië hat die alte Ruine von Varadhost erwähnt," erinnerte sich Ardóneth.
"Die frühere Hauptstadt des Reiches von Rhudaur, vor langer Zeit gefallen und zum Großteil dem Verfall preisgegeben," sagte Elrond bedächtig.
"Ich denke, es ist ein guter Anhaltspunkt. Am besten sehe ich mich zuerst dort um," sagte Ardóneth, mehr zu sich selbst gesprochen.
"Sei vorsichtig, Ardóneth, du hast die Kraft Saruamans schon am eigenen Leibe erlebt. Manch einer würde dies für einen gar törichten Plan halten, alleine in eine von Feinden besetzte Stadt zu reisen," gab Elrónd zurück.
"Ich werde nicht alleine gehen," erwiderte der Dúnadan. "Elrádan hat bereits Befehl erhalten, mir nach Bruchtal zu folgen. Sobald er hier eintrifft, werde ich aufbrechen."
"Gut, das ist ist beruhigend. Möge eure Mission von Erfolg gekrönt sein."
Beide unterhielten sich noch einen Augenblick, bis sich Ardóneth vom Herrn des Tals verabschiedete.
In der Nähe der Gästezimmer traf Ardóneth auf ein junges Mädchen in einem hellblauen Kleid, das ihm seltsam bekannt vorkam. Ehe er sie danach fragen konnte, streckte sie ihm kurzerhand die Zunge heraus, und rannte davon. Wenige Sekunden später tauchte Rilmir am Ende des Ganges auf, einen gehetzten Ausdruck im Gesicht.
"Ardóneth!" rief er, als er heran geeilt kam. "Hast du vielleicht meine Schwester gerade hier gesehen? Nein, du musst nicht antworten. Deine verwunderte Miene sagt mir bereits alles, was ich wissen muss. Faeriën kann leider noch immer keinerlei Manieren vorweisen. Tut mir Leid! Ich muss ihr hinterher, ehe sie noch mehr Schaden anrichtet. Wir sehen uns, mein Freund!"
So rasch der Dúnadan aufgetaucht war, war er schon wieder verschwunden. Doch aus der Tür, aus der Rilmir getreten war, streckte nun seine Verlobte Haleth ihren Kopf heraus, und winkte Ardóneth belustigt zu.
"Du bist also zurück," kommentierte die junge Frau, deren hellbraune Haare zu einem langen, breiten Zopf geflochten waren. "Ich kenne jemanden, der schon ziemlich sehnsüchtig auf diesen Moment gewartet hat," sagte Haleth und zwinkerte ihm verschmitzt zu.
Ardóneth hob die Augenbrauen und spürte, wie sich sein Herz erwärmte. Denn als er in das kleine Zimmer trat, in das Haleth ihn nun führte, stand dort die schlanke Gestalt der Frau, die seit seinem Aufbruch aus Bruchtal vor knapp zwei Wochen stets in seinen Gedanken gewesen war, und die seine Schritte auf dem Heimweg beschleunigt hatte. Sie stand am Fenster, und drehte sich um, als sie seine Schritte vernahm. Die tief stehende Sonne, die langsam im Westen versank, ließ ihre Haare und ihr Gesicht schimmern und betonte ihre feinen Gesichtszüge, was Ardóneths Herz umso höher schlagen ließ.
"Ardóneth," sagte Cairien und schenkte ihm ein freudestrahlendes Lächeln. Schnellen Schrittes kam sie auf ihn zu, und er empfing sie mit ausgebreiteten Armen. Die lange Umarmung, die sie teilten, endete in einem zärtlichen Kuss.
"Ich habe dich vermisst," flüsterte sie Ardóneth ins Ohr.
Als sie sich voneinander lösten, stellte der Dúnadan fest, dass Haleth verschwunden war. Offenbar hatte sie sich dezent zurückgezogen, um Ardóneths und Cairiens Wiedersehen nicht zu stören.
"Ich habe dich auch vermisst," antwortete er ehrlich, und sprach zum ersten Mal offen darüber, wie er über Cairien dachte. Selbst Kerry gegenüber hatte er das Thema niemals angesprochen, auch wenn sie wie eine kleine Schwester für ihn geworden war.
"Bist du hungrig? Ich habe einige Köstlichkeiten aus der Halle des Feuers mitgebracht. Mara schläft bereits; sie liegt im Nebenzimmer. Wir haben den Abend also ganz für uns." Cairien zeigte mit einem kleinen, stolzen Lächeln auf den Tisch, der direkt am Fenster stand, und mit einigen Speisen gedeckt war. Zwei Stühle standen dort, und Ardóneth nahm Cairien gegenüber Platz. Sie genossen ein angenehmes Abendessen unter den rötlichen Strahlen der schwindenden Sonne, und als es draußen vollständig dunkel geworden war, zündeten sie mehrere elbische Kerzen an, die genügend Licht spendeten. Sie tauschten sich über viele Dinge aus. Ardóneth erzählte von seiner zweimaligen Überquerung des Hohen Passes, und der Begegnung mit Lóvarië. Er stellte fest, dass er dabei ausdrücklich betonen musste, in welchem Verhältnis er zu der Anführerin der Kundschafter des Sternenbundes stand, denn Cairien hakte in dieser Hinsicht mehrfach nach. Als Ardóneth klarstellte, dass sie nichts weiter als eine Bekannte für ihn war, nickte sie zufrieden und begann, von den vergangenen Tagen in Bruchtal zu erzählen. Unter anderem berichtete ihm Cairien davon, dass sie die Bekanntschaft eines jungen Gondorers namens Acharnor gemacht hatte, der kurz nach Ardóneths Abreise in Imladris eingetroffen war. Und auch Acharnors ältere Schwester Adrienne hatte Cairien kennengelernt. Sie stellte erfreut fest, dass beide Ardóneth bereits von ihrer gemeinsamen Zeit in Fornost kannten. Abgesehen davon war jedoch nicht sonderlich viel geschehen seitdem Oronêls Gemeinschaft nach Osten aufgebrochen war. Die Tage waren in angenehmer Ruhe vergangen, und Cairien und ihre Tochter Maraniel hatten den Frieden von Imladris genossen. Einzig Rilmirs kleiner Schwester Faeriën gelang es hin und wieder, diesen Frieden mit ihren Eskapaden zu stören.
"Sie ist wirklich ein sehr unverschämtes Mädchen," meinte Cairien. "Ich bin froh, dass Maraniel da ganz anders ist."
"Das bin ich ebenfalls," antwortete Ardóneth. "Du hast bei ihrer Erziehung wirklich gute Arbeit geleistet."
Cairien blickte etwas beschämt zur Seite und legte den Kopf schief. "Nun, ich hoffe, wir werden uns diese Aufgabe ab sofort teilen," sagte sie leise und errötete sanft.
Ardóneth nahm ihre Hand. "Aber natürlich, Cairien. Wir gehören zusammen: Maraniel, du und ich. Als Familie."
"Als Familie," wiederholte Cairien mit fester Stimme, und drückte Ardóneths Hand. "Das wird mir gefallen."
Noch mehrere Stunden lang sprachen sie miteiander und tauschten sich über ihre tiefsten Geheimnisse und Gedanken aus. Es tat Ardóneth gut, all das, was er normalerweise tief in seinem Inneren verbarg, mit jemandem zu teilen, die ihm das Gefühl gab, dass er ihr wichtig war. Und auch Cairien schien es ähnlich zu gehen. Sie sprach über ihre Ängste und Hoffnungen, und er hielt sie im Arm, beleuchtet vom flackernden, romantischen Licht der Kerzen.
Als es bereits spät geworden war, legte Cairien den Kopf auf Ardóneths Schulter und schwieg mehrere Minuten. Als sie ihr Schweigen schließlich brach, war ihre Stimme zu einem Flüstern herab gesunken, und trotz der geringen Beleuchtung sah und spürte Ardóneth, wie sie errötete. "Bleibst du heute Nacht hier?" wisperte sie fragend.
Er wandte sich ihr zu, und sah die Erwartung und die Verliebtheit in ihren braunen Augen aufleuchten. Wie kleine Sternenlichter glitzerten sie dort, bis er antwortete und sagte: "Ja, Cairien. Ich bleibe bei dir."
Melkor.:
Nachdem beide noch eine lange Nacht verbracht hatten, in der sie sich Geschichten über ihre Kindheit erzählt hatten, wachte Ardóneth am nächsten Morgen neben Cairien auf. Er richtete sich auf und blickte in das Nebenzimmer, in dem Mara noch immer träumte. Langsam stand er aus den Bett und zog sich sein Hemd über. Vorsichtig ging er zur Tür und verließ das Zimmer das beide seit gestern bezogen hatten. Nachdem er sich frisch gemacht hatte, machte er sich auf den Weg zur großen Halle Bruchtals. Er nahm ein Tablett und ging zur Speisekammer. Ihm war dies etwas unangenehm, dennoch hatte er die Erlaubnis von Meister Elrond erhalten. Vor ihm war auf einen Tisch verschieden Speisen aufgereiht. Obst, Brot und verschiedene süße Brotaufstriche. Was wird ihr wohl am besten schmecken überlegte er, während er eine Weinrebe auf das Tablett legte. Später folgten noch einige Brötchen, Äpfel und ein Waldbeerenaufstrich. Er balancierte das Tablett kunstvoll auf seiner linken Hand, während er in seiner Rechten eine Kanne Wasser trug. Mit großer Vorsicht machte er sich auf den Weg zurück zum Zimmer. Dort angekommen rannte ihm die kleine Schwester Rilmirs - ihr Name war Faeriën- entgegen. Adóneth versuchte ihr möglich rasch auszuweichen und wie der Wind zog sie an ihm vorbei. Das Tablett auf seiner linken hand wackelte, doch konnt er es ziemlich rasch wieder balancieren. Gerade noch mal Glück gehabt, dachte er, während er die Tür zum Schlafgemach aufmachte. Er legte das Tablett auf den Tisch an dem beide gestern schon gesessen hatten, und legte noch einen Teller und ein Messer an beide Sitzplätze. Cairien öffnete schließlich ihre Augen, während Ardóneth noch mit dem Decken beschäftigt war. Sie beobachtete ihn noch einige Zeit lang, bis sie Ardóneth ansprach.
"Du hast Frühstück gemacht?" fragte sie überrascht, und aus ihrer Stimme war immer noch genauso viel Verliebtheit heraus zu hören wie am Vortag.
Ardóneth nickte. "Ich wäre dann fertig." sagte er gut gelaunt.
Beide blickten zu Mara die noch immer fest schlief. "Lassen wir sie schlafen?" fragte Ardóneth etwas unsicher. Cairien nickte und setzte sich Ardóneht gegenüber.
Nachdem beide gefrühstückt hatten, unterhielten sie sich noch einen Augenblick. Ganz in ihr Gespräch vertieft hatten sie nicht bemerkt, dass ihre Tochter nun inzwischen auch schon aufgestanden war. "Guten Morgen Kleine, hast du gut geschlafen?" fragte Ardóneth, während er sie auf seinen Schoss hob.
Mara nickte und aß einige Trauben. Ardóneth war froh das sie ihn nicht ablehnte und genoss den Moment mit seiner neuen Familie.
Zur Mittagsstunde hin war er wieder in Elronds Haus. Dort warteten bereits zwei Dúnedain auf ihn: Cánotar und Lóvarie. Bei Cánotar handelte es sich um eines der ältesten Mitglieder des Sternenbundes; er besaß großes Wissen über die Vergangenheit und beriet Belen in solchen Angelegenheiten. Lóvarië, die Anführerin der Kundschafter, hatte einige Verbände um ihre Verletzungen, dennoch sah sie deutlich besser aus als zu dem Zeitpunkt als sie sie gefunden hatten. "Da bist du ja." sagte die Dúnadan die auf ihrem Bett saß.
"Ihr müsst meine Unpüntklichkeit entschuldigen," sagte Ardóneth rasch. "Ich schätze Lóvarië hat dir bereits einiges erzählt?" fragte er.
Cánotar nickte. "Ja, das hat sie. Das sind schlechte Nachrichten, die sie aus Rhovanion zu uns bringt. Wenn Lóvarië recht ha,t sind die freien Völker immer noch in Gefahr." sagte er besorgt, während er sich gegen die Wand lehnte.
"Wir müssen dem nachgehen," sagte Ardóneth während er sich durch den frisch gewaschenen Bart fuhr. "Meine Gruppe wird bald wieder hier sein. Wir werden der Sache auf den Grund gehen."
Cánotar nickte zustimmend. "Also gut. Dann werde ich euch begleiten."
"Ich ebenfalls." sagte Lóvarië . Die beiden Männer blickten sie verwundert an. "Was ist los?" fragte sie verwundert.
"Ich..." Ardóneth stockte kurz. "Du..."
"Mädchen, was Ardóneth sagen wollte ist, das du dich erstmal lieber ausruhen solltest, bevor du ein neues Abenteuer planst," warf Cánotar ein.
"Wenn du dich bereit fühlst, kannst du gerne mitkommen. Die oberste Kundschafterin dabei zu haben würde sicher nicht schaden." sagte Ardóneth mit leiser Stimme und versuchte sich zu verteidigen.
Plötzlich flog Ardóneth ein Kissen entgegen dem er nur knapp ausweichen konnte. Ein breites Lächeln wurde sich auf dem Gesicht Lóvariës sichtbar. "Gut, dann werde ich mitkommen." sagte die Dúnadan fest entschlossen.
Fine:
Córiel, Níthrar und Jarbeorn aus dem Nebelgebirge
Obwohl Córiel im Zweiten Zeitalter geboren war, hatte sie dem verborgenen Tal von Imladris bislang nur wenige Besuche abgestattet und war nie lange geblieben. So war es nur wenig verwunderlich, dass sie kaum Gesichter erkannte, als Jarbeorn sie vorsichtig, über seine breite linke Schulter gelegt, über die geschwungene Brücke Bruchtals auf das Letzte Heimelige Haus zutrug. Die Ankunft der drei Gefährten war den Bewohnern des Tals bereits von versteckten Wachposten gemeldet worden, doch Córiel, die seit Tagen stets nahe an der Bewusstlosigkeit geschwebt hatte und den Großteil der Zeit mit Schlaf verbracht hatte, nahm nur wie durch einen Schleier wahr, wie sich eine kleine Menge um Jarbeorn und Níthrar versammelte und ihnen bis zur großen Eingangspforte in den Gebäudekomplex im Zentrum des Tales folgte. Stimmen drangen wie von fern an Córiels Ohr. Gesprochen wurde eine Mischung aus Sindarin und Quenya, doch ihr von Schmerz überlagerte Gehörsinn konnte nur wenige Wortfetzen verstehen, die für die Hochelbin kaum Sinn ergaben. Jarbeorn packte sie behutsam an der Hüfte und setzte sie scheinbar mühelos ab, als würde er ein Kind tragen. Mit sorgenvollem Blick musterte der Beorninger Córiel und blieb dicht bei ihr stehen, die Arme vor der Brust verschränkt. Níthrar lehnte sich mit dem Rücken an eine reich verzierte Säule und warf argwöhnische Blicke auf die Elbenmenge, die sich im Hintergrund versammelt hatte.
Der steinernde Boden in der Eingangshalle war kalt, aber nicht unangenehm. Vorsichtig stützte sich Córiel auf die Vorderarme, doch heißer, aufflammender Schmerz hinderte sie daran, sich weiter als bis in eine schief sitzende Position aufzusetzen. Sie biss die Zähne zusammen und legte sich ihre Worte zurecht. Die Blicke und das Geraune der Menge waren ihr unangenehm, und sie fragte sich, wie sie die Bewohner von Imladris wohl mit so wenigen Worten wie möglich loswerden konnte, ohne alle bis aufs Blut zu verärgern.
Jemand drängte sich durch die Menge, auf Córiel und Jarbeorn zu. Es war eine Elbin mit schwarzen Haaren, die ein mehrfarbiges Kleid und einen weißen Umhang trug. Dichtauf folgte ein Elb mit federndem Gang und braunem Haar, der auf Córiel etwas sonderbar wirkte, als würde er nicht recht an diesem ernsten und gefassten Ort gehören. Die Schwarzhaarige schien die Situation mit einem einzigen Blick zu erfassen und begann sofort, die Menge mit energischen Gesten zu vertreiben. "Seht ihr denn nicht, dass sie verletzt ist? Schafft mir eine Trage herbei, sofort! Und macht etwas Platz! Sie braucht Ruhe, und zwar gleich. Na los doch!"
Ihre Worte zeigten Wirkung, und langsam löste sich die Elbenmenge auf. Der Braunhaarige war derweil neben Córiel auf ein Knie gegangen und betrachtete sie mit einem einfühlsamen Blick, bis sich ein kleines Lächeln auf sein Gesicht stahl. "Noch eine tapfere Kriegerin, die aus dem kalten Nebelgebirge nach Bruchtal gehumpelt kommt. Hab' keine Angst! Meine gute Freundin Yávien wird dich schon wieder zusammenflicken, wie sie es mit Finelleth getan hat."
"Antien! Lass sie in Ruhe," mischte sich nun Yávien selbst ein und schob den jungen Elb energisch beiseite. "Du kannst ihr deine Lieder und Späße vortragen, wenn sie nicht mehr in Lebensgefahr schwebt." Antien erhob sich und schien nicht im Geringsten gekränkt zu sein. "Wir sehen uns später," sagte er lächelnd und ging.
Endlich kamen zwei Elben mit einer Trage in die Halle geeilt und Córiel wurde vorsichtig darauf gelegt. Die Träger setzten sich in Bewegung und Yávien und Jarbeorn gingen eilig daneben her. Níthrar schien verschwunden zu sein.
"Wie schlimm ist es, Oberste Heilerin?" fragte Jarbeorn an Yávien gerichtet.
"Auf den ersten Blick sieht es mir nach mehrfachen Brüchen und Muskelrissen aus. Was hast du nur mit ihr angestellt, Junge? Ich denke nicht, dass dir dein Vater beigebracht hat, so mit Elbenmaiden umzugehen."
Jarbeorn - ungewöhnlich kleinlaut - blickte betreten zu Boden. "Ich hätte besser aufpassen sollen, dann wäre das vielleicht nicht passiert. Wir haben einen üblen Kampf gegen die Orks der Weißen Hand hinter uns - und gegen eine Elbin, die sich Vaicenya nennt."
Yávien schien der Name nichts zu sagen, doch sie blickte nachdenklich geradeaus, während Córiels Trage durch mehrere lange Gänge getragen wurde. "Erzähl mir später alles in Ruhe. Meister Elrond wird es sicherlich ebenso interessieren." Ihr Gesichtsausdruck wurde etwas weicher, als sie den Beorninger über Córiel hinweg anblickte und sagte: "Trotz der Umstände ist es schön, dich zu sehen. Du warst lange nicht mehr in Imladris."
"Du hast ja vielleicht gehört, was im Süden los war. Da konnte ich meine Axt doch nicht ruhen lassen."
"Nein, das konntest du nicht. Das konntest du noch nie."
Sie erreichten ein Zimmer mit weißen Wänden und die Trage wurde vorsichtig abgestellt. Yávien erschien wieder in Córiels Sichtfeld, ein kleines Fläschchen in Händen haltend. "Du solltest das trinken, meine Liebe. Ich muss herausfinden, was dir zugestoßen ist, und das kann sehr, sehr schmerzvoll werden. Am besten schläfst du solange. Wir sprechen später miteinander."
Sie setzte das Gefäß an Córiels Lippen und eine geschmacklose, klare Flüssigkeit strömte heraus. Die Wirkung trat nahezu sofort ein. Córiel fühlte sich, als würde sie in einem Becken mit warmem Wasser versinken und ihr Bewusstsein driftete davon.
Weder Traum noch Albtraum störten Córiels Schlaf, doch als sie die Augen aufschlug, war sie für einen Augenblick orientierungslos. Sie blickte auf eine Zimmerdecke, auf der ein meisterliches Gemälde zu sehen war, das einen friedlichen Wald zeigte. "Wo bin ich?" fragte sie.
"Du bist in Elronds Haus. Und es ist zehn Uhr am Nachmittag des vierundzwanzigsten Oktobers, wenn du es genau wissen willst," sagte Níthrars Stimme. Der Südländer saß auf ihrer Bettkante, wie Córiel feststellte, als sie sich vorsichtig aufrichtete. Erstaunlicherweise hatte sie dabei keine Schmerzen. Ihre Arme und Beine steckten in dicken Bandagen, die ihre Bewegungen zwar einschränkten, doch nicht so sehr wie sie befürchtet hatte. Sie trug ein schlichtes weißes Kleid, das sie an den Traum erinnerte, den sie nach dem Sturz von Vaicenyas Turm gehabt hatte. Ihr Haar war ordentlich zusammengebunden worden und fiel ihr über die linke Schulter. Doch Córiels Blick blieb an Níthrar hängen, der seine Kleidung aus Harad gegen ein elbisches Gewand getauscht hatte, wie es in Bruchtal viele trugen. Seine Kapuze war verschwunden. Und als sie ihn so sah, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Seine Ohren...
"Du bist ein Elb," stieß sie hervor.
Níthrar betrachtete sie schweigend. Er legte den Kopf leicht schief. Und was ändert das nun? schien sein Blick zu sagen. Córiel hatte darauf keine Antwort.
"Wo ist Jarbeorn?" fragte sie, nachdem mehrere Minuten des Schweigens vergangen waren.
"Bei den Schmieden," sagte Níthrar. "Seine Axt hat beim Kampf im Turm eine Scharte bekommen. Du weißt ja, wie wichtig ihm seine Waffe ist."
Ebenso wie mir, schoss es Córiel durch den Kopf. Ihren Speer, Sercehtë, hatte sie verloren. Verärgert ballte sie die linke Hand zur Faust. Dabei spürte sie, dass sie ihre Finger nur schwerfällig bewegen konnte.
Die Türe des kleinen Raumes öffnete sich, und Yávien kam herein, dicht gefolgt von einem hochgewachsenen Elben, den Córiel kurz darauf als Elrond Halbelb erkannte. Sie hatte ihn seit dem Feldzug des Letzten Bündnisses nur einmal kurz bei einem ihrer Besuche in Imladris gesehen, doch dabei kaum ein Wort mit dem Herrn des Tales gewechselt.
"Du bist bereits wach. Sehr gut," sagte Yávien zufrieden. Die Heilerin schob Níthrar sachte, aber bestimmt beiseite und musterte Córiel einen Augenblick, ehe sie nickte und wieder vom Bett zurücktrat. "Ich verstehe noch immer nicht, wie Ihr es geschafft habt, ihrem Gesicht wieder Farbe zu verleihen, Meister Elrond."
Elrond nahm nun zum ersten Mal selbst das Wort. Seine Stimme war volltönend und angenehm, doch Córiel spürte, dass der Herr von Imladris viele Fragen an sie haben würde. "Die Körper der Erstgeborenen zerbrechen nicht so leicht, Yávien, wie du weißt. Córiels Glieder werden heilen, doch das, was in ihrer Seele schwärt, ist vorerst nur zurückgedrängt. Du weißt, wovon ich spreche, Tochter des Russohtar und der Morëvanya, deren Linie die Sieben Tore durchschritt und den Wellen des Zorns entkam. Du kennst das Verlangen nach Blut, das an deinem Inneren nagt wie ein Geschwür. Das dich in der Stunde deiner größten Niederlage nun beinahe verschlungen hatte."
Elronds Worte trafen Córiel zutiefst, und sie brachte kein Wort heraus. Ein zaghaftes Nicken war alles, wozu sie fähig war.
"Sprechen wir heute nicht weiter davon," fuhr Elrond fort. "Es gibt im Augenblick dringlichere Angelegenheiten. Ich habe von Jarbeorn bereits einen ausführlichen Bericht über eure gemeinsame Reise seit eurem Aufbruch von Aldburg erhalten, und seine Worte haben mich zutiefst besorgt. Doch ich würde dennoch gerne hören, wie sich die Ereignisse aus deiner Sicht abgespielt haben, Córyeldë, wenn du dich dazu imstande fühlst."
Córiel gelang es, sich in eine aufrechte Sitzposition zu bringen. Sie begann; zunächst leise und stockend, doch mit der Zeit immer freier und fließender, von ihrem Weg durch Dunland und das Nebelgebirge zu erzählen. Insbesondere schien Elrond an Vaicenya interessiert zu sein und stellte vermehrte Zwischenfragen zu den Taten der Dunkelelbin. Als Córiel schließlich ihre Erzählung beendete, legte der Meister von Imladris bedächtig die Spitzen seiner Finger aneinander und sagte: "Dies sind rätselhafte und besorgniserregende Nachrichten. Dass sich eine von unserem Volk offen dem Feind anschließt, ist geradezu unvorstellbar, doch in diesen dunklen Zeiten scheinen wir viele Dinge zu erleben, die zuvor ungekannt waren. Wir müssen davon ausgehen, dass der Großteil von Vaicenyas Worten Lügen waren, und ich fürchte, dass wir nicht einmal ihren wahren Namen kennen."
"Doch," sagte Níthrar leise. "In dieser Hinsicht hat sie die Wahrheit gesagt." Er klang bedrückt und mied den Blick Elronds.
"Ich sehe, dass dies auf dir lastet, Freund. Doch die Wahrheit muss nun heraus, sei sie wohl- oder übelbringend."
Níthrar seufzte tief und suchte Córiels Blick. "Ich wollte es euch schon früher erzählen, dir und Jarbeorn. Doch ich fürchtete, ihr würdet mir dann nicht mehr vertrauen, und da Vaicenya zum Greifen nah war, vertröstete ich mich innerlich darauf, euch die ganze Situation zu erläutern, wenn wir sie dingfest gemacht hätten..."
"Nun spuck' es schon aus," stieß Córiel hervor, die es nicht mehr aushielt. Hatte etwa auch Níthrar sie von Anfang an belogen?
Er ließ die Hände sinken. "Vaicenya.... Féavendë Vaicenya ó Tatyar, wie sie vollständig heißt, ist ... meine Mutter."
"WAS?" entfuhr es Córiel - und gleichzeitig auch Jarbeorn, der in jenem Moment durch die Tür getreten war, seine frisch geschliffene Axt geschultert. Klirrend fiel die Zweihandwaffe zu Boden.
"Die Tatyar sind die Vorväter der Noldor," sagte Elrond nachdenklich. "Du bist älter, als du aussiehst, Níthrar."
Dieser schüttelte den Kopf. "Nein, Meister Elrond. Ich wurde erst kurz nach dem Aufgang von Sonne und Mond geboren, wenige Jahrhunderte, bevor sich das Schicksal meiner Mutter wenden sollte. Sie und die Hälfte ihres Volkes blieben an den Wassern des Erwachens, als die Noldor unter Finwë in den Gesegneten Westen aufbrachen. Und dort lebten sie, während der Mittag von Valinor verstrich, für einige Zeit in Frieden. Doch Vaicenya war schon von Anfang an misstrauisch gegenüber den Maiar und Valar gewesen, und als der Krieg gegen den ersten Dunklen Herrscher Gebirge erschütterte und Ebenen zerbrach, sah sie sich bestätigt. Ohne den Schutz des Westens mussten die Elben, die im Osten geblieben waren, nach der Rückkehr Morgoths nach Mittelerde viele Schrecken erdulden, denn während die Noldor Beleriand und die Länder südlich davon verteidigten und Angband selbst belagerten, hatten die Kreaturen des Schattens im Osten, jenseits der Königreiche der Erben Finwës freie Bahn, um ihr Unheil über die Avari zu bringen. Meine Mutter war eine der ersten, die zu den Waffen griff, und verschaffte unserem Volk damals etwas Luft zum Atmen, doch der endlose Kampf gegen den Schatten machte sie zu einer hasserfüllten, kalten Person. Und nur wenige Jahre bevor der Krieg des Zorns Morgoths endgültige Niederlage herbeibrachte, geschah etwas, das nicht hätte geschehen dürfen. In ihrem Widerstand gegen zahllose Invasoren aus dem Norden hatte meiner Mutter stets ihre tapfere Freundin Melvendë zur Seite gestanden, der es als einziger gelungen war, den Zorn Vaicenyas zu bändigen. Doch als Melvendë fiel, war meine Mutter wohl endgültig verloren. Selbst nach dem Ende der Angriffe aus dem Norden konnte sie nicht aufhören, den Kampf zu suchen. Überall sah sie Verrat und Feinde. Am Ende sprach sie davon, dass Mittelerde besser dran wäre, wenn alles Leben davon getilgt würde."
"In anderen Worten, sie ist vollkommen wahnsinnig geworden," schlussfolgerte Jarbeorn. "Und deshalb hast du dich auch von ihr abgewandt."
"Ich ging fort, als ich es nicht mehr mitansehen konnte," antwortete Níthrar. "Ich baute mir ein Leben im tiefen Süden auf, wo mich keiner kannte, und tat mein Bestes, dort jenen zu helfen, die sich selbst nicht helfen konnten. Ich schätze, es sollte eine Art... Buße für die Taten Vaicenyas sein."
Córiel hatte Níthrars Geschichte mit staunendem Schweigen gelauscht. Wachsendes Grauen erfüllte sie, denn was Vaicenya zugestoßen war, klang erschreckend vertraut in Córiels Ohren. Auch sie hatte sich immer wieder darin verloren, nichts als Krieg und Schlacht zu suchen. Und Elronds Worte hatten sie allzu schmerzlich darauf hingewiesen, dass ihre Seele verwundet war. Was, wenn ich eines Tages ebenfalls den Verstand verliere?
Elrond brach das Schweigen. Während er Córiel mit einem durchdringenden Blick musterte, fragte er Níthrar: "Die Freundin, die deine Mutter verlor und deren Tod zu ihrem Sturz in den Wahn führte.... wie sah sie aus? Kannst du sie beschreiben?"
Níthrars Blick war von Niedergeschlagenheit gezeichnet. "Ihr habt denselben Gedanken wie ich, Meister Elrond. Euer Verdacht stimmt."
Elrond nickte verstehend. "Die Fixierung ist mir aufgefallen, als Córiel von ihren Begegnungen mit Vaicenya erzählte. Ich denke, nun wissen wir, warum sie dich nicht umgebracht hat, meine Liebe, und weshalb sie so großes Interesse an dir gezeigt hatte."
Jarbeorn blickte verwundert zwischen den beiden Elben hin und her. "Was meint ihr damit? Was ist mit Stikke?"
"Ist es nicht offensichtlich?" fragte Elrond. "Sie ist der Freundin, die Vaicenya vor so vielen Jahrtausenden verlor, offenbar wie aus dem Gesicht geschnitten."
Fine:
Níthrar umrundete das Bett in dem Córiel lag, und kam neben Elrond zum Stehen. “Ich fürchte, dein Anblick hat ihren Wahnsinn noch befeuert, Córiel,” sagte er. “Das macht sie gefährlicher als je zuvor.”
“Dann halten wir sie auf. Daran hat sich nichts geändert. Sie mag deine ... Mutter sein, Níthrar, aber ich werde nicht zulassen, dass sie noch mehr Krieg und Leid über Mittelerde bringt. Wenn sie nicht anders aufzuhalten ist, werde ich sie töten.” Córiel richtete sich entschlossen auf, doch ihre Beine versagten ihr den Dienst und sie blieb liegen. Die Schmerzen kehrten zurück und sie biss die Zähne zusammen.
“Mit Verlaub, du wirst vorerst nirgendwohin gehen,” sagte Elrond sanft, doch mit genug Autorität in der Stimme, dass Córiel sich geschlagen gab. “Dein Körper ist so zerschunden, dass es ein Wunder ist, dass du auf dem Weg hierher nicht gestorben bist.”
“Ein Wunder, oder vielleicht kalte Berechnung?” meinte Jarbeorn. “Wenn es stimmt, was ihr über Stikke und ihre Verbindung zu Vaicenya sagt, dann würde sie doch niemals zulassen, dass Stikke stirbt?”
Níthrar blickte den Beorninger nachdenklich an. “Mir sind einige tote Orks aufgefallen, die nahe der Stelle lagen, an der wir Córiel nach ihrem Sturz von der Turmspitze gefunden haben. Ich denke... ich denke, es ist meiner Mutter durchaus zuzutrauen, dass sie genau wusste, dass Córiel den Sturz überleben würde...”
“...weil sie es zuvor mit besagten Orks ausprobiert hat,” ergänzte Córiel. “Nicht dass es schade um die Orks wäre, aber dennoch ist das ein ziemlich verstörender Gedanke.”
“Hier in Imladris bist du sicher und hast genug Zeit für die Heilung deiner Verletzungen,” sagte Yávien. Die Heilerin hatte das Gespräch bislang aufmerksam verfolgt, nahm nun allerdings zum ersten Mal das Wort. “Ruhe dich aus und werde gesund, ehe du zu neuen Abenteuern aufbrichst.”
“Ich fühle mich verantwortlich,” antwortete Córiel. “Während ich hier liege und nichts tun kann, schmiedet Vaicenya ungehindert ihre Pläne...”
“Im Augenblick liegt es nicht in deiner Macht, sie aufzuhalten,” sagte Elrond. “Ich werde Späher ins Gebirge aussenden. Wenn Vaicenya sich noch dort aufhält, werden sie ihre Spur schon bald entdeckt haben.”
Córiel biss sich unzufrieden auf die Unterlippe. Sie hasste es, untätig zu bleiben während Vaicenya ungestraft ihren finsteren Absichten nachgehen konnte. Córiel sehnte sich danach, vom Bett aufzuspringen, ihren Speer zu holen und auf die Jagd zu gehen. Doch den Speer hatte sie verloren und ihre Verletzungen würden sie noch eine lange Zeit zu einer Gefangenen der Heiler machen.
“Kopf hoch, Stikke,” versuchte Jarbeorn sie aufzumuntern. “Dir wird schon nicht langweilig werden während du dich von den Verletzungen erholst. Dafür werde ich sorgen. Und sobald du genesen bist, spüren wir Vaicenya auf und setzen ihren Plänen ein Ende.”
“Ich rate zur Vorsicht,” sagte Elrond. “Vaicenyas krankhafte Fixierung auf dich ist besorgniserregend. Am besten solltest du dich so weit wie möglich von ihr fern halten. Es gibt Andere, die sich um dieses Problem kümmern können.”
“Bei allem Respekt, Meister Elrond, von wem sprecht Ihr? All Eure Krieger sind in Rohan, und Eure Verbündeten in Eriador und Mithlond haben mit eigenen Problemen zu kämpfen. Es gibt niemanden, den Ihr entbehren könnt. Vaicenya ist meine Verantwortung. Ich muss - und werde - sie aufhalten.”
Elrond hielt Córiels Blick stand und musterte sie einen langen Augenblick, ohne etwas zu sagen. Dann nickte er leicht. “Du wirst tun, was du für richtig hältst. Das ist nicht zu übersehen. Doch gedenke meiner Worte, wenn du erneut in den Krieg ziehst: Der Kelch des Blutdursts hat keinen Boden und wird niemals sättigen, wenn er nicht beiseite gestellt wird.”
In den nächsten Stunden war Córiel trübsinnig und schweigsam. Jarbeorn leistete ihr Gesellschaft, während Níthrar rasch wieder verschwunden war. Der Beorninger versuchte zwar, die Hochelbin aufzumuntern, doch es gelang ihm nur selten, ihr ein Lächeln zu entlocken.
Einige Zeit später kehrte die Heilerin Yávien zurück, um Córiels Verbände zu wechseln. Begleitet wurde sie von Antien, dem Elben der Córiel bei ihrer Ankunft in Imladris wegen seiner ungewöhnlichen Art aufgefallen war. Antien trug eine Laute bei sich und setzte sich auf einen kleinen Hocker, den man neben Córiels Bett gestellt hatte.
“Ich hörte, du bist der Trübsal anheim gefallen, meine Liebe,” sagte er mit einem Lächeln. “Dagegen lässt sich doch vielleicht etwas unternehmen. Ich habe mir sagen lassen, dass meine Lieder die Heilung schwer verletzter Elbenkriegerinnen beschleunigen.”
Yávien verdrehte bei diesen Worten die Augen und sagte: “Er redet Unsinn, wie gewöhnlich. Aber seine Lieder sind schön anzuhören, das muss ich zugeben.”
“Ein Lob, und das aus deinem Munde? Ich bin geschmeichelt!” rief Antien. Ehe Córiel Einwände erheben konnte, begann er.
Sieben Tore, stark und alt,
Geschmiedet im Gebirge kalt
Bargen den verborg’nen Pfad,
Zur Stadt, gebaut auf Ulmos Rat
Turgons Festung, stark und schön,
War wie ein Wunder anzusehen
Zwölf große Häuser lebten dort,
Und hießen sie den Heimatort.
Gondolin, Gondolin! Stadt des Gesangs!
Lang war dein Widerstand, tief war dein Fall.
Erbaut von starker Noldorhand,
Hielt sie bis zum Ende stand
Wehrte Morgoths Dienern lang,
Bis Schatten erst ihr Licht durchdrang.
Turgons Turm verging im Feuer,
Doch Gothmogs Horden zahlten teuer
Die Stadt nahm ihnen viele Krieger,
Schatten und Flamme stürzten nieder
Gondolin, Gondolin! Stadt des Gesangs!
Deine Erben werden dein Andenken niemals vergessen.
Während Antien sang und spielte, trat ein Bild vor Córiels Augen. Eine brennende Stadt inmitten einer großen Ebene, umgeben von gewaltigen Bergen. Gondolin, Heimat ihrer Eltern, zerstört von den Armeen des ersten Dunklen Herrschers. Córiel selbst war lange nach dem Fall der Stadt geboren worden, doch ihre Eltern hatten ihr einige Geschichten darüber erzählt.
“Woher weißt du über meine Abstammung Bescheid?” fragte sie Antien, nachdem dieser sein Lied beendet hatte.
“Ich war zufällig in der Nähe, als Meister Elrond deine Begleiter über dich befragte,” antwortete dieser und erhob sich. “Doch noch mehr konnte ich in deinen Augen sehen, als du zerbrochen und besiegt hier angekommen bist. Ich habe dieses Lied geschrieben, nachdem ich die Geschichte von Gondolin und ihrem Fall gelesen habe, und als ich dich sah, musste ich sofort daran denken.”
“Nun, du scheinst tatsächlich ein begabter Sänger zu sein,” gab Córiel zu, denn Antiens Lied hatte ihr gefallen. “Vielen Dank, dass du mir dieses Lied gezeigt hast.”
“Ich habe dich beobachtet, Córiel,” erwiderte Antien. “Ich weiß nicht, aus welchem der zwölf Häuser deine Vorfahren stammen, doch wenn ich es nicht besser wüsste...”
“Wovon sprichst du?”
“Laut der Erzählung ging das zwölfte Haus bis auf den letzten Mann im Kampf unter. Und dennoch... ich glaube, du bist vom Haus des Hammers des Zorns.”
Antien ließ seine Aussage stehen und verließ bald darauf den Raum. Auch Yávien beendete einige Minuten später ihre Arbeit und so blieb Córiel mit Jarbeorn alleine zurück. Eine tiefe Müdigkeit überkam sie. Ehe sie einschlief, sah sie noch, wie der Beorninger sich auf den Hocker neben ihrem Bett setzte und sie aufmerksam beobachtete. Er würde über ihren Schlaf wachen.
Es war kein Traum, der Córiel weckte. Es erschien ihr, als hätte sie nur wenige Minuten geschlafen, doch als sie vorsichtig die Augen öffnete, waren alle Lichter im Raum erloschen, und auch durch das Fenster drang nur wenig Sternenlicht hinein. Jarbeorns regelmäßige Atemzüge waren das einzige Geräusch, das an Córiels Ohren drang. Der Beorninger war in sich zusammengesunken und schlief, den Oberkörper auf Córiels Bettkante gelegt.
Ein Windhauch strich über ihr Gesicht, doch sie schenkte ihm keine Beachtung. Zweifel schlichen sich in ihre Gedanken. Noch immer fühlte sie sich für das Unheil, das Vaicenya in Mittelerde stiftete, verantwortlich und sehnte sich danach, geheilt zu sein und die Jagd wieder aufzunehmen. Doch was, wenn Níthrar und Elrond recht hatten? Was, wenn sie zum ersten Mal in ihrem Leben weglaufen sollte, anstatt sich der Gefahr zu stellen?
Ein Wispern erklang aus den Schatten. Córiel verstand die Worte nicht, auch wenn sie sonderbar vertraut klangen. Dann erhaschte sie eine flüchtige Bewegung zu ihrer Linken, und ein schlanker Schatten trat neben ihr Bett.
“Verschwinde,” stieß Córiel hervor.
“Du verletzt mich, Melvendë,” erwiderte Vaicenya, deren Gesicht im fahlen Sternenlicht erschien, das durchs Fenster drang.
Córiel grinste gequält. “Nein, du bist es, die mich verletzt hat. Sieh mich doch an.”
“Ich wusste, dass dich der Sturz nicht umbringen würde.”
“Ich sagte, du sollst verschwinden. Geh dahin zurück, wo du hergekommen bist, und lass Mittelerde in Frieden.”
“Frieden? Du bist blind, wenn du glaubst, dass die Welt Frieden hat. Solange sie vom Schatten des Dunklen Herrschers berührt wird, wird es niemals Frieden geben. Und deswegen muss ich alle vernichten, die dem Frieden im Wege stehen. Alle... bis es nur noch dich und mich gibt.”
“Du bist wahnsinnig,” keuchte Córiel. “Du kannst doch nicht... alle umbringen.”
“Ich kann, und ich werde. Hab Vertrauen, Melvendë. Bald schon werden wir zusammen sein... auf ewig.”
“Verlass dich nicht drauf,” antwortete Córiel, doch der Schatten Vaicenyas war verschwunden.
Sie lag noch eine halbe Stunde wach, ehe sie der Schlaf erneut fand.
Als Córiel am nächsten Morgen erwachte, war Jarbeorn verschwunden. Sie fragte sich, ob sie sich das Gespräch mit Vaicenya nur eingebildet hatte. Elrond würde es doch sicherlich bemerken, wenn sie in sein Reich eingedrungen wäre. Sie mag eine Meisterin der Verkleidung sein, doch Imladris wird von der Macht Vilyas geschützt. Oder...?
Sie fand keine Antwort darauf.
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