Ardóneth, Valion, Rinheryn, Damrod, Thandor, Gilvorn, Lothíriel, Areneth und Glóradan von TolfalasUnter einem günstigen Wind segelte die
Rache von Edhellond entlang der südlichen Küste von Belfalas in Richtung ihres Heimathafens in Dol Amroth. Das große Kriegsschiff hatte einst den Korsaren von Umbar gehört, wie Ardóneth von der Besatzung erfuhr. Einer der Herren von Edhellond, der Piratenjäger Faerion, hatte die
Rache in einer großen Seeschlacht an den Mündungen des Flusses Harnen gekapert und zu seinem Flaggschiff gemacht. Mit blauen Segeln und einem neuen, aus hellem Holz bestehenden Deck versehen, erinnerte heute nur noch die einem Keil gleichende Form des Kriegsschiffes daran, dass es in Umbar und nicht in Gondor gebaut worden war. Drei große Masten hielten die riesigen Segel an Ort und Stelle und sorgten dafür, dass die
Rache trotz ihrer Größe und Bewaffnung gut voran kam. Sie verfügte über sechs schwenkbare Ballisten, an jeder Flanke drei, die bei gleichzeitigem Beschuss eine verheerende Breitseite abgeben konnten. Darüber hinaus war das Flaggschiff des Herrn von Edhellond, der zugleich der Admiral der gesamten gondorischen Flotte war, stets von einer starken Besatzung von Bogenschützen verteidigt. An Deck vertäut waren zwei breite Sturmrampen, mit denen feindliche Schiffe geentert werden konnten, sowie mehrere Vorrichtungen für Haken, mit denen man kleinere Boote einfangen und heranziehen konnte.
Ardóneth war in seinen Reisen zwar bereits bis ans Ufer des Meeres gekommen, doch die Überfahrt von Tolfalas nach Dol Amroth war die erste Gelegenheit, die er hatte, ein so großes Kriegsschiff zu betreten. Er bestaunte die Effektivität, mit der die gut ausgebildete Mannschaft das Schiff auf dem richtigen Kurs hielt, obwohl die See unruhig war und hohe Wellen gegen den Bug der
Rache schwappten. Das Deck schwankte unter seinen Füßen und Ardóneth war froh, dass sein Gleichgewichtssinn damit besser zurechtkam, als es bei seiner Schwester der Fall war; denn Areneth war kurz nach ihrer Abreise von Tolfalas mit grünlichem Gesicht unter Deck verschwunden und hatte sich seitdem nicht wieder blicken lassen. Ardóneth wusste, dass viele Menschen durch den Seegang krank wurden und er hoffte, dass Areneth die Überfahrt ohne bleibende Schäden überstehen würde.
Der Waldläufer lehnte sich an die Reling an der Steuerbordseite der
Rache von Edhellond und betrachtete nachdenklich die Küste von Belfalas, die an ihm vorbeizog. Vor einer halben Stunde hatten sie das scharf nach Süden hervorstehende Kap umrundet, das die See rings um die Insel Tolfalas von den weitläufigeren Gewässern der Bucht von Belfalas zwischen Gondor und Umbar trennte. Seit seiner Rückkehr ins südliche Königreich hatte Ardóneth oft an die Jahre gedacht, die er in Minas Tirith verbracht hatte. Obwohl er seitdem im Norden, in Arnor, seine wahre Heimat gefunden hatte, gab es dennoch viele Dinge, die ihm an Gondor besser gefielen. Die dichtere Besiedelung des Landes war eine davon. Entlang der Küste sah Ardóneth immer wieder Anzeichen von Zivilisation: kleine Fischerdörfer, an idyllischen Stränden gelegen, reisende Gondorer, die entlang der Küstenstraße unterwegs waren, oder kleinere Schiffe, die hin und wieder den Weg der
Rache kreuzten.
Und irgendwo dort, in diesem Land dort drüben verbirgt sich der nächste Schlüssel von Gilgroth, dachte er, während in der Ferne, jenseits der Küste, eine Gebirgskette aufgetaucht war, bei der es sich um die Emyn-en-Ernil handeln musste, die zwischen Dol Amroth und Linhir aufragten. Die Spur, die der alte Archivar Thandor ihm gegeben hatte, plante Ardóneth gleich nach ihrer Ankunft in Dol Amroth zu verfolgen. Er wusste inzwischen, dass in den Emyn-en-Ernil das Tal von Tum-en-Dín lag, in dem sich die Nachfahren von Haus Glórin niedergelassen hatten. Sicherlich würde er in einer so großen Stadt wie Dol Amroth jemanden finden, der entweder Verbindungen nach Tum-en-Dín besaß oder sogar ein Mitglied des Hauses Glórin kannte. Und dann würde er jeder Spur nachgehen, die sich finden ließ, bis er den Schlüssel in seinen Händen halten würde.
"Ich verstehe es einfach nicht," sagte eine Stimme neben Ardóneth und unterbrach seine Grüblerei. Rinheryn, die Gefährtin Valions, stand neben ihm und ließ Schultern und Arme niedergeschlagen hängen. Auf ihrem Gesicht, das von rothaarigen Strähnen eingerahmt wurde, war nichts als Frustration zu lesen. "Valion hat seinen Auftrag erfüllt, und jetzt sperren sie ihn ein?"
Ardóneth musste der Gondorerin zustimmen. Auch er war sich im Unklaren darüber, welche Hintergründe dazu geführt hatten, dass die Fürstin Lothíriel Valion in Gewahrsam hatte nehmen lassen. "Ich habe mir dieselbe Frage ebenfalls gestellt," antwortete er daher. "Du bist doch schon länger mit Valion gereist als ich," fuhr er fort. "Hat er dir nie erzählt, was ihn auf den Weg geführt hat, der ihn durch Rohan bis nach Anórien brachte?"
Rinheryn schüttelte den Kopf. "Er sagte mir nur, dass er den Verräter Gilvorn verfolgt, und das genügte mir, als ich ihn nahe Dunharg traf. Vielleicht hätte ich ihn mehr ausfragen sollen, aber gleich nach unserer ersten Begegnung war ich ziemlich beschäftigt damit, mich von einer beinahe tödlichen Verletzung zu erholen. Das Fieber, das ich deshalb überstehen musste, ließ mir kaum Energie zum Nachdenken oder Fragen stellen."
"Nun, offenbar hat sich dein Zustand seither dramatisch verbessert," merkte Ardóneth mit einem schiefen Lächeln an. "Deine Kampffertigkeiten sind beeindruckend. Wer hat dich ausgebildet?"
Rinheryn warf ihm einen misstrauischen Blick zu. "Das geht dich überhaupt nichts an, Waldläufer", antwortete sie. Sie starrte einen Augenblick auf das Wasser hinaus, ehe sich ihre Miene veränderte. "Es... waren meine Brüder," fuhr sie leise fort. "Duilin und Derufin waren ihre Namen. Sie waren Zwillinge, sieben Jahre älter als ich. Sie brachten mir alles bei, was ich heute kann."
Die Vergangenheitsform, die Rinheryn im Bezug auf ihre Brüder verwendete, machte es Ardóneth nur allzu deutlich klar, dass Duilin und Derufin wohl nicht mehr am Leben waren. "Was ist ihnen zugestoßen?" fragte er sanft.
"Sie fielen auf dem Pelennor, als sie heldenhaft gegen die wilden Kriegsbestien von Harad vorrückten. Diese Monster, die Mûmakil, haben sie zertrampelt... aber nicht ehe sie nicht zwei von diesen Kreaturen zu Fall gebracht hatten." Stolz und Trauer schwangen in ihrer Stimme mit, als Rinheryn vom letzten Gefecht ihrer Brüder erzählte.
"Ein ehrenhaftes Ende," merkte Ardóneth an.
"Davon habe ich aber nichts," erwiderte Rinheryn. "Sie sind tot, egal wie ehrenhaft sie gefallen sind."
"Und dennoch kannst du dafür sorgen, dass ihr Andenken in Ehren gehalten wird," sagte Ardóneth leise. "Du hast dir unter den Menschen Rohans einen Namen gemacht, wie ich hörte. Jetzt kannst du dasselbe auch in Gondor, bei deinem eigenen Volk tun."
Rinheryn antwortete nichts, doch der Ausdruck in ihrem Gesicht sagte Ardóneth, dass seine Worte Wirkung gezeigt hatten. Mehrere Minuten des Schweigens vergingen, dann wandte sich Rinheryn schließlich ab und ging in Richtung der Brigg davon. Ardóneth vermutete, dass sie mit Valion sprechen wollte, der dort noch immer gefangen gehalten wurde.
Einem spontanten Einfall folgend beschloss der Dúnadan, mit der Fürstin von Tolfalas zu sprechen und die Wahrheit über Valions Gefangennahme herauszufinden. Aus Gesprächen mit der Schiffsbesatzung der
Rache von Edhellond hatte Ardóneth erfahren, dass die Fürstin die Tochter des Prinzen Imrahils von Dol Amroth war, der Oberbefehlshaber der Streitkräfte Gondors und amtierender Truchsess des Südlichen Königreiches war. Noch während er sich fragte, ob Lothíriel dem Einfluss ihres Vaters für ihr Fürstenamt zu danken hatte, entdeckte er die Fürstin ganz in der Nähe, wie sie sich gerade mit dem Steuermann der
Rache unterhielt, welcher das Schiff weiterhin in Richtung der Schwanenstadt lenkte. Inzwischen war es Abend geworden und die Sonne senkte sich vor dem Bug des Kriegsschiffes der Oberfläche des Ozeans entgegen und tauchte das Meer in ein schwindendes, rötliches Licht.
"Gewährt Ihr mir einen Augenblick Eurer kostbaren Zeit?" bat Ardóneth, als er herangekommen war.
Neugierig wandte die Fürstin, die Ardóneth ungefähr auf Kerrys Alter schätzte, ihm das Gesicht zu. "Sieh an," sagte sie mit freundlicher Stimme. "Und was könnte ein Waldläufer des Nordens sich von einem solchen Augenblick meiner Zeit erhoffen?"
"Informationen," antwortete er vorsichtig. "Ich würde gerne mehr darüber erfahren, weshalb Ihr den guten Valion in Gewahrsam genommen habt."
"Also ist es die Neugier, die Euch antreibt?" sagte Lothíriel mit einem neckischen Lächeln, dass Ardóneth beinahe an Cairien erinnerte, die in Imladris geblieben war. "Ich rate Euch, euch nicht allzu sehr mit Valion einzulassen. Er ist ein Unruhestifter, auch wenn er hin und wieder für eine Heldentat gut ist."
"Wie darf ich das verstehen?" meinte Ardóneth. "Ich habe ihn als zuverlässigen Kämpfer mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit kennengelernt, und war der Meinung, er handle im Auftrag der Herren Gondors."
"Und was wäre, wenn ich Euch sagte, dass Valion auf der Flucht vor dem Gesetz Gondors war, als Ihr ihm begegnet seid?" fragte die Fürstin und strich sich ihr dunkles Haar hinter die Ohren.
"In diesem Fall würde ich Euch bitten, mir mehr darüber zu erzählen, um mir selbst ein Bild der Lage zu machen."
"Nun gut, Waldläufer - "
"Ardóneth, Sohn des Argóleth," unterbrach der Dúnadan und deutete eine Verbeugung an.
"Ardóneth also," fuhr Lothíriel fort. "Valion geriet während einer Mission, auf die ihn mein Vater, der Truchsess Imrahil von Dol Amroth entsandt hatte, in eine schwierige Lage, aus der er sich nur durch Mord an einem gondorischen Adeligen befreien konnte."
"Mord?" rief Ardóneth überrascht.
"Eigentlich war es Valions Verlobte, die das Messer führte. Aber als ihr Versprochener trägt Valion die Verantwortung für ihre Taten und hatte die Mörderin vor den Hofstaat meines Vaters zu begleiten, doch auf dem Weg dorthin entzog er sich seiner bewaffneten Eskorte und machte sich somit zu einem Vogelfreien. Ich weiß, dass er es aus gutem Grund tat - nämlich um Gilvorn, den Verräter zu jagen, doch Gondor ist trotz allem ein Land der Gesetze, die es zu beachten gilt. Valion wird in Gewahrsam bleiben, bis er vor meinen Vater getreten ist und dieser über seine Strafe entschieden hat."
Ardóneth nickte betroffen. Er ahnte, dass noch viel mehr hinter der Geschichte steckte, die Lothíriel ihm gerade in wenigen Sätzen zusammengefasst hatte, und nahm sich vor, selbst mit Valion über die Situation zu sprechen. Rasch bedankte er sich bei der Fürstin von Tolfalas und verabschiedete sich von ihr.
Unter Deck musste er feststellen, dass die Wachen ihn nicht zu den Gefangenen vorlassen wollten. Auch Gilvorn war unter Deck eingesperrt, glücklicherweise nicht in derselben Zelle wie Valion. Unverrichteter Dinge musste Ardóneth den Rückweg aus Hauptdeck antreten, wo er Rinheryn und Areneth ins Gespräch vertieft vorfand. Offenbar hatte sich seine Schwester inzwischen von der Seekrankheit erholt. Ihre grüne Gesichtsfarbe war verschwunden. Stattdessen schien Areneth den frischen Wind zu genießen, der ihnen allen durchs Haar blies und der die
Rache von Edhellond beschleunigen ließ, während im Westen der letzte Lichtstrahl der Abendsonne über den Wassern der Bucht von Belfalas verglühte. Am nächsten Morgen würden sie in Dol Amroth anlegen.
Ardóneth, Valion, Rinheryn, Damrod, Thandor, Gilvorn, Lothíriel, Areneth und Glóradan nach Dol Amroth