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Eregion / Vor dem Sprung
« Letzter Beitrag von Curanthor am Gestern um 23:16 »
Es war ein merkwürdiges Gefühl wieder mit seinen Schwestern zu sprechen. Ihm war es, als sie sich seit Jahren nicht mehr gesehen hatten, dabei waren es erst einige Wochen, vielleicht Monate. Er musterte sie genauer, als sie sich in der fast leeren Kammer auf einige Fässer setzten. Sie kamen deutlich nach Mutter, die wachsamen Augen waren aber die ihres Vaters. Ihre Haare hatten mittlerweile die ursprüngliche weiße Färbung verloren und nun einen dunkelblonden Ton angenommen. Um ihre Mundwinkel hatte sich ein harter Zug gebildet, am linken Handgelenk trugen sie beide jeweils einen schmalen, eleganten Armreif mit verschlungen Mustern und drei kleinen Edelsteinen. Seine Schwestern musterten auch ihn einen langen Moment, bis sie ihn darum baten seine Reise bis hier hin zu erläutern.
Mathan umriss grob die Fahrt mit der Avalosse, den Kampf um Tharbad und den Weg nach Eregion, die Kämpfe in der Schmiede, die Ankunft der übrigen Elben und dann die Reise nach Norden. Auch wenn er sich so kurz wie möglich fasste, dauerte die Erzählung länger als ihn lieb war. Glücklicherweise kannten seine Schwestern bereits einen Teil, da sie ebenfalls in den Norden gereist waren, einige Zeit nach ihm. Er blinzelte und sein Blick huschte erneut zu den Schmuck, den sie trugen. „Also... wisst ihr über Mutter Bescheid?“
Sabaia zögerte schuldbewusst, doch Yutée nickte entschlossen. „Wie haben eine Zeit lang bei ihr gelebt, zusammen mit anderen. Noch bevor wir uns in Lindon trafen.“
Mathan wurde klar, dass er nie gefragt hatte, was sie so trieben, oder wo sie lebten, als sie sich vor einiger Zeit getroffen hatten. Er fühlte sich schuldig, sich so wenig für das Leben seiner Schwestern zu interessieren. Ein wenig nagte es auch an ihm, dass seine Mutter ihm nichts davon erzählt hatte.
Sabaia bemerkte seinen Gesichtsausdruck und schob hastig nach: „Sie wollte nicht, dass wir jemanden davon erzählen. Wir waren ihre Augen und Ohren. Außerdem beobachteten wir die Schmiede, bewachten sie ohne einzugreifen... sie verbat uns hinunterzugehen...“
„...Und daran hielten wir uns.“ Yutée strich ihm sanft über die Schulter, „Wir wussten auch nicht, dass Vater dort unten lebt, sonst hätten wir es dir gleich gesagt, egal was Mutter sagt.“
Mathan atmete tief durch und nickte knapp. Er konnte ihnen nicht böse sein, immerhin war er auch kaum für sie da gewesen. Er setzte seine Erzählung fort und kam rasch an der aktuellen Lage an.
„Hmm“, machten seine Schwestern nur und schauten sich nachdenklich an, „Wir könnten dieses wandelnde Etwas suchen gehen. Und vertrauen kannst du uns sowieso.“
Er sah keinen Grund ihre Hilfe abzulehnen und stimmte zu. „Habt ihr irgendwelche Pläne bei dem aufkommenden Kampf mitzuwirken?“
Die beiden sahen sich an. Er kannte diesen Blick, dass sie irgendwas wussten, aber erst später preisgeben würden. „Vorerst nicht. Wir sind recht begabt darin unerkannt zu bleiben, wenn du verstehst...“, begann Sabaia langsam und Yutée beendete den Satz: „Zumal uns niemand in der Stadt wirklich kennt.“
Mathan runzelte die Stirn. Die Zwillinge waren schon immer etwas geheimniskrämerisch, aber diesmal war er sich sicher, dass sie etwas Größeres zurückhielten. Gleichwohl kannte er sie gut genug zu wissen, dass sie ihn nie schaden würden.
„Also gut“, brummte Mathan, „Falls euch jemand fragen stellt, verweist auf mich. Streng geheime Mission des Feldherrn.“ Die beiden nickten ernst und machten sie auf den Weg. Er wartete einige Momente, bis sie weit genug weg waren und verließ die Kammer.





Valena saß am Brunnenplatz auf dem Rand des Sockels und beobachtete wie geordnete Kolonnen an gerüsteten Elben in Reih und Glied durch die Straßen marschierten, die meisten im Laufschritt. Nur vereinzelt wurden Befehle gebellt. Scheinbar wussten sie was zu tun war, denn die meisten hatten den nördlichen Stadtteil als Zeil. Eine weitere Kolonne aus einhundert Soldaten mit purpurroten Mänteln und auf Hochglanz polierte, schwere Rüstungen marschierte gerade auf dem Platz auf. Sie wirkten deutlich abgehärteter, die Haltung stramm und bis an die Zähne bewaffnet. Hier bellte niemand Befehle, jede Bewegung wirkte so, als sie im Schlaf ausgeführt werden konnte. Einige Umstehenden murmelten, dass dies die königliche Leibgarde sei.
„Rück mal 'n Stück, Menschenmädchen“, brummte eine männliche Stimme mit einem seltsamen Akzent. Der Duft von Tannenzapfen und kaltem Metall drang ihr in die Nase. Jemand setzt sich unangenehm nah an sie heran, sodass sich ihre Beine berührten. Valenas Seitenblick war missbilligend, doch der Elbenkrieger trug eine schwere, vom Kampf gezeichnete Rüstung und starrte nach vorn. Sein leicht eingedellter Helm auf den Kopf sprach von dutzenden abgefangenen Hieben, dennoch glänzte der Stahl in der trüben Sonne. Dunkelbraune, fast schwarze Haare ergossen sich vom Unterrand des Helms auf seinem bemantelten Rücken.
„Neu hier?“, fragte er Mann nach eine Weile der Stille.
Valena brummte zustimmend, wenig Lust verspürend den aufdringlichen Kerl zu unterhalten.
„Bin schon eine Weile hier und du...?“
„Valena vom Raureiftal“, stellte sie sich kühl vor und blieb weiterhin stur sitzen.
Der Elbenkrieger lachte rau und schlang einen Arm um ihre Schulter. „Calûnor, aber du kannst mich Calún oder Cal rufen.“ Sie wand sich unter dem starken Arm, die aufkommende Panik herunter kämpfend.“Vielleicht werde ich den kommenden Krieg nicht überleben. Mein Platz ist in der vordersten Reihe. Ich wurde mit dem Schwert in der Hand geboren und werde durch ein Schwert sterben, das hat man mir weisgesagt.“ Valena hielt dabei inne, ihn von sich abzuschütteln. „Einmal wollte ich mir vorstellen wie es ist, einfach nicht in den Kampf zu ziehen... ein warmes Feuer zu Hause, einen gemütlichen Sessel mit einem Buch... aber irgendwie kann ich es nicht.“
„Warum?, fragte sie nach einem kurzen Moment, den schweren Arm auf ihren Schultern ignorierend, „Es zwingt dich doch keiner?“
Calûnor lachte erneut, jedoch weniger herzlich, „Das nicht, aber es liegt in meiner Natur. Die Kinn-Lai sind nicht dafür bekannt zimperlich zu sein“ Er zog seinen Arm zurück und legte die gepanzerte Hand auf ihr Knie, woraufhin sie merklich zusammenzuckte. „Wenn wir etwas wollen, dann machen wir das klar. Und ich sehe nicht, was du willst.“
Sie blinzelte verwirrte, noch immer unangenehm berührt durch die schwere Hand des Mannes, doch das pochende Herzen in ihrer Brust beruhigte sich stetig. Etwas überrascht davon, dass es plötzlich um sie ging, räusperte sie sich. „Was meinst du?“
„Das wüsste ich auch gerne...“ Er nahm seine Hand von ihr. „Vergiss es. Nur die Launen eines Kriegers, der sein Volk wohl in den Krieg führen muss. Die wilden und ungezähmten Gedanken vor einer Schlacht.“
Velanas Knie wirkte leichter als zuvor. Irgendwie hatte die Berührung ihr weniger ausgemacht als gedacht. Sie schaute ihn an, doch Calûnor hatte sich vorgebeugt und stützte seinen Kopf auf der Handfläche, den Ellenbogen wiederum auf seinem Bein.
„Vielleicht wollte ich auch einfach nur die Stimme einer Frau hören, die nicht ständig nörgelt, über wichtige Dinge schwadroniert oder aufbrausend ist“, murmelte der Elbenkrieger.
Valena rutschte etwas peinlich berührt auf einer Stelle herum. „Ich bin eigentlich nichts von dem. Vielleicht zu ruhig in manchen Dingen?“ Sie überlegte kurz. „Und etwas zu kämpferisch, habe ich öfters gehört.“
„Hmm, kämpferisch klingt gut, das mag ich. Aber ich denke, du magst mich nicht. Das ist auch in Ordnung.“ Calûnor richtete sich auf, „Wie gesagt, mein Volk ist nicht bekannt für seine zarte Seite.“
Er machte Anstalten zu gehen, doch Valenas Hand hielt ihn am tiefblauen Umhang fest. Überrascht schaute er zu ihr hinab. Seine bernsteinfarbenen Augen musterten sie das erste Mal im Gesicht. Der Blick des Mannes war kalt wie Stahl. Langsam ließ er sich wieder nieder. Sie wusste selbst nicht, warum sie ihn hierbehalten wollte. Ihr Blick ging zu dem wuchtigen Zweihänder, den der Elbenkrieger neben sich gelegt hatte. Vielleicht ein Anflug von Bewunderung? Sie wusste es selbst nicht. Irgendwas in ihr sehnte sich vielleicht nach Stärke? Herr Mathan war die Führung, die sie brauchte. Vielleicht hatte sie nun diese Stärke gefunden. Sie war selbst von sich überrascht und schluckte den Brocken in ihrem Hals hinunter, unsicher ob sie nervös sein sollte, oder ein klein wenig Gefühl der Sicherheit zulassen sollte.
„Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich dich nicht mag“, murmelte sie schließlich. Sie griff selbstbewusster nach seiner Hand und platzierte sie auf ihrem Knie,  „Dafür brauche ich mehr Zeit.“
Calûnor ließ sie gewähren und wirkte kein Stück wie die unnahbaren Gestalten aus den Geschichten. „Ich weiß auch nicht, was ich hier mache.“, sagte er nach einem Moment und verharrte neben ihr regungslos. „Vielleicht hilft das hier mir dabei.“ Seine schwere Hand wirkte auf Valena wie ein schützendes Zelt in einer fremden Stadt. „Was auch immer gerade geschieht.“





Adrienne stiefelte unwirsch durch die enge Gassen. Irgendwas war hier, aber es entzog sich ihren Blicken. Immer wieder hatte sie das Gefühl den oder die fremde gleich um eine Ecke flitzen zu sehen, fand aber entweder leere Gassen und Gänge, oder gelegentlich ein Spitzohr. Das Geflüster, das sie stets begleitete, war zu einem dumpfen Rauschen abgeklungen. Ihr Auge schmerzte gelegentlich, vor allem wenn sie in die Sonne blickte, aber ansonsten ging es ihr besser, je mehr sie sich bewegte. Ihr kam alles so dumm und peinlich vor. Sie hatte sich gehen lassen, alles falsch verstanden und dem dunklen Gedanken nachgegeben. Der frisch verkrustete, flache Schnitt auf der Höhe ihres Herzens war das deutlichste Zeichen davon. Ein Mal ihrer eigenen Dummheit.
Nach ihrer Begegnung und der daraus folgenden Verwundung waren ihr wieder Dinge eingefallen, die sie anfangs nicht zuordnen konnte. Fetzen aus Unterhaltungen. Grausame Bilder, zerhackte Körper, Blut und Eingeweide. Dinge, die sie nie jemanden erzählen würde; darunter ihr eigenes hohles, kaltes Lachen. Dunkle Gelüste und verwirrende Erinnerungen. Alles schwirrte in ihrem Kopf umher und alles aus ihrem eigenen Blickwinkel. So als ob sie es war, die die schrecklichen Taten verübt hatte.
Sie hatte Angst, so sehr, dass ihr Magen jeden Bissen Nahrung verweigerte. Angst um sich selbst, was mit ihr geschah und auch um ihre Freunde. Sie hatte schreckliche Furcht vor dem, was kommen würde. Die Gewissheit, dass sie dem selbst kein Ende bereiten konnte war ein furchtbares Gefühl, als ob ein klaffendes Loch sie zu verschlingen drohte. Sie hatte bereits in diesen Abgrund gestarrt und hatte alle um sich herum von sich gestoßen. Hatte sich auf alle Stimmen in ihrem Kopf eingelassen.
Keuchend lehnte sich Adrienne an eine Hauswand, noch immer den ausweichenden Wesen folgend. Vielleicht war es nur ein Hirngespinst, aber es half ihr nicht daran zu denken, wie töricht sie war. Kerry hatte sie noch immer wie eine Freundin behandelt, ganz gleich wie entstellt sie war. Oder, dass sie sie ungefragt geküsst hatte. Eines der dunkleren Gelüste, ausgelöst durch übermäßigen Alkohol und den wispernden Stimmen. Und dennoch... sie wollte niemanden in der Nähe haben, nicht wenn sie ständig Gefahr verspürte. Meistens von sich selbst ausgehend. Und dennoch behandelten sie alle Adrienne wie eine Freundin. Niemand wusste, dass sie das nicht verdient hatte. Vor allem da sie immer klarer sah, was sie einst getan hatte. Es waren noch immer Fetzen, aber grausam genug es auf der Stelle zu beenden – oder es zumindest zu versuchen. Sie wollte niemanden da hineinziehen, aber die Stimmen in ihren Kopf wisperten ihr zu, dass es dafür schon längst zu spät war. Ihre Freunde würden sich sicherlich von ihr abwenden, wenn sie herausfanden was sie war. Nicht jeder war so naiv wie Kerry.
Adrienne schloss kurz die Augen. Ein Gefühl von Dringlichkeit machte sich in ihr breit. Sie stieß sich von der Wand ab und beschleunigte ihre Schritte. Ihre Hand legte sich auf dem kühlen Griff ihres Elbenschwerts. Eine besonders eindringliche Stimme erhob sich in ihrem Kopf über den allgemeinen Rauschen hinweg. Sie klang ruhig, gütig und sehr weise. Die Stimme warnte sie in einem vertrauensvollem Ton. Es drohte Gefahr, aber nicht für sie. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Mit einem leisen sirren fuhr der blanke Stahl aus der Scheide. Das Wispern bestärkte sie. Adrienne hatte nicht viel Zeit. Sie konnte sich vielleicht nicht selbst beschützen, das machte keinen Sinn, ganz gleich was sie Kerry sagen würde, aber sie konnte alle Kraft aufbieten andere zu beschützen – selbst diese unbekannte, ungezügelte Macht, die sich in ihr erneut regte. Selbst wenn sie daran zerbrechen würde. Es war der letzte Akt, den sie vollziehen konnte, solange sie so klar war wie jetzt.





Nivim hatte sich schließlich Hilfe geholt. Elestora war einfach zu gut in dem Spiel geworden. Sie lächelte geschlagen, als der leicht gerüstete Spähtrupp eilig vor ihr an den Treppen zum Kronsitz zum Stehen kam. Es waren neun Elben, plus den Anführer, der sich knapp verneigte. „Randar, zu Euren Diensten, ehrenwerte Dame Nivim.“
Erstaunt stellte sie fest, dass es Hwenti waren. Nivim nickte und befasste ein Tuch, mit dem sich den Schweiß zuvor von der Stirn getupft hatte. „Ich weiß, dass es fast schon lächerlich klingt, aber könntet Ihr und Eure Mannen bitte helfen meine Tochter zu finden? Die Kleine ist zu geschickt im Versteckspiel geworden.“
Der Anführer blinzelte einen Moment. „Die kleine Prinzessin Elestora?“ Seine Stimme war ernster als sie erwartet hatte.
Nivim nickte zögerlich, verunsichert von der Professionalität des Mannes. „Ich weiß, in so einer Situation habt Ihr sicherlich andere...“
Sie verstummte, da Randar die Hand hob. „Verzeiht, Dame Nivim, aber macht euch keine Sorgen. Unser Volk hält Kinder für den größten Schatz des Lebens. Macht Euch keine Vorwürfe, wir helfen gerne.“ Die Männer Randars nickten bekräftigend und versicherten ihr, dass sie sie finden würden.
Sie atmete erleichtert auf, auch wenn es ihr noch immer übertrieben vorkam. Nivim trat näher an den Trupp heran, sodass nur sie sie hören konnte. „Bitte behandelt den... Auftrag diskret.“ Sie lächelte unsicher.
Randar erlaubte sich ein Schmunzeln. „Natürlich, unsere Lippen sind versiegelt.“
Sie erklärte den Männern wo sie ihre Tochter das letzte Mal gefunden hatte, ihre beliebten und unbeliebten Orte, woraufhin sie wie Schwarm Vögel auseinander stoben.





Amante maß das schwere Schwert mit einem missbilligenden Blick, das Amarin aus dem geheimen Versteck gezogen hatte. Es war ein massiger Zweihänder, der vermutlich mehr Metall als so mancher Plattenpanzer aufwies. Der Stahl war schwarz, durchzogen von blauen Adern und schimmerte im Licht. Sie wusste relativ wenig über die Schmiedekunst, vermutlich war er leichter als er aussah, aber vor allem wertvoll. Sternenstahl erkannte sie immer problemlos.
„Ein Andenken aus Gondolin, oder inspiriert davon?“, fragte sie feixend.
Amarin hielt inne und das Steinfach einen Moment offen, ließ es aber dann mit einem Rumpeln zufallen. „Das hatte ich schon vorher auslagern lassen.“ Er trat an die schwere Klinge, „Eigentlich war es für einen der Hohen Herren der Stadt bestimmt. Mein alter Lehrmeister gestattet es mir nur für diesen Zweck mit nach Mittelerde zu bringen. Nun, wie auch immer, es kam anders .“
Sie hielt sich kurz den Kopf, doch der Schleier war heute dichter als je zuvor. Es war nichts zu sehen, nur trübe Dunkelheit. „Also beginnt das, was Cúwen einst sah.“
Ihr alter Freund grunzte nur zustimmend und schnappte sich ein Ledertuch, mit dem er die Klinge entlangfuhr. „So sieht es aus.“
„Und das sorgt dich nicht?“ Sie musterte ihn mit gerunzelter Stirn. Ob er schon soweit bei klarem Verstand war?
Amarin hielt inne. „Natürlich sorgt es mich.“ Seine Stimme war schneidend, sodass sie innerlich zusammenzuckte. Da war sie wieder, die Schärfe der letzten Jahrhunderte, die ihn verändert hatten. „Meine Nachfahren werden durch Blut waten. Tragödien werden uns befallen. Natürlich...“ Er verstummte, da seine Stimme sich immer weiter hochschaukelte. Er hielt sich kurz den Kopf. Dann sagte er sanfter: „Wer würde das nicht, es sind meine Nachfahren und alten Freunde, um die es geht.“
Amante spürte sich unwillkürlich lächeln. „Alte Freunde, ja.“, wiederholte sie versonnen, „Damals schien vieles leichter, mit klaren Grenzen. Ich frage mich, was die anderen heute so tun...“
Er warf ihr einen unergründlichen Blick zu und polierte das Schwert. „Cúwen war da nicht so deutlich, ob wir uns alle überhaupt noch einmal wiedersehen... und ich erinnere mich nicht, wo ich den Schild versteckt habe.“
Sie erlaubte sich ein schelmisches Grinsen. „Dann ist es scheinbar noch nicht so dringend.“ Amante nickte in die Richtung der Schmiedefeuer, die in den geheimen Gang hinein flackerten. „Das Feuer wird es dir offenbaren, der Große Schmied wird dich sicherlich nicht vergessen haben.“
Er verharrte in der Bewegung. „Da bin ich mir nicht so sicher.“
„Wenn ich eins weiß, dann, dass es nie zu spät ist für einen Versuch.“ Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Versuche es. Ohne den Schild... nun, du weißt ja... Wir sehen uns oben.“
„Sehr aufmunternd.“, brummte er.





Morlas putzte einige Gläser, seine starken Arme wie üblich entblößt. Eine junge Elbendame warf ihm hin und wieder Blicke zu und bestellte wahrscheinlich ihren sechsten Wein. Nein, er wusste genau, dass es ihr sechstes Glas war. Nityel erschien wie aus dem Nichts neben ihm, das Weinfässchen unterm Arm. Ihr scharfer Blick wanderte durch den leeren Schankraum. Bis auf einige wenige Elben und die drei Zwerge war es leer. Morlas erwartete ein Kniff in die Seite, da die Elbenmaid ihm deutliche Zeichen gab, doch seine Frau runzelte stattdessen die Stirn. Er stellte besorgt das Glas ab und trocknete seine Hände an der Schürze. Normalerweise hätte sie ihm die Ohren lang gezogen, stattdessen ließ sie fast das Fass fallen, sodass er es ihr abnehmen musste.
„Es ist so ruhig...“, sagte Nityel schließlich und es klang ominös. Sie blickte ihn an, ihre dunklen Augen leicht geweitet. Morlas ging ein Schauer über den Rücken. So aufgebracht hatte er sie noch nie erlebt. Selbst bei den Überfällen auf der Reise hier nach Westen nicht. „Meister Peregrin hatte davon gesprochen...“
Er legte ihr eine Hand um die Hüfte, die sie ergriff. Ihre Finger waren kalt und klammerten sich um die seine. „Was meinst du?“
„Das große Luftholen vor dem Sprung.“
Morlas' Magengrube krampfte sich zusammen, als er an Pippins Worte dachte, die der Halbling auch ihm erzählt hatte. Wortlos nahm er sie in den Arm und die starke Kinn-Lai vergrub ihren Kopf an seinen Schultern.





Elestora war mit ihren ganz eigenen Abenteuer beschäftigt. Sie lief einer streunenden Katze nach, die sie in die alten Viertel führten, weiter südlich. Hier waren die Gassen eng und mehr Ruinen als Zelte zu sehen. Sie mochte die Gassen nicht, aber Fari würde sich sicher freuen, wenn sie eine neue Freundin hatte. Oder Nammano. Der Mann aus Stahl, der Mutter und Großmutter immer beschützte. Nammano mochte Tiere. Sie lächelte breit, vielleicht würde er dann öfters mit ihr spielen. Und Nammano war gar nicht so garstig wie er immer tat. Er spielte nur mit ihr, wenn es keiner sah und sie musste Nammano immer versprechen es keinem zu sagen. Und sie war ein gutes Mädchen, sie hielt immer ihre Versprechen. Eilig hastete sie der Katze weiter hinterher in eine besonders enge und dunkle Gasse.
Ein schwarzer Schemen in einem Schatten ließ sie kurz zögern. Die weiß-blond getigerte Katze nutzt die Chance und quetschte sich mit einem maunzen zwischen zwei engen Steinwänden hindurch. Elestora ließ die Schultern hängen. Blöder Schemen! Sie lief darauf zu und es bewegte sich. Neugierig geworden folgte sie ihm. Mutter spielte ihr wohl wieder einen Streich - oder es war vielleicht ein anderes Tier. Sie folgte ihm tiefer in die immer unheimlich wirkendere Gasse und sie stockte. „Amil?“ Sie stolperte rückwärts, als der Schemen urplötzlich anhielt. Zu spät bemerkte sie, dass das kein Schemen war und er sich aufrichtete. Etwas packte sie. Kaltes Leder über ihren Mund verhinderte ihren gellenden Schrei, dann wurde sie von den Füßen gerissen.




Adrienne erstarrte mitten in der Bewegung, ein stechender Schmerz im Auge. Klirrend fiel ihr Schwert zu Boden. Stöhnend beugte sie sich nach vorn, eine Hand am Kopf, die andere gegen eine alte Steinwand gelehnt. Eine weiß-blond getigerte Katze strich ihr schnurrend um die Beine.
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Weit-Harad / Der Sturm auf Qafsah
« Letzter Beitrag von Fine am Gestern um 11:14 »
Aus der Sicht von Valirë vom Ethir

Valirë duckte sich, um einem Pfeil auszuweichen, der ihr vermutlich das Herz durchbohrt hätte. Dann hob sie den Speer eines gefallenen Kriegers auf und schleuderte ihn zu den Mauern hinauf, wo er an einer der Zinnen abprallte und klirrend irgendwo auf den Mauern zu Boden fiel.
Zweimal schon war es Erchirion und ihr beinahe gelungen, die Leitern zur rechten Seite des Tores zu erklettern. Beide Male waren sie daran gescheitert, die Spitze der Mauern zu erreichen. Valirë spürte Wut und Frust in sich aufsteigen. Wo war nur ihr Bruder? Warum war er nicht an ihrer Seite geblieben, als der Sturmangriff begonnen hatte? Und warum setzte Qúsay noch immer nicht seine gesamte Streitmacht ein?

Erchirion packte sie am Arm und zog sie weg, mit erstaunlicher Kraft und Bestimmtheit. In etwas Abstand von den Mauern, geschützt durch einige behelfsmäßige Holzkonstruktionen, sammelten sich die überlebenden Gondorer. Noch wehten die Banner des Weißen Baumes und des Silbernen Schwans tapfer inmitten der Belagerung, doch sie hatten bereits mehrere Verluste erlitten.
"Es hat keinen Sinn, planlos gegen diese Mauern anzurennen," sagte Erchirion. "Die Verteidigung ist hier zu stark, und solange Herr Qúsay nicht die volle Kraft seines Heeres einsetzt, werden wir sie nicht überwinden können."
Valirë wollte instinktiv widersprechen, doch Erchirion ließ sie nicht zu Wort kommen. "Wir ziehen uns für den Augenblick zurück," befahl er. "Nicht dauerhaft, aber für den Augenblick. Gondor hat bereits genug Blut in Qúsays Krieg vergossen."
"Aber Edrahils Auftrag..." setzte Valirë nun doch an.
"Edrahil ist nicht hier," entgegnete Erchirion überraschend schroff. "Er würde sich nicht in so eine aussichtlose Gefahr begeben." Die harten Gesichtszüge des Prinzen wurden etwas weicher, als er Valirës Blick suchte. "Ich will nicht, dass ein verirrter Pfeil oder ein Speer mich dessen beraubt, was ich erst vor so kurzer Zeit gefunden habe," sagte er etwas leiser, nur an Valirë gewandt.
Valirë war einigermaßen sprachlos. Mistkerl, dachte sie sich, das ist nicht fair. "Mein Bruder ist irgendwo dort draußen," stieß sie schließlich hervor, nachdem sie sich wieder etwas gefangen hatte.
"Er kann auf sich aufpassen," sagte Erchirion ruhig.
"Und du denkst, ich könnte das nicht?" schlug sie sofort zurück.
Anstatt ihr sofort zu antworten musterte Erchirion Valirë für einen langen Augenblick. "Ich stelle nicht deine Fähigkeiten infrage," stellte er klar. "Aber es ist etwas anderes, mitansehen zu müssen, wie dich ein tödlicher Pfeil trifft. Wie das Licht in deinen Augen erlischt, während ich neben dir stehe und nichts dagegen tun kann."
Valirë kochte innerlich. Sie hasste ihn dafür, und liebte ihn gleichzeitig. Dieser verdammte, starrsinnige, liebenswerte Idiot. Kurzerhand packte sie Erchirion und küsste ihn.

Ein ohrenbetäubendes Getöse riss sie aus dem flüchtigen Moment der Zweisamkeit. Beinahe glaubte Valirë, der Boden würde sich unter ihr bewegen, erschüttert von dem dröhnenden Ton, der von jenseits der Stadt zu ihnen herüberschwallte. Überall schienen die Kämpfe zum Erliegen zu kommen, so gewaltig war die Wirkung. Menschen zeigten nach Süden, in Richtung der Wüste, wo eine große Staubwolke aufgewirbelt worden war. Reiter rückten von dort heran, in geordneten Reihen und mit Schritt gehend, doch was die Aufmerksamkeit aller auf sich regte waren die gewaltigen Schemen, die sich nun nach und nach aus dem aufgewirbelten Wüstenstaub schälten. Riesig groß waren sie, sechs an der Zahl. Erhellt wurden sie von großen Feuerbecken, die mühelos Platz auf ihren breiten Rücken fanden, und ihr Licht auf für Valirë fremde Banner warfen. Der größte von ihnen war von hellerer Haut als die anderen fünf und trug ein gewaltiges Kriegshorn auf dem Rücken, von dem der durchdringene Ton gestammt haben musste. "Mûmakil!" brüllten die Krieger um sie herum, und identifizierten die riesigen Kreaturen damit ohne jeden Zweifel.
"Noch mehr Feinde?" stieß Valirë atemlos hervor.
"Ich... weiß es nicht," sagte Erchirion, der sich aufgerichtet hatte. "Sie haben noch keine Angriffslinie gebildet... und wirken nicht so, als wollten sie uns angreifen."
Unter den Kriegern Qúsays gab es wohl einige, die die Insignien auf den Bannern der Neuankömmlinge kannten. "Kerma," riefen sie "Kerma ist gekommen, um sich an Sûladan zu rächen..."
3
Weit-Harad / Der Zorn der Löwenmaid
« Letzter Beitrag von Fine am Gestern um 10:43 »
Valion von der Schlacht vor der Stadt...

Mehr durch Glück als durch Verstand landete er weich - in einem großen Stapel Unkraut, der wohl der Beginn eines neu angelegten Komposthaufens darstellte. Valion war in einem direkt an die Mauer angrenzenden Garten gelandet, der erstaunlicherweise recht gut gepflegt aussah. Vermutlich stand er im Besitz von jemandem, der sich einen privaten Brunnen leisten konnte.
Valion hatte allerdings keine Zeit, sich mehr Gedanken darüber zu machen. Sein Sprung in die Tiefe war nicht unbemerkt geblieben. Raue Stimmen hallten von den Mauern zu ihm herunter und er wusste, dass man rasch nach ihm suchen würde. Er rappelte sich auf, prüfte den Sitz seiner Schwerter, und verließ raschen Schrittes den Garten. Sein linkes Bein schien beim Sturz etwas abbekommen zu haben, denn er spürte bei jedem Auftreten einen leichten Schmerz, doch Valion schob das Gefühl beiseite. Er trat durch das hölzerne Törchen des Gartens und wandte sich nach rechts - in die Richtung, in der das Tor liegen musste.

Doch dann hielt er inne. Am Tor werden sie zuerst nach mir suchen, schoss es ihm durch den Kopf. Sie können es sich nicht leisten, dass jemand den Belagerern das Tor öffnet, und werden dort sicherlich schon auf mich warten. Er lief wieder los, und bog in eine kleine Gasse ab, weg vom Tor, um erst einmal außer Sicht zu kommen. Sein Herz pochte vor Aufregung, doch er zwang sich zur Ruhe. Als das Geräusch von metallbeschlagenen Stiefel auf dem Pflaster der Straße um die Ecke hörte, presste er sich rasch in den Türrahmen eines der Häuser in der Gasse.
Wenn ich zum Tor gehe, gebe ich die Chance auf, diese Frau, Taraezaphel, zu finden, wurde es ihm schließlich klar, während die Schritte wieder leiser wurden. Am Tor wird der Widerstand der Männer Sûladans am stärksten sein. Alleine komme ich dort niemals so weit, dass ich eine Gelegenheit bekäme, das Tor zu öffnen.
Nachdem er sich entschlossen hatte, nicht zum Tor zu gehen, löste Valion sich aus dem Türrahmen in dem er sich verborgen hatte. Er hob den Blick und sah zwischen zwei Dächern mehrere schlanke Turmspitzen aufragen. Das muss der Sultanspalast sein, überlegte er. Ich werde es dort versuchen. Entweder ich finde dort mein Ziel, oder ich kann eventuell die Wachen ein wenig ablenken, damit Narissa freie Bahn hat.

Auf dem Weg durch die ihm vollkommen fremde Stadt hatte er mehrere Male großes Glück, nicht von den herumstreifenden Wachen entdeckt zu werden. Doch ohne Vorkenntnisse über die Straßen Qafsahs dauerte es nicht lange, bis Valion sich vollkommen verirrt hatte. Zwar halfen ihm die Türme des Palastes als grobe Orientierungshilfe, doch er war gezwungen, die größeren Straßen zu meiden, und die Vielzahl von kleinen und kleineren Gassen waren oft so verzweigt und gewunden, dass sie ihn nur selten auf Anhieb in die richtige Richtung führten. Als er schließlich ungefähr zwei Stunden nach seinem Sprung von den Mauern aus einem weiteren Gässchen auf einen kleinen, verlassenen Marktplatz trat, hatte seine Glückssträhne ein Ende. Kaum hatte er den Schatten der Hauswände verlassen, stieß er beinahe mit einem Krieger zusammen, der über den Platz getrabt kam. Sein Gegenüber trug eine feste, rötliche Lederrüstung mit großen eisernen Schulterschützern. Sein Haar und Bart waren schwarz, lang und lockig und zwei gezackte Klingen hingen an seinem Gürtel.
Ohne auf einen Reaktion des Mannes zu warten zog Valion seine Schwerter und hieb auf den Kerl los. Doch obwohl dieser breit und massig gebaut war, wich der Südländer Valions Angriff aus und wirbelte um die eigene Achse, hatte auf einmal in jeder Hand eines seiner Schwerter, und ging zum Gegenangriff über.
"Spiel nicht mit deiner Beute, Breyyad," sagte eine Frauenstimme hinter Valion, doch er hatte keine Zeit sich nach ihr umzublicken. "Wir müssen zusehen, dass wir zum Tor kommen. Wenn es dieser eine hier über die Mauern geschafft hat, werden ihm sicherlich noch mehr folgen."
Breyyad - Valions Gegner - brummte etwas Unverständliches, dann versetzte er Valion einen Hieb auf den linken Oberschenkel, als hätte er mit einem einzigen Blick erkannt, dass dessen Bein bereits angeschlagen war. Heißer Schmerz schoss durch das Bein und Valion taumelte einen Schritt rückwärts. Er bekam keine Gelegenheit, sich wieder zu fangen, denn Breyyad stürzte sich sofort wieder auf ihn. "Ich bin gleich fertig hier, Rae..." knurrte der Südländer und durchbrach Valions wackelige Deckung, packte ihn am Hals und schleuderte ihm mit beängstigender Kraft gut einen Meter über den Marktplatz. Valion gelang es irgendwie, sich halbwegs abzurollen und sprang auf die Beine, den Schmerz in seinem Bein für einen Moment vergessend. Breyyad hob die Klingen, doch Valions Aufmerksamkeit richtete sich nun auf die Frau, die neben dem Krieger stand. Schwarzhaarig, dunkle Augen, blaues Halstuch, Kettenhemd, gestreiftes Stirnband... sie passte exakt auf die Beschreibung des Grundes, warum Valion überhaupt in Qafsah war.
Valion ging ein Gedanken durch den Kopf, gerade als Breyyad wieder auf ihn losstürmen wollte. Keuchend rief er der Frau zu: "Edrahil schickt mich."
Beide Gegner erstarrten. Taraezaphels dunkle Augen verengten sich, und ein Ausdruck von Abscheu, aber auch etwas anderes huschten über ihr hübsches Gesicht - war das ein Anflug von Furcht gewesen, oder hatte Valion sich das eingebildet?
"Beende es, Breyyad," sagte sie, kalt, und mit Verachtung in der Stimme. Hinter ihr begann der Marktplatz sich mit Wachen zu füllen, die zweifelsfrei vom Kampflärm angelockt worden waren. Valion wurde klar, dass er nur noch eine letzte Gelegenheit hatte. Er nahm all seine Kraft zusammen und sprang los, während er das Schwert in seiner rechten Hand mit voller Wucht gegen Breyyad schleuderte. Instinktiv hieb der stämmige Krieger danach und entblößte damit seine Deckung. Valion hatte die Distanz zwischen ihnen mit seinem Sprung überbrückt und stieß seine zweite Klinge durch die freie Achselhöhle tief in den Brustkorb Breyyads. Dieser sackte tot zusammen, doch Valion hielt nicht inne. Mit einer Drehung zog er das vor Blut spritzende Schwert aus dem Körper, nutzte den Schwung um sich zu Taraezaphel zu drehen, ehe ihn die heranstürmenden Wächter ergreifen konnten, und...
...prallte taumelnd zurück, als seine Klinge von einem Langschwert pariert wurde.

"Ergreift ihn," sagte Taraezaphel und ließ ihren Anderthalbhänder sinken. Wie sie es geschafft hatte, die Klinge so rasch zu ziehen, war Valion ein Rätsel. Doch es machte keinen Unterschied. Er war gescheitert. Die Wächter packten ihn und rissen ihm das Schwert aus der Hand. Taraezaphel ragte über ihm auf, die Klinge zum Todesstoß erhoben. "Ich werde Edrahil von deinem tollkühnen Mut berichten," sagte sie und Valion war es beinahe, als klänge auf einmal ein Hauch von Mitgefühl in ihrer sonst so gefühlskalten Stimme mit. Doch mit dem nächsten Satz war dieser Eindruck sofort wieder vorbei. "Ich erzähle ihn von deinem letzten Kampf, während... ich ihn zu Tode foltere."
Sie senkte die Spitze der Klinge leicht, sodass sie auf Valions Kehle zeigte. "Auf Wiedersehen, ungestümer, tapferer Narr." Valion schloss die Augen.

Doch anstelle eines raschen Todes ertönte ein durchdringender, tiefer Ton, der die Luft zum Beben brachte. Es kam von... außerhalb der Stadt? Valion war sich nicht sicher. Taraezaphel hingegen schien gleich zu verstehen, was es zu bedeuten hatte. "Ein Kriegshorn," stieß sie wütend hervor. "Also ist es ihm tatsächlich gelungen, das alte Reich..." sie brach mitten im Satz ab und ließ ihr Schwert sinken. "Wir können hier nicht bleiben," wies sie die Wächter an, die Valion noch immer festhielten. "Es wird Zeit zu retten, was in dieser verfluchten Stadt noch zu retten ist." Damit ballte sie die Faust, und verpasste Valion einen gezielten Hieb gegen die Schläfte. Ihm wurde schwarz vor Augen und er spürte... nichts mehr.
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Weit-Harad / Die Überwindung der Mauer
« Letzter Beitrag von Fine am Gestern um 10:43 »
Der Schweiß tropfte Valion von der Stirn, als er das Visier seines Helms leicht anhob, um einen besseren Blick nach oben zu den bewehrten Mauern über ihm werfen zu können. Es war heiß - verdammt heiß. Und das, obwohl von der Sonne nicht mehr als ein letzter rötlicher Lichtstrahl am westlichen Horizont übrig geblieben war. Valion wusste, dass die Kälte der nächtlichen Wüste sich rasch einstellen würde, sobald noch etwas mehr Zeit vergangen war, doch für den Augenblick machte das keinen Unterschied. Beinahe hätte er sich für einen Moment gegen die Mauer vor ihm gelehnt, um durchschnaufen zu können. Doch er wusste, dass er dort ein leichtes Ziel für die Verteidiger Qafsahs sein würde, wenn er nicht in Bewegung blieb. Die Krieger Sûladans hatten Steine und andere Wurfgeschosse bereit gehalten, um Qúsays Sturmangriff abzuwehren - und bis jetzt gelang ihnen das recht gut.

Valion verfluchte wieder einmal die Ungeduld seiner Schwester. Valirë war wie so oft in der vordersten Reihe losgestürmt, als der Angriff auf das ihnen am nächsten gelegene Tor Qafsahs endlich freigegeben wurde, und prompt hatten die Zwillinge einander im entstandenen Getümmel aus den Augen verloren. Erchirion ist bei ihr, versicherte er sich in Gedanken. Zuletzt hatte Valion die Banner Gondors und Dol Amroths, die nebeneinander im Wind wehten, auf der ihm gegenüberliegenden Seite des großen Torhauses gesehen.
Ein Krachen riss Valion aus seiner kurzzeitigen Starre, und er sprang instinktiv rückwärts. Dort, wo er eben noch gestanden hatte, bohrte sich ein großer Felsen in den zertrampelten Erdboden. Valion schüttelte knapp den Kopf, um sich wieder zu fokussieren. Sein Ziel hatte sich nicht geändert. Er musste einen Weg finden, diese verdammte Mauer zu überwinden. Entweder würde er seine Schwester auf der anderen Seite wiederfinden... oder den Auftrag Edrahils ohne sie zu Ende bringen.

Eine der behelfsmäßigen Belagerungsleitern stürzte um, keine fünf Meter von Valion entfernt. Kurzerhand packte er mit an, als mehrere Krieger begannen, sie wieder aufzurichten. Pfeile regneten auf sie nieder. Einige fanden ihr Ziel. Doch die Leiter fiel nicht erneut um. Kaum war sie gegen die Zinnen Qafsahs gelehnt, begannen die Haradrim Qúsays, daran hochzuklettern. Andere klammerten sich mit ihren Körpern an die Standfüße der Leiter, um sie so gut es ging an Ort und Stelle fest zu halten. Der oberste Krieger stürzte ab, von einem geworfenen Speer durchbohrt, doch der Zweite sprang geschickt von der Leiter auf den Wehrgang und verschaffte sich dort Platz, indem er mit seinem Schwert herumwirbelte. So gelang es drei weiteren Haradrim, auf die Mauer zu gelangen, und auch Valion stand schließlich oben. Er warf einen Blick nach rechts, wo eine lange Treppe zum Torhaus hinauf begann, und erkannte sofort, dass dort mit nur vier Mann kein Durchkommen sein würde. Offenbar hatte Sûladan dort einen Teil seiner besten Krieger platziert. Männer mit langen Schilden und Speeren rückten gegen das Mauerstück vor, das Valions Begleiter kurzzeitig erobert hatten. Zwar kletterten neue Haradrim die Leiter hinauf, doch die Krieger auf den Mauern wurden von zwei Seiten bedrängt und in der Unterzahl. Valion hieb einen aufdringlichen Feind mit dem Schwertknauf nieder, dann handelte er instinktiv - und sprang von der Mauer ins Innere Qafsahs hinab.

Valion nach Qafsah
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Eregion / Besprechung unter aufziehenden Schatten
« Letzter Beitrag von Curanthor am Gestern um 03:16 »
„Unsere Späher berichten, dass die vermummten Krieger unter weißer Flagge ihren Schritt stark verlangsamt haben“, berichtete Baranthea von den Hwenti, „Es ist nur eine Hand voll in schwarz gekleidete Fremde, aber sehr schwer gerüstet und hinterlassen so gut wie keine Spuren. Wenig Proviant, bis auf einen großen Leinsack. Keine Orks, soweit wir beurteilen konnten. Zu wenige für einen Angriff.“
„Was auf ein relativ nahes Lager hinweist“, schloss Isanasca besorgt und nickte knapp zum Dank.
Baranthea, eine junge Hwenti-Elbe kaum dem Jugendalter entsprungen lief eine Spur rot an und trank hastig einen Schluck Wasser.

Mathan strecke seine Füße. Sie saßen schon seit einiger Weile auf hölzernen Stühlen in einem großen Kreis im Thronsaal. Fast alle Anführer oder Sprecher der Avari waren gekommen, Aéd saß neben Faelivrin und gönnte sich einen leichten Wein, den Ivyn gerade ausschenken ließ. Der Wolfskönig hörte aufmerksam zu und hatte bisher nur versichert, dass seine Krieger bald eintreffen werden. Sarante von den Kinn-Lai saß direkt nehmen ihn und wollte etwas sagen, als eine Nebentür aufschwang und Amarin den Raum betrat. Er wirkte müde, sein Gesicht mit Ruß verschmiert, eine lederne Augenklappe verdeckte sein trübes Auge.
„Weitermachen.“ Er hob nur lässig einen Arm und lehnte sich an den Türrahmen.
Einige blickten irritiert zu ihm, dann zu Faelivrin und Ivyn, die jedoch keine Regungen zeigten.
Merolon von den Kindi erhob das Wort: "Ich denke, diese Fremden sind uns ohne Zweifel feindlich gesinnt und mit der Absicht gekommen, unsere Verteidigungsanlagen auszukundschaften . Es wird wohl keine Verhandlung geben.“ Seine tiefe Stimme verhallte kaum im Saal, als Adrator von den Cuind ein leises Schnaubten von sich gab.
„Wart Ihr es nicht, die lieber den Kopf in den Sand stecken wolltet? Jetzt sind es 'unsere' Verteidigungsanlagen?“, fragte Sarante spitz und wandte sich an Faelivrin, „Dennoch ist die Überlegung nicht so abwegig.“
„Wir sollten sie von hier vertreiben“, schlug Adrator vor, „Wahrscheinlich waren sie es, die unsere Siedlungen überfallen haben.“
Fanathr hob beschwichtigend die Hände: „Wir sollten nicht übereilt handeln.“

Mathan tauschte einen Blick mit seinem Vater. Amarin rollte etwas mit den Augen. Sie beide hatten keinen großen Gefallen an Verhandlungen oder großen Besprechungen.
Er unterdrückte ein Grinsen und deckte sein Glas rasch mit einer Hand ab, als eine Elbenmagd ihm nachschenken wollte: „Danke, wir sollten einen klaren Kopf bewahren.“
Seine Tochter wandte ihm daraufhin ihren Blick zu. Mathan kannte diesen Ausdruck. Fordernd. Er räusperte sich leise und wandte sie stattdessen zu seiner Enkelin, während Faelivrin kurz überrascht eine Braue hob: „Prinzessin?“
Isanasca trug ein kleines Veilchen in ihrem blonden Haar und hatte bisher kein Wort gesagt. Sie hatte die ganze Zeit über schweigend dort gesessen und eher wie ein Rüstungsständer gewirkt.

„Ich denke, wir sollten sie vor den Toren anhören“, sagte sie schließlich bedacht, als alle Blicke auf ihr lagen, „Die äußerlichen Verteidigungsmerkmale werden sie auch so erkennen, da macht es keinen Unterschied ob sie auf der Anhöhe stehen oder direkt vor dem Tor.“

Ehe murren oder Widersprüche kamen, erklang unvermittelt Amarins Stimme: „Außerdem sollten wir herausfinden mit was wir es zu tun haben. Keine Orks? Ungewöhnlich. Dann doch Menschen im Dienste Sarumans? Etwas anderes? Mir gefällt das nicht.“

Ivyn nickte zustimmend und Mathan fiel auf, das sie das erste mal unruhig wirkte. „Etwas trübt meine Sicht, doch sie zu vertreiben wäre töricht.“ Ihr Kopf ruckte zum Tor, ihre Blick ging ins Leere, „Und doch sind es Augenblicke wie dieser... die mir Sorgen bereiten.“

„Amante hat mir eben davon berichtet“, ergänzte Amarin besorgt, „Und auch andere mit der Gabe berichteten ähnliches.“

Die übrigen Avari murmelten zustimmend und tuschelten besorgt, während Faelivrin Aéd scheinbar mit leisen Worten erklärte, worum es ging.

„Ich schlage vor...“, hob Isanasca an und wurde unterbrochen als ein Bote eintrat. Sie wartete, während er eilig herankam und ihr den Bericht ins Ohr flüsterte. Sie nickte knapp.
Ivyn wandte sich an Mathan mit einem zuckendem Mundwinkel, ihre Augen voll mit silbernen Glanz: „Feldherr, holt euer Großschwert und euren Schild, Ihr werdet sie brauchen.“
Mathan starrte sie einen Moment lang an. Sein Großschwert hatte er schon seit sehr langer Zeit nicht mehr geführt. Und wenn, dann in seinen verzweifelten Stunden. Sein Magen zog sich zusammen. Ihn beschlich ein aufkommendes Gefühl von Verderben.
„Geht“, drängte Ivyn, die irritierten Gesichter der übrigen Elben ignorierend, „Amarin, es ist Zeit.“
Sein Vater gab ein fast schon trauriges Atmen von sich und das teilnahmslose Gesicht verhärtete sich zu noldorischen Stahl. Er zog Mathan unvermittelt vom Stuhl, der mit anfangs wackeligen Beinen auf die Füße kam. Gemeinsam verließen sie den Saal über eine Seitentür. Er hörte noch, wie Faelivrin verkündete, dass die wichtigsten Mitglieder des Hauses und Verbündeten auf die Torburg des nördlichen Tores als Zeugen kommen sollten, wenn die Fremden in Sichtweite waren.

In dem engen Gang kam ihnen Nivim entgegen. Sie wirkte überrascht und machte breit grinsend Platz, ihre knallgrünes Kleid schien brandneu zu sein. Mathan war froh, dass wenigstens sie ihre gute Laune nicht verloren hatte.
„Na, habt ihr Estora gesehen? Sie hat sich heute wieder einmal gut versteckt.“
„Bedaure“, Amarin schüttelte den Kopf, „Du solltest außerdem sie jetzt nicht mehr aus den Augen lassen.“
Nivim kicherte, auch wenn selbst ihr freudiges Gemüt merklich gefasster wirkte. „Das habe ich vor, letztens hatte es einen ganzen Tag gedauert sie zu finden.“
„Wenn du uns entschuldigst.“
Sein Vater schob Mathan weiter, sodass sie wieder zurück in der Eingangshalle kamen.
„Hättest du vielleicht die Güte mir zu erklären, was los ist? Was sollte der merkwürdige Austausch vorhin?“, platzte es aus Mathan hervor, seine Schritte verlangsamend.
Amarin machte kurz halt. „Ich hole das Schwert und den Schild. Du... suchst nach jenen, denen du vertrauen kannst.“
Mathan blinzelte verwirrt. „Vertrauen? Warum? Es ist doch noch keine Belagerung-...“
Sein Vater packte ihm grob am Schulterpanzer und zog ihn dicht an sich. „Verstehst du denn nicht?! Etwas wandert in dieser Stadt... und die Saat der Verrats wurde ausgebracht.“ Sein Blick hastete unstet durch die Halle, die glücklicherweise für diesen kurzen Augenblick leer war, „Vertraue niemanden, dem du nicht durchs Blut verbunden bist... und sei selbst dann wachsam."
Mit dem Worten ließ sein Vater Mathan in der Halle stehen. Etwas verdattert blieb er noch eine Weile dort. War Amarin wieder in eine seiner geistigen Umnachtungen zurückgefallen? Ivyn schien aber das ausgelöst zu haben, so als sie beide es erwartet hatten. Vielleicht hatte sie durch den Schleier gesehen? Er kaute auf seiner Unterlippe. Eigentlich würde er Halarîn um Rat fragen, aber sie wollte er jetzt nicht damit belasten, nicht in ihrem Zustand. Kerry hatte ihren Kopf voll mit allerlei Gefühlskram, wie er so gehört hatte – sie war außerdem nicht so gefestigt, dass er ihr das zumuten konnte. Wen könnte er verrtauen?

„Du siehst aus, als ob du einen zweiten Kopf gebrauchen könntest...“
„...oder jemanden, der dir das Denken abnimmt, so wie das raucht.“

Mathan blickte auf und vor ihm standen die zwei Elbendamen, mit denen er am wenigsten gerechnet hatte. Beide grinsten schelmisch, wenn auch deutlich reifer wirkend als zuvor.
„Wir sind hoffentlich nicht zu spät?“ Yutée musterte ihn mit einem vielsagendem Blick.
Sabaia – die ihre dunkelblonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte zwinkerte ihm zu: „Irgendwie haben wir uns immer verpasst.“

Die drei umarmten sich, wenn auch nur kurz. Er spürte, dass sie ihre ganz eigenen Abenteuer erlebt hatten. Er bemerkte die Kette, die sie jeweils um den Hals trugen. Den Stahl gab es nur an einem Ort der Welt, an dem er vor einiger Zeit nach beschwerlicher Reise verweilt war. Sie trugen identische, weite Kapuzenmäntel, einzig an ihren Frisuren konnte man sie unterscheiden.

„Wir haben viel zu bereden“, stimmte er schließlich zu, „Und ihr seid genau zu rechten Zeit gekommen. Verdächtig genau.“ Mathan war froh sie zu sehen, erleichtert ebenfalls, aber das ungute Gefühl im Magen wollte einfach nicht weichen. Irgendwas übersah er, oder schaute zur falschen Stelle.

Beide hoben eine Braue. „Mutter schickte uns hier her.“
Yutée strich sich eine Strähne ihres offenen Haars aus dem Gesicht. „Sie hat auch nicht mehr gesagt, nur, dass wir zu dieser Stunde hier sein sollten.“
Sabaia runzelte besorgt die Stirn als sie ihn genauer musterte. „So schaust du nur aus, wenn irgendwas gefährliches in der Luft liegt... und die Anspannung in der Stadt. Zeitdruck? Offensichtlich. Geschwisterbesprechung, jetzt sofort.“
Ihr Zwilling hakte sich bei ihm unter, woraufhin sie es ihr gleichtat. „In der Schnellfassung.“
Er nickte nur und führte beide in eine unbenutzten Kammer im Ostflügel.
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Weit-Harad / Re: Qafsah
« Letzter Beitrag von Eandril am 20. Okt 2024, 22:06 »
Narissa von vor der Stadt

Qafsah war in Dunkelheit gehüllt, als Narissa am oberen Ende der Treppe durch die eisenverstärkte Tür nach draußen schlüpfte. Die Sonne war inzwischen vollständig untergegangen und auch die Sterne waren verhüllt. Von der südöstlichen Mauer und dem dort gelegenen Haupttor drang der Lärm der Schlacht heran, doch die Gassen der Stadt schienen beinahe vollständig leergefegt zu sein. Vermutlich hatten die Verteidiger die Bevölkerung gezwungen, sich in ihren Häusern zu verbergen. Das kam Narissa nicht gerade gelegen, denn in einer aufgeregten Menschenmenge wäre sie mit Sicherheit weniger aufgefallen. Sie verfluchte nicht zum ersten Mal ihre Haarfarbe, die sie auch in der fast vollständigen auffallen lassen würde, und ärgerte sich über sich selbst, nicht wenigstens eine Kapuze mitgenommen zu haben. Andererseits hatte sie ja nicht damit gerechnet, sich durch die Stadt schleichen zu müssen... Sie hoffte, dass die Zwillinge und auch Eayan, der sich an der der Schlacht abgewandten Seite der Stadt über die Mauern schleichen wollte, besser vorankamen als sie.
Vorsichtig arbeitete Narissa sich durch die engen Gassen voran, duckte sich immer wieder hinter Säulen und Kisten sobald sie irgendwo in der Nähe Schritte hörte. Hin und wieder eilten Trupps Soldaten durch die Stadt, brachten Pfeile oder Verstärkung zur Mauer, doch durch ihre Rüstungen hörte Narissa sie meistens bereits, bevor sie auch nur den Schein ihrer Fackeln sah.
Schließlich erreichte sie den großen Platz vor dem Haupteingang des Palastes, verließ die Gasse durch die sie gekommen war jedoch nicht. Stattdessen kauerte sie sich hinter einem etwas unangenehm riechenden Fass nieder, und versuchte, sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Es sah nicht gerade vielversprechend aus. Zumindest von außen war der Palast trotz des Angriffs auf die Mauern so stark bewacht wie gewöhnlich, wenn nicht sogar stärker. Auf dem Vorplatz patrouillierten zwei Gruppen von fünf Wächtern, und vor dem großen Haupteingang zählte Narissa sechs weitere Männer. In der Dunkelheit konnte sie nicht viel mehr erkennen, doch sie war sich sicher, dass alle Nebeneingänge mindestens ebenso stark bewacht wurden. Auf diesem Weg würde es für sie kein einfaches Durchkommen geben - zumindest nicht, solange sie sich nicht etwas unauffälligere Kleidung beschafft hatte.
Schweren Herzens wandte sie sich vom Palast ab und schlich wieder zurück in das Gewirr der Gassen. Dieses Mal wandte sie sich nach Westen, in Richtung des Viertels in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte. Ein, zwei Mal ließen sie ihre Erinnerungen im Stich und führten sie in die Irre, doch schließlich erreichte sie den Hinterhof, den sie so gut kannte. Narissa hoffte, dass Yanas Haus noch leerstand - zwar war es nun schon einige Zeit her, dass sie Qafsah verlassen hatte, doch es war Narissas einzige Hoffnung, einen unauffälligen Unterschlupf zu finden.
Hinter den Fensterläden war kein Lichtschein zu erkennen. Narissa stieg vorsichtig die drei hölzernen Stufen zur Hintertür des Hauses hinauf, bemüht, jedes Knarren der Bretter zu vermeiden. Sie verschloss ihren Geist gegen die Flut an Erinnerungen, die bei jedem Schritt auf sie einstürzten - Erinnerungen an ihre Kindheit, aber auch an das letzte Mal, das sie hier in Qafsah gewesen war. Erinnerungen an Níthrar, der dreimal leise an der Tür klopfte, vor der sie jetzt Stand. An Aerien, die bleich und mit weit aufgerissenen Augen zur Tür hereinstürzte nach ihrer Begegnung mit dem Nazgûl in den Straßen der Stadt. An Yanas müdes und ausgezehrtes Gesicht. An Serelloth und Elendar, glücklich, bevor alles schiefgegangen war. An Aerien, wie sie in ihrem Kleid vor dem Spiegel stand. An Aerien, die aus dem Palast zurückkehrte, lächelnd. An Aerien...
Narissa atmete tief durch, und legte die Hand gegen den Türgriff, drückte - doch die Tür rührte sich nicht. "Kein Grund zur Panik", flüsterte sie sich selbst zu. "Wahrscheinlich hat Yana die Tür damals verriegelt, damit nicht irgendwelche Strolche hier einziehen..." Die Tür hatte kein Schloss, und wenn sie sich richtig erinnerte, wurde von innen ein Riegel vorgelegt, um sie zu verschließen. Sie zog Ciryantans Dolch hervor, und schob ihn in den Spalt zwischen Tür und Rahmen. Es dauerte nicht lange bevor sie den Riegel gefunden und angehoben hatte.
Die Tür knarzte leise, als Narissa sie einen Spalt weit aufdrückte, und ins beinahe stockfinstere Innere des Hauses schlüpfte. Drinnen roch es keineswegs so abgestanden wie sie erwartet hatte, doch bevor sie Zeit hatte darüber nachzudenken, hatte sich von hinten eine kalte Klinge an ihrer Kehle gelegt.
Narissa erstarrte. Sie nahm sich keine Zeit, sich über ihre Unvorsichtigkeit zu ärgern - dazu würde sie später Gelegenheit haben. Falls es ihr gelang, sich aus dieser Situation irgendwie herauszuwinden...
"Wer immer du bist...", begann sie leise und mit gezwungen ruhiger Stimme, und hob langsam beide Hände. Bevor sie weitersprechen konnte, war die Klinge bereits von ihrem Hals verschwunden, und eine weibliche Stimme sagte: "Bist du verrückt hier einfach so aufzutauchen?" Eine bislang abgedeckte Lampe erhellte flackernd den Raum, und Narissa sah sich ihrer Kindheitsfreundin Yana gegenüber.



Fünfzehn Jahre zuvor...

"Mutter hat mir schon wieder die Haare abgeschnitten", schniefte Narissa, und vermied es dabei Yanas schwarze Haare, die dem anderen Mädchen bis auf den Rücken hinunterfielen, anzusehen. Ihre Freundin strich ihr sanft über den Rücken. "Schon wieder Läuse?", fragte sie mitfühlend. "Das kann doch nicht sein. Bei euch ist es doch immer sauber." Narissa fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase und schniefte erneut. Für ein Mädchen von acht Jahren war es nicht leicht, immer mit kahlem Kopf oder mit Mütze herumzulaufen, während all ihre Freundinnen normal aussahen. Sie hatte darüber schon viel Spott und Hänseleien von den anderen Kindern des Viertels auf sich gezogen, nur von Yana nicht. Deshalb saßen sie jetzt auch gemeinsam am Fuß eines der mächtigen Wachtürme von Qafsahs Mauer, nachdem Narissa nach überstandener Kopfrasur so schnell wie möglich von zuhause weggelaufen war. Natürlich hatte Yana sie als erste gefunden. Eine beste Freundin wusste schließlich immer, wo die andere beste Freundin war.
"Kannst du deine Mutter nicht irgendwie überreden, deine Haare einfach wachsen zu lassen?", fragte Yana gerade. "Das kann doch nicht wirklich nötig sein."
Narissa wischte sich eine unwillkommene Träne aus dem Augenwinkel. "Ich hab's ja schon versucht. Immer wieder. Aber sie hört mir nie richtig zu. Und sie findet immer einen Grund."
"Deine Mutter ist schon ein bisschen seltsam." Da hatte Yana Recht. Narissa liebte ihre Mutter, keine Frage... aber seltsam war sie schon. Nicht nur wegen der Sache mit den Haaren. Wenn Narissa ihre Mutter mit den anderen Bewohnern Qafsahs verglich, fiel ihr auf, dass sie eher einigen der reisenden Händler oder Zuwanderer glich als den Leuten, deren Familien schon seit Ewigkeiten in der Stadt lebten. Manchmal verschwand sie auch ohne Erklärung für ein paar Tage und kehrte hin und wieder plötzlich mitten in der Nacht zurück. Ihr Vater, Yaran, schien zwar irgendetwas darüber zu wissen, doch Narissa hatte noch nie Erfolg damit gehabt, auch nur irgendein Wort aus ihm heraus zu bekommen.
"Und du bist auch seltsam", redete Yana weiter, doch bevor Narissa aufbrausen konnte, hatte Yana den Arm um ihre Schultern gelegt und sie an sich gezogen. "Aber du bist trotzdem meine beste Freundin für alle Zeiten, Nissa."



"Bist du verrückt, hier zu sein?", gab Narissa im gleichen Tonfall zurück, noch bevor ihr der mächtig gerundete Bauch auffiel, den ihre Freundin vor sich hertrug. Sie schlug vor Schreck die Hand vor den Mund. "Yana, du bist..."
"Schwanger, ich weiß." Yana ließ sich mit einem Ächzen auf die Kante ihres Bettes fallen und lächelte bitter. Auf ihrer Stirn glänzten Schweißtropfen im flackernden Licht der Lampe. Narissa setzte sich ein wenig zögerlich neben sie. Eine Stimme in ihrem Hinterkopf versuchte sie zu erinnern, dass sie eigentlich keine Zeit dafür hatte, doch sie hörte nicht hin. "Von wem? Seit wann?"
"Seit wann? Kurz bevor ich die Stadt mit euch verlassen habe", erwiderte Yana. "Von wem? Von irgendeinem meiner Freunde im Palast, aber genauer... keine Ahnung." Narissa spürte, wie sie zusammenzuckte und ein wenig verkrampfte, und legte ihr einen Arm um die Schultern. "Und Eayan hat dich wieder zurückgeschickt? In dem Zustand?"
Yana schüttelte den Kopf. "Er wusste nichts davon." Ihre Stimme klang beinahe ein wenig schuldbewusst. "Ich habe ihm angeboten, zurück nach Qafsah zu gehen, als Informantin, und er hat das Angebot angenommen."
"Und du... du wusstest bereits Bescheid?" Yana blickte in ihren Schoß hinunter. "Ich hatte bereits den Verdacht. Aber... ich wusste, dass ich noch ein paar Monate Zeit hatte. Und ich wollte helfen. Ich wollte nützlich sein, wie du oder Aerien." Ihre Stimme zitterte ein wenig.
Narissa fasste ihre Schulter ein wenig fester. "Oh, schön. Mach mir nur Schuldgefühle..."
"Das... war nicht meine Absicht, Nissa. Ich wollte auch, dass mein Kind in Qafsah zur Welt kommt. Was auch immer hier geschehen sein mag, es ist die einzige Heimat die ich habe."
"Du hättest eine andere haben können!", fuhr Narissa auf, beruhigte sich aber sogleich wieder, als Yana zusammenzuckte. "Du hättest mit mir kommen können. Wir hätten dir eine neue Heimat geben können."
"Vielleicht", erwiderte Yana müde. "Aber das ist jetzt gerade nicht von Belang." Sie stöhnte leise auf und krümmte sich ein wenig. Narissa sprang von der Bettkante auf. "Du... heißt das... Wann hat es angefangen?" Mit einem Schlag hatte sie begriffen.
"Nicht allzu lange bevor du hier aufgetaucht bist." Yana lächelte schwach. "Du bist genau zum falschen - oder richtigen - Zeitpunkt gekommen." Narissa ergriff ihre Hand, die eiskalt war. "Was soll ich tun?"

Nur kurze Zeit später hastete Narissa, dieses Mal ohne große Vorsicht walten zu lassen, durch die engen Gassen. Mit Mühe ignorierte sie die Stimme in ihrem Hinterkopf, die ihr immer drängender vorwarf, Zeit zu verschwenden. "Sie war... ist meine beste Freundin", flüsterte sie vor sich hin. "Und sie braucht Hilfe." Sie blieb vor einem ein wenig schiefen Haus mit einer Tür, die offenbar vor langer Zeit einmal blau angemalt worden war, stehen, und klopfte kräftig dagegen. Sie hielt es vielleicht drei Augenblicke aus, bevor sie erneut klopfte.
"Ja, ja. Nur keine Hast", ertönte eine Stimme von drinnen, bevor sich schlurfende Schritte näherten und die Tür geöffnet. "Etwas wichtiges, nehme ich an?", fragte die leicht gebeugte Frau, in deren grauen Haaren sich nur noch einzelne schwarze Strähnen zeigen.
"Ihr seid Safina?", fragte Narissa ein wenig atemlos. "Die Hebamme." Die Alte nickte knapp. "Um wen geht es? Offenbar ja nicht um dich selbst", fügte sie hinzu, nachdem sie Narissa von oben nach unten betrachtet hatte.
"Yana bint'Ayman", stieß Narissa hervor, und bevor sie mehr sagen konnte, unterbrach die Hebamme sie bereits. "Ah, ist es also soweit." Sie warf einen Blick nach Süden, von wo noch immer die Geräusche der Schlacht herandrangen. "Sie hat sich ja eine schöne Nacht ausgesucht. Der Sultan hat eine Ausgangssperre verhängt..." Narissa wollte schon protestieren, als Safina mit der Zunge schnalzte. "Na, ein Kind interessiert sich selten dafür, ob der Zeitpunkt gerade passt. Gib mir einen Augenblick, meine Sachen zu holen."

In Yanas Haus lief Narissa unruhig auf und ab. Yana lag auf dem Bett, während die Hebamme Safina saubere Tücher und Wasser bereit stellte und allerlei andere Vorbereitungen traf, die Narissa vollkommen rätselhaft erschienen. Vielleicht hatte ihre Ausbildung auf Tol Thelyn doch einige Lücken gelassen...
"Du hast mir noch nicht gesagt, warum du überhaupt hier bist", sagte Yana plötzlich. Narissa zuckte zusammen, aus ihren Gedanken gerissen. Die Stimme, die sie zur Eile antrieb, übertönte mit einem Mal alles andere. "Ich..." Sie atmete tief durch, blieb stehen und sah ihrer Freundin direkt ins Gesicht. "Du weißt, warum ich hier bin."
"Ich kann es mir denken", erwiderte Yana leise, und presste die Lippen aufeinander. "Allerdings frage ich mich, warum du dann hier bist und nicht im Palast."
"Der Palast ist bewacht", erklärte Narissa, und fuhr sich mit der Rechten durch die Haare. "Und damit bin ich zu auffällig um mich hereinzuschleichen. Langsam verstehe ich, warum meine Mutter sie immer abgeschnitten hat..."
Yana lachte leise. "Ich habe oben einige Mäntel und Kapuzen liegen. Nimm was du brauchst. Und außerdem..." Sie zog einen kleinen eisernen Schlüssel hervor. "Den wirst du auch brauchen." Narissa nahm den Schlüssel stumm entgegen, und schloss für einen Augenblick ihre Hände um Yanas.
"Erinnerst du dich an einen Mann namens Hazin? Er hat Aerien damals in den Palast gebracht. Der arme Kerl hat mich während meiner Abwesenheit offenbar schrecklich vermisst..." Yana lächelte leicht, und erklärte: "Er hat mir den Schlüssel gegeben. Auf der Ostseite der Gärten gibt es eine kleine Lücke in der Mauer - wenn ich es geschafft habe, mich hindurch zu quetschen, schaffst du es erst recht. Wenn du den Palast erreichst, folge der Wand nach Norden. Es gibt dort eine kleine Tür, zu der der Schlüssel passt."
Narissa ließ den Schlüssel vorsichtig in den Beutel, der auch ihre Dolche enthielt, gleiten. "Was ist mit diesem Hazin? Wird er nicht dort sein?" Yana schüttelte den Kopf, und ihre Augen schimmerten verdächtig. "Vor drei Wochen hat Sûladan ihn für irgendeinen Fehlschlag verantwortlich gemacht und auf dem Platz vor dem Palast hinrichten lassen." Narissa drückte ihre an. "Tut mir Leid", sagte sie schlicht, und Yana schniefte ein wenig. "Er war sicherlich kein guter Mann", erwiderte sie. "Aber zu mir war er immer nett und niemals grausam - das ist mehr, als all die anderen behaupten könnten."

Nachdem sie sich Mantel und Kapuze übergezogen hatte, eilte Narissa die schmale Treppe wieder hinunter. Am Fuß der Treppe wurde sie von Safina aufgehalten, deren Hand sich mit einem für eine ältere Frau erstaunlicher Kraft um ihren Oberarm schloss. "So eilig, deine Freundin in dieser Lage allein zu lassen?", fragte die Hebamme ausdruckslos.
"Ich... muss", gab Narissa zurück. "Ich habe getan, was ich konnte." "Du könntest ihr Beistand leisten." "Sie will es selbst so. Sie will, dass ich meine Aufgabe erfüllen kann." "Das muss eine wichtige Aufgabe sein", sagte Safina ein wenig verächtlich. "Und ganz egal, was sie sagt: Ihr wäre es sicherlich lieber, du würdest sie nicht alleine lassen. Vielleicht bereust du es hinterher."
"Ist das eine Drohung?", zischte Narissa zornig, und die Alte schüttelte den Kopf. "Eine Warnung. Keine Geburt ist jemals ungefährlich, schon gar nicht, wenn die Mutter nicht bei vollen Kräften ist - und das ist sie nicht. Überlege dir gut, was dir wichtiger ist." Sie ließ Narissas Arm los, doch ihre Worte versetzten Narissa einen Stich ins Herz. Die Wahl, vor sie Safina - nein, das Schicksal - sie stellte, erschien ihr mit einem Mal unmöglich.
Sie trat ein wenig zögerlich an Yanas Bett heran, und kniete sich dann neben ihre Freundin. "Worum ging es da?", fragte Yana leise, und Narissa schüttelte den Kopf. "Nicht wichtig." Sie konnte geradezu fühlen, wie sich Safinas Blicke in ihren Nacken bohrten. "Hör zu... ich würde gerne bleiben. Aber wenn ich das tue, gebe ich auf, und viele Menschen werden unnötig sterben." Sie umarmte Yana kurzentschlossen, und flüsterte ihr ins Ohr: "Ich komme wieder - nachher. Also sieh gefälligst zu, dass du dann auch noch da bist."



Die Gärten, die sich im Norden und Osten um den Palast herumzogen, lagen in beinahe vollkommener Dunkelheit. Von einer hohen, von Eisenspitzen gekrönten, Mauer umgeben wurden sie offensichtlich längst nicht so sehr bewacht wie der Palast selbst. Auf dem Weg hierher hatte Narissa mehreren Soldatengruppen ausweichen müssten, je mehr sie sich dem Palast näherte umso öfter. Sie hatte es ungesehen geschafft, doch dafür länger gebraucht, als ihr lieb war. Vorsichtig tastete sie sich an der Ostseite der Mauer entlang, eine Hand über die Steine streichend, auf der Suche nach der Lücke von der Yana ihr erzählt hatte. Mit einem trafen ihre Finger auf etwas Spitzes, und vorsichtig tastend stellte sie fest, dass irgendeine stachelige Pflanze hier die Mauer überwuchert hatte. Sie schob zwei Ranken ein Stück auseinander, und tatsächlich - dahinter befand sich eine schmale Lücke im Stein. Das erklärte, warum das Loch unentdeckt geblieben war... "Natürlich hat sie euch nicht erwähnt", raunte sie den Dornen zu, bevor sie sich kurzentschlossen zwischen die Ranken quetschte. Trotz aller Vorsicht riss ihr ein besonders langer Dorn das Hemd an der rechten Schulter auf, und sie spürte ein wenig Blut an ihrem Arm herunterlaufen.
Auf der anderen Seite angekommen, duckte sie sich hinter eine Hecke, und betastete die Wunde vorsichtig. Zum Glück hatte war sie nicht besonders groß, und das Blut floss weniger als befürchtet. Also kein Grund zum Anhalten.
Bei einem Blick über die Hecke stellte Narissa fest, dass auch hier in den Gärten mindestens zwei Wächter mit Fackeln patrouillierten - aber das würde keine große Schwierigkeit darstellen. Hier gab es mehr als genug Deckung, und das Licht der Fackeln würde die Wachen blind machen für alles, was sich in der Dunkelheit außerhalb ihres Lichtkreises bewegte. Nicht viel später erreichte sie die Ostmauer des Palastes, und schlich rasch in nördlicher Richtung daran entlang. Die kleine Tür war genau dort, wo Yana sie beschrieben hatte, und auch der Schlüssel passte. Hinter sich hörte sie im Kies knirschende Schritte näher kommen, und so atmete Narissa tief durch, und schlüpfte ohne weiteres Zögern durch die Tür.

Drinnen war es stockfinster. Narissa beschloss, das als gutes Zeichen zu werten - offenbar hielt sich niemand in dem Raum, in den sie gekommen war, auf. Sie tastete sich langsam voran, und stieß dabei mit dem Fuß gegen eine Reihe Metallspitzen. Eine Harke, stellte sie fest - nur gut, dass sie nicht darauf getreten war. Von einer Harke ohnmächtig geschlagen zu werden, wäre ein besonders peinliches Scheitern ihrer Mission gewesen. Der Gedanke ließ sie unwillkürlich lächeln, und ihre Anspannung löste sich ein wenig - aber nur ein wenig. Seit sie den Palast betreten hatte, hatte sich ein unbehagliches Gefühl tief in ihrer Magengrube festgesetzt. Sie war jetzt allein. Das letzte Mal in Qafsah waren Aerien, Serelloth und Elendar bei ihr gewesen. Und später hatte sie fast immer Aerien an ihrer Seite gewusst - ob in Kerma oder Mordor. Doch jetzt war sie vollkommen allein. Wenn sie Glück hatte, schlich Eayan irgendwo im Palast herum, doch darauf konnte sie sich nicht verlassen. Sie würde sich vollständig auf sich selbst verlassen müssen, zum ersten Mal seit langer Zeit.
Die Harke verriet ihr, dass es sich bei dem Raum vermutlich um eine Art Lager für die Diener, die sich um die Gärten kümmerten, handelte. Deshalb wurde er auch nicht weiter bewacht - kein Wunder, dass dieser Hazin diesen Weg genutzt hatte, um Yana zu einem Stelldichein in den Palast zu schmuggeln. Der Gedanke verursachte ihr Übelkeit.
Gegenüber der Eingangstür kam sie durch einen Vorhang in einen breiten Flur, der mit dicken Teppichen ausgelegt war und in regelmäßigen Abständen von Fackeln erhellt wurde. Das war nicht gut, denn auf dem Teppich würde sie Schwierigkeiten haben, sich nähernde Wachen rechtzeitig zu hören, und im Fackellicht wäre sie selbst jederzeit leicht zu entdecken. Tatsächlich bog in genau dem Augenblick ein Wächter um die Ecke, und Narissa zog noch gerade rechtzeitig den Kopf hinter den Vorhand zurück. Sie atmete flach und verharrte reglos, lauschend. Der Schatten des Mannes zog vor dem Vorhang vorbei, und die vom Teppich gedämpften, kaum hörbaren Schritte entfernten sich langsam wieder.
Soweit, so gut, dachte Narissa. Es gab nur ein weiteres Problem - sie hatte keine Ahnung, in welcher Richtung genau die Gemächer des Sultans lagen. Doch allein durch Warten würde sie es mit Sicherheit nicht herausfinden. "Also los", wisperte sie, und trat in den Flur hinaus, Ciryatans Dolch in der Hand. Zu ihrer Rechten konnte sie noch die sich allmählich entfernende Gestalt des Wächters erkennen, also wandte sie sich nach links um die Ecke - wo sie sich augenblicklich zwei weiteren Männern, die eine Tür bewachten, gegenüber sah. Die Wächter wirkten zu ihrem Glück mindestens ebenso erschrocken über ihr plötzliches Auftauchen wie sie selbst. "Guten Abend", stieß Narissa hervor, um die Aufmerksamkeit der Männer auf ihr Gesicht zu lenken, und sprang vorwärts. Sie packte den Speer des ersten Wächters mit der linken Hand und zog. Vollkommen überrumpelt stolperte der Mann nach vorne und entblößte dabei den Hals. Ihren Schwung ausnutzend führte Narissa den Dolch schräg nach oben und rammte ihm so die Klinge geradewegs in die Kehle. Noch während er mit einem gurgelnden Geräusch in die Knie brach nutzte Narissa seinen Speer, um sich vom Boden abzustoßen und dem anderen Wächter mit den Füßen voran gegen die Brust zu springen. Da sie keine Schuhe trug, schmerzte der Aufprall mehr als erwartet, hatte aber den gewünschten Effekt. Ihr Opfer verlor das Gleichgewicht und stürzte schwungvoll auf den Rücken, während Narissa über ihn hin flog, weich wieder auf den Füßen landete und ihm aus der Drehung den zuvor zweckentfremdeten Speer zielgenau durch die Lücke, die sich durch den Sturz am oberen Ende des Brustpanzers geöffnet hatte, in die Brust stieß. Der Wächter zuckte noch zweimal kurz, und lag dann still.

Eine mitten in der Nacht bewachte Tür bedeutete, dass sich auf der anderen Seite etwas wichtiges befand - vielleicht der Sultan selbst. Ohnehin blieb Narissa kaum eine Wahl, denn selbst wenn durch irgendein Wunder niemand den Kampf gehört hatte, würde die nächste Patrouille hier zwei Leichname finden und den Rest des Palastes alarmieren. Narissa stieß die Tür mit der Schulter auf, jetzt neben Ciryatans Dolch rechts auch Schwalbe in der linken Hand, kampfbereit. Doch statt Sûladan oder einem Raum voller Wachen gegenüberzustehen, sah sie sich mehreren verschreckten Frauengesichtern gegenüber. Sie senkte ihre Klingen, und zog rasch die Tür hinter sich zu.
"Keine Sorge, ich bin nicht euretwegen hier", sagte sie hastig, und dennoch wichen die Frauen gleichzeitig einen Schritt zurück, als sie näher kam. Sie musste in Sûladans Harem gelandet sein - kein besonders schöner Gedanken, doch andererseits bedeutete das wahrscheinlich, dass der Sultan nicht weit entfernt war.
"Mörderin!", stieß eine der jüngeren Frauen mit einem Mal panisch hervor, und öffnete den Mund wie zum Schrei, doch eine andere legte ihre die Hand davor. "Hier, um den Sultan zu töten?", fragte die zweite Frau, die deutlich älter wirkte.
Narissa nickte. Lügen hatte hier keinen Sinn mehr. "Wir sollten sie gehen lassen", mischte sich eine dritte Frau ein. "Das geht nicht", stieß die erste hervor, die sich von der Hand auf ihrem Mund befreit hatte. "Er wird uns bestrafen."
"Na und?", erwiderte die, die ihr den Mund zugehalten hatte. "Wenn er will findet er sowieso einen Grund." Weitere Frauen mischten sich ein - einige sprachen sich dafür aus, die Wachen zu alarmieren, andere wollten Narissa einfach gewähren lassen. Bevor Narissa Gelegenheit dazu hatte, sich selbst zu Wort zu melden, fühlte sie ein leichtes Tippen auf ihrer Schulter. Als sie sich umwandte, blickte sie in ein nicht mehr ganz jugendliches, aber nicht altes Frauengesicht - ihr Gegenüber mochte vielleicht zehn Jahre älter sein als sie, mehr nicht.
"Sie werden noch ewig diskutieren", wisperte die andere Frau, und ergriff ein wenig schüchtern Narissas Hand. "Komm mit." In Ermangelung besserer Möglichkeiten ließ Narissa sich von ihr mitziehen, und folgte ihr unauffällig durch eine Seitentür in einen kleinen Raum mit zwei Betten. Im kleineren Bett saß ein Junge von vielleicht acht oder neun Jahren, und starrte Narissa mit großen Augen an.
"Schsch", machte die Frau an das Kind gerichtet. "Leise." Sie wandte sich wieder Narissa zu. "Du bist sie, nicht wahr? Sûladans Tochter?"
Narissa erstarrte. "Woher weißt du davon?" "Der Sultan... wird manchmal redselig, wenn er zu viel Wein getrunken hat. Er redet häufig von dir. Wie du sein einziges Kind bist, dass seiner würdig wäre." Narissa presste so heftig die Zähne aufeinander, dass sie schmerzten. "Er mag mich gezeugt haben, aber das macht ihn nicht zu meinem Vater."
Der Junge zupfte am Gewand der Frau. "Mutter... wer ist das?" "Ruhig, Ishaq", flüsterte seine Mutter. Narissa stieß den angehaltenen Atem aus. "Sûladans Sohn?" Die Frau nickte. "Sein einziger. Aber er... der Sultan ist nicht zufrieden mit ihm. Er ist ihm nicht hart genug."
Draußen wurde die Tür zum Harem krachend aufgestoßen, und Narissa hörte, wie mehrere Wächter in den Raum stürmen. Die Frau, deren Namen sie immer noch nicht wusste, berührte sie kurz an der Schulter. "Bleib hier", sagte sie leise, und schlüpfte aus dem kleinen Nebenzimmer zurück in den Hauptraum, aus dem aufgeregte Stimmen zu hören waren. Narissa wartete ab, zwang sich, ruhig zu atmen. Wenn die Frau sie verriet saß sie rettungslos in der Falle.
Eine kleine Hand berührte ihren Ellbogen. "Wer bist du?", fragte der Junge - Sûladans Sohn - sie erneut. "Ich... heiße Narissa", antwortete sie mit trockenem Mund, während sie auf die Stimmen draußen lauschte und auf jedes Anzeichen, dass gleich eine Horde Wächter das kleine Zimmer stürmen würde. Während sie lauschte, war ihr der Gedanke, dass dieser Junge ihr Halbbruder war, unangenehm präsent. "Bist du gekommen um den Sultan zu ermorden?"
Narissa stockte, und für einen Augenblick war sie abgelenkt. Sie blickte dem Jungen, Ishaq, ins Gesicht. Seine Miene zeige keinerlei Schrecken bei dem Gedanken, und irgendetwas hielt sie davon ab, zu lügen oder abzulenken. "Ja", antwortete sie schlicht. "Er..." "... ist böse", flüsterte Ishaq. "Immer will er mich dazu bringen, jemandem wehzutun. Aber ich will nicht."
Draußen verstummten die Stimmen, und die eiligen Schritte der Wächter entfernten sich wieder. Vor der Tür hörte Narissa dafür die Stimme von Ishaqs Mutter: "Das ist kein besonders guter Zeitpunkt, Herr. Er... er schläft." "Unsinn, Alia", erwiderte eine männliche Stimme, und die Tür öffnete sich. Narissa blieb im Schatten der Tür stehen, bis der Mann ganz in den Raum getreten war, drückte ihn dann mit dem Rücken gegen die Wand und setzte ihm die Spitze ihre Dolches gegen die Kehle. "Kein Laut", zischte sie. Alia, die ihm gefolgt war und hastig die Tür hinter sich geschlossen hatte, stand mit dem Rücken zur Tür und hatte vor Schreck die Hände vor den Mund geschlagen. Der Mann hingegen wirkte deutlich weniger beeindruckt. "Aah", machte er gedehnt. "Also nicht durchs Fenster geflüchtet." Er warf Alia einen Seitenblick zu. "Amenzu al-Irat, Statthalter von Qafsah", stellte er sich vor, als würde er sich auf einem herrschaftlichen Empfang befinden und nicht ein Messer an der Kehle haben. "Ihr müsst die berüchtigte Narissa sein - Sûladans Bastardtochter."
"Ganz recht", gab Narissa zurück, ohne den Dolch auch nur einen Millimeter von seiner Kehle zu entfernen. "Ihr könnt euch denken, warum ich hier bin."
"Nun, vermutlich nicht um zu eurem liebenden Vater zurückzukehren", erwiderte Amenzu mit beißender Ironie. "Er hat sich ja so geärgert, als ihr damals der kleinen Falle mit dem Gefängnis entkommen seid." Narissa verstärkte ein wenig den Druck der Klinge. "Ah, nun", stieß Amenzu hervor, und Narissa stellte mit Befriedigung fest, dass er nun doch ein wenig nervös wirkte. "Das wird wirklich nicht nötig sein. Ich habe keineswegs vor, euch aufzuhalten. Ganz im Gegenteil."
Narissa war geneigt ihren Ohren zu misstrauen. Sie blickte zu Alia hinüber, die ihren Blick fest erwiderte und langsam nickte.
"Erklärt." Mehr sagte Narissa nicht, und sie nahm den Dolch auch nicht von Amenzus Kehle, auch wenn sie den Druck ein wenig verringerte. Der Statthalter seufzte. "Nun gut. Sûladans Herrschaft ist... sagen wir, untragbar geworden. Mit jeder Niederlage gegen diesen Emporkömmling Qúsay wird er unberechenbarer, und dieses Bündnis mit Mordor... nun, es bring nur Elend und Leid über diese Stadt. Die Anwesenheit von Mordors Boten liegt immer wieder wie eine Wolke über unseren Köpfen." Er machte eine vorsichtige Kopfbewegung in Richtung Ishaqs, der zwischen den Betten stand und die Konfrontation mit großen Augen verfolgte. "Es wird Zeit für einen Machtwechsel."
Allmählich wurde Narissa klar, welches Spiel der Mann spielte. "Mit einem Kind als Marionette und euch als eigentlichem Machthaber", stellte sie fest.
Amenzu lächelte. "Ein Regent wird benötigt, und wer wäre dafür besser geeignet als jemand mit jahrzentelanger Erfahrung? Ich leugne nicht, dass ich eigene Interessen verfolge. Aber in diesem Augenblick kann euch das egal sein, nicht wahr?"
Da konnte Narissa ihm kaum widersprechen. Zögerlich nahm sie die Klinge von seinem Hals, und Amenzu atmete tief durch.
"Sobald Sûladan tot ist, werdet ihr die Stadt an Qúsay übergeben", begann Narissa, und überlegte kurz. "Bietet ihm folgendes an: Qafsah wird ihn als seinen Oberherrn anerkennen, sofern er Ishaq als Fürsten von Qafsah akzeptiert. Und meinetwegen euch als Regenten." Der Statthalter breitete die Hände aus und lächelte gewinnend. "Genau das wäre mein Vorschlag gewesen. Die Details werden wir dann klären." Sein Lächeln schwand, als er hinzufügte: "Es gibt allerdings einen Makel an diesem Plan - wir sind nicht die einzigen Verschwörer, die den Sultan gerne beseitigen und beerben würden."
"Taraezaphel", vermutete Narissa in Gedenken an die Nachricht, die Valions Onkel ihnen überbracht hatte. Amenzu nickte. "Und sie ist nicht allein." Er warf einen etwas schuldbewussten Blick in Ishaqs Richtung. "Ishaq ist nicht Sûladans einziger Sohn."
"Mustqîm", stieß Narissa hervor und verzog angewidert das Gesicht. "Was? Er?" Alia wirkte geschockt. "Er ist Sûladans Sohn?" Sie blickte ängstlich in Richtung ihres eigenen Sohnes, der bei Mustqîms Namen blass geworden war. "Er... hat gesagt, dass er mich eines Tages töten wird", sagte der Junge leise. "Er hat dabei gelächelt, aber ich habe gemerkt, dass er es ernst meinte."
"Ohne Zweifel", erwiderte Narissa ernst. "Aber mit Mustqîm werde ich zur Not jederzeit fertig."
"Schön." Amenzu rieb sich die Hände, als könnte er seinen Machtgewinn bereits spüren. "Es gibt einen versteckten Gang, der vom Harem aus zu den Gemächern des Sultans führt. Er wird nicht bewacht - und von da an sollte die ganze Sache doch ein Kinderspiel sein, nicht wahr?"



Während sie durch den schmalen Gang, der immer aufwärts führte, schlich, klopfte Narissas Herz so laut, dass sie fürchtete den ganzen Palast damit zu alarmieren. Oft wahr sie in dieser Nacht gerade so dem Scheitern entgangen, doch es nahte der Moment, in dem sich alles entscheiden würde. Der Moment, in dem sie ihre Mission endlich erfüllen und ihre Rache bekommen, oder scheitern und sterben würde, ohne Aerien, Yana oder ihre Heimat jemals wiederzusehen. Der Gang endete an einer Tür, die vermutlich auf dieser Seite ebenso wie im Harem in den Verzierungen der Wände versteckt war. Narissa atmete dreimal tief durch um ihr beinahe rasendes Herz zu beruhigen, und trat dann durch die Tür ins Freie.
Sûladan erwartete sie bereits.

"Meine verlorene Tochter", sagte er mit weit ausgebreiteten Armen. "Ich freue mich, dass du es geschafft hast." Ohne ein Wort warf Narissa Ciryatans Dolch in seine Richtung, doch der Sultan wich mit einer beinahe beleidigenden Mühelosigkeit aus und die Klinge traf die gegenüberliegende Wand, prallte davon ab und landete klirrend auf dem Boden. Sûladans schwarze Augen leuchteten auf. "Sehr gut. Ich hatte mir nicht weniger erhofft." Narissa hatte bereits Nachtigall als Ersatz in der Hand und spannte sich zum Sprung an, als der Sultan die Hand hob. "Augenblick. Dafür ist gleich immer noch Zeit - ich verspreche auch, nicht nach meinen Wachen zu rufen. Die im Augenblick übrigens vermutlich am anderen Ende des Palastes verzweifelt nach dir suchen." Er lächelte, und dieses Lächeln jagte Narissa einen Schauer über den Rücken. Sie nutzte die Gelegenheit, Sûladan etwas genauer zu betrachten. Der Sultan war hochgewachsen, ein gutes Stück größer als sie, und hatte pechschwarze Haare, die ihm hinten in den Nacken fielen. Trotz seiner überlegenen Haltung wirkte er angegriffen - er war bleicher als sie erwartet hatte, und unter seinen schwarzen Augen lagen dunkle Ringe. "Was willst du?", fragte sie kalt und ohne ihn aus den Augen zu lassen. "Hm... keine Spur von mir in diesem Gesicht", sagte der Sultan beinahe ein wenig enttäuscht. Offensichtlich hatte er sie ebenso gründlich gemustert wie sie ihn. "Wenn nicht äußerlich, dann doch vielleicht innen. Ich habe deinen Weg gründlich beobachtet, und ich bin beeindruckt. Ich denke, in dir steckt mehr von mir als du vielleicht wahrhaben willst."
Narissa schüttelte verächtlich den Kopf. "Hast du vor, dir mit Schmeicheleien das Leben zu retten?"
"Nein, nein...", gab Sûladan zurück. "Das wird nicht nötig sein. Aber vielleicht... Ich brauche einen Erben. Ich habe ein Balg von einer meiner Konkubinen, aber der ist zu nichts nutze. Mustqîm... mit dem ist schon mehr anzufangen, aber er ist längst nicht so beeindruckend wie du. Gemeinsam könnten wir diesen Emporkömmling Qúsay vernichten, und ganz Harad unter einem Banner vereinen. Selbst Mordor könnte uns nicht widerstehen! Ich habe gehört, was du dort getan hast!" Bei seinen letzten Worten schien ein kalter Wind durch das Gemach zu wehen. Narissa blickte in Sûladans Augen, und sah dort den Wahnsinn funkeln.
"Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du meine Eltern getötet hast." Sie sprang vor, doch sofort hatte Sûladan seinen Krummsäbel in der Hand. "Dann eben auf die unangenehme Weise", stieß er hervor, und parierte ihren ersten Stoß mühelos.

Sûladan war schnell wie eine Schlange, und Narissa an Schnelligkeit beinahe gleichwertig. Seine Größe und sein Krummsäbel verschafften ihm zu dem einen Reichweitenvorteil, und sehr schnell wurde Narissa klar, dass dieser Kampf sehr viel ausgeglichener sein würde als sie erwartet hatte. Sie wirbelte um den Sultan herum, versuchte seine Aufmerksamkeit immer auf den einen Dolch zu richten und mit dem anderen eine Lücke in seiner Deckung zu finden. Doch er schien immer zu ahnen, wo der nächste Angriff kommen würde, und parierte, wich aus, immer und immer wieder. Schließlich traf sie doch, und Sûladan machte einen Sprung nach hinten. An seinem linken Oberarm war der Stoff seines Gewandes aufgerissen, und darunter lief ein wenig Blut aus einem oberflächlichen Schnitt. "Das erste Blut geht an dich", sagte er ein wenig außer Atem. Er wirkte merkwürdig zufrieden. Narissa gab ihm keine Antwort, sondern griff wieder an.
Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie gekämpft hatten, als Sûladans Säbel sie an der gleichen Stelle traf, an der sie ihn zuvor verletzt hatte - er versetzte ihr ebenfalls nur einen sehr oberflächlichen Schnitt, und gerade diese Tatsache verunsicherte sie. Spielte er nur mit ihr? Hatte er einen Plan, den sie nicht durchschaut hatte? Ihre Verunsicherung brachte sie ein wenig aus dem Rhythmus, und mehr brauchte der Sultan nicht. Unvermittelt hörte sie einen Knall, und etwas wickelte sich schmerzhaft fest um ihr rechtes Handgelenk. In Ruck ließ sie unwillkürlich nach vorne stolpern. Schwalbe fiel ihr aus der Hand, und im selben Augenblick traf der Krummsäbel sie in die linke Seite. Der Schmerz ließ sie stocken, und Sûladan, der mit einem Mal direkt vor ihr stand, rammte ihr das Knie gegen die Brust. Narissa wurde schwarz vor Augen, und als sie wieder sehen konnte, lag sie mit dem Rücken auf dem Boden und blickte in Sûladans Gesicht hinauf.
"Gar nicht schlecht", keuchte der Sultan, dem ihr Zweikampf offenbar auch einiges abverlangt hatte. In der linken Hand hielt er nun den Griff einer Peitsche, die noch schmerzhaft fest um Narissas Handgelenk gewickelt war. Die Wunde an ihrer linken Seite brannte schmerzhaft und sie spürte wie das herausströmende Blut Hemd und Hose tränkte. "Nicht tödlich", stellte Sûladan zufrieden mit einem Blick auf ihre Seite fest. "Vielleicht überlegst du es dir ja doch noch anders?" Narissa tastete mit der freien Linken nach einem ihrer Dolche, die ganz in der Nähe liegen mussten, doch sie hatte kein Glück.
"Fahr zur Hölle", gab sie müde zurück. Es brauchte ihre ganze Willenskraft mit fester Stimme zu sprechen. "Beende es schon. Wenn ich Glück habe, erwischen dich Qúsays Männer heute Nacht noch."
"Ah, diese Entschlossenheit... Genau davon habe ich geträumt. Genau das braucht es." Sûladan lächelte stolz. "Weißt du, diese Entschlossenheit habe ich damals auch gehabt, als ich meinen Vater, sagen wir mal... beerbt habe. Ich hätte es gern selbst getan, aber das war nun einmal nicht möglich." Er beugte sich vor, packte Narissa am Kragen wie einen Welpen und riss sie in die Höhe. "Ich nehme an, dieser Verräter Ifan ben-Mezd hat dir von dem Wassertunnel erzählt?" Er wartete keine Antwort hab, sondern stieß sie mit Wucht gegen die Wand, sodass ihr die Luft aus den Lungen gepresst wurde. In ihrer halb sitzenden und halb liegenden Position stellte Sûladan ihr den Fuß auf die Brust, sodass sie sich keinen Zentimeter rühren konnte.
"Dafür wird er natürlich sterben", fuhr er fort, als wäre nichts geschehen. "Dass es genau das war, was ich wünschte, konnte er ja nicht wissen."
"Hörst du... auch noch irgendwann... auch zu reden?", brachte Narissa mühsam hervor. Sûladans Lächeln wurde breiter. Es wirkte auf seinem Gesicht irgendwie... falsch. "Brauchst du ein wenig Ruhe, um über deine Optionen nachzudenken?", fragte er. "Das lässt sich einrichten. Vielleicht brauchst du ja weniger Zeit zu einer Entscheidung zu kommen als deine arme Mutter... Mustqîm!" Narissa hörte, wie sich eine Tür öffnete und Schritte näherten. Schließlich schob sich Mustqîms Gestalt in ihr etwas verschwommenes Gesichtsfeld. Er hatte ein Langschwert in der Hand. "Ah, eine Familienzusammenführung wie man sie sich nur wünschen kann", spottete er.
"Lass den Unsinn und bring sie in den Kerker", sagte Sûladan barsch. "Und dann..." Weiter kam er nicht, denn es gab einen dumpfen Schlag und voller Verwirrung stellte Narissa fest, dass Mustqîm sein Schwert tief in die Brust des Sultans gerammt hatte.
Sûladan hustete, und ein Schwall Blut floss aus seinem Mund hinunter über seine Brust. "Du... Bastard", stieß er hervor. "Treffend ausgedrückt", gab Mustqîm zurück, und drehte das Schwert herum. Sûladan verstummte, und brach auf den kunstvoll verzierten Fliesen zusammen. Sein Blut vermischte sich mit dem, das noch immer langsam aus der Wunde an Narissas Seite quoll. Sie blickte in das leblose Gesicht ihres leiblichen Vaters und fühlte - nichts. Keine Erleichterung, keine Befriedigung, keinen Hass... nur Müdigkeit. Trotzdem versuchte sie sich aufzurappeln, sobald Sûladan sie nicht mehr an die Wand drückte. Mustqîm trat ihr ungehemmt in die verletzte Seite, und Narissa sackte hustend wieder an der Wand zusammen. Vor ihren Augen tanzten Sterne.
"Und jetzt zu dir." Ein zweites Paar Stiefel schob sich in ihr Sichtfeld. "Spiel nicht mit ihr", sagte eine weibliche Stimme, und Narissa zwang sich, den Kopf zu heben. "Rae", murmelte sie, und sie dunkeläugige Frau versetzte ihr einen Tritt gegen die Hüfte. "Taraezaphel, wenn ich bitten darf. Zukünftige Fürstin von Qafsah und rechtmäßige Königin von Arzâyan." Sie wandte sich an Mustqîm. "Da das vorüber ist - ich werde mich darum kümmern, dass die Mauer nicht fällt. Halte du dich nicht zu lange mit ihr auf. Wir haben noch ein Heer zu vernichten."
"Natürlich", erwiderte Mustqîm. "Ich kann es kaum erwarten." Taraezaphel richtete ihre dunklen Augen noch einmal auf Narissa. "Vielleicht hättest du damals einfach auf deiner kleinen Insel bleiben sollen, dann hättest du vielleicht überlebt. Die Chance besteht jetzt nicht mehr." Sie wandte sich ab, und Narissa hörte wie ihre Schritte sich entfernten und sie die Tür hinter sich schloss.
"Ich... weiß was ihr vorhabt", brachte sie mühsam hervor. Mustqîm lächelte boshaft. "Nicht schwer zu erraten oder? Unser... Vater hatte schon die richtige Idee." Er blickte verächtlich auf Sûladans reglosen Körper. Er bemerkte nicht, dass sich die Hand des sterbenden Sultans bewegte und Ciryatans Dolch in Narissas Richtung geschoben hatte. "Morgen hat Qafsah einen neuen Fürsten, und dieser Fürst wird eine Gemahlin haben, mit der er den gesamten Süden dieser Welt unter einem Banner vereinigen wird." Mit ihrem etwas verschwommenen Blick glaubte Narissa zu sehen, wie sich am anderen Ende des Raumes die versteckte Tür zu den Haremsräumen einen Spalt weit öffnete. Die Finger ihrer rechten Hand schlossen sich um den ihr so gut bekannten Dolchgriff.
"Du weißt schon... das sie dich... verraten wird?", fragte sie stockend. Mustqîm lachte. "Oh, aber natürlich. Aber nicht, bevor wir unser Ziel erreicht haben, und nicht, bevor sie einen Erben hat. Und wenn es soweit ist..." Er beugte sich zu ihr hinunter, bis sein Gesicht unangenehm nah an ihrem war. "Dann ist nur die Frage, wer von uns beiden schneller ist, nicht wahr?"
"Du jedenfalls nicht", erwiderte Narissa, und riss mit ganzer Kraft ihren rechten Arm in die Höhe. Ciryatans Dolch traf Mustqîm am linken Kiefer, schlitzte ihm von dort aus nach oben die komplette Wange auf, sodass seine Zähne weiß hindurchschimmerten, und traf dann sein linkes Auge. "Aaaaah." Er schrie auf, taumelte einen Schritt zurück, und presste die linke Hand auf sein zerstörtes Gesicht - doch sein Schwert hatte er nicht fallen lassen, und in diesem Moment wusste Narissa, dass sie sterben würde.
"Dafür werde ich dich..." Sie erfuhr nie, was genau er vorhatte, denn auf einmal stolperte Mustqîm vorwärts, genau auf sie zu, und mit mehr Instinkt als Absicht richtete Narissa ihren Dolch genau auf sein Herz und stieß in dem Moment zu, als er auf sie fiel. Mustqîm zuckte noch einmal, und dann lag er still.
Narissa schloss einen Moment lang die Augen, bevor sie Mustqîms Leichnam mit letzter Kraft von sich herunter wuchtete, und kam mühevoll auf die Beine. Vor ihr stand Ishaq, blass im Gesicht und mit einem Ausdruck grenzenlosen Schreckens auf dem Gesicht.
"Schon gut", sagte Narissa leise, und ließ ihren Dolch fallen. Sie blickte an sich herunter. Hemd und Hose waren beinahe vollkommen blutgetränkt, und auch auf ihrem Gesicht spürte die Spritzer von Mustqîms Blut. "Das meiste davon ist nicht meins... glaube ich zumindest", sagte sie mehr an sich selbst als an den Jungen gerichtet.
"Sind... sind sie tot?", flüsterte Ishaq mit zitternder Stimme. Narissa warf einen Blick auf Sûladan, der jetzt auf dem Rücken lag, die offenen Augen blicklos an die Decke gerichtet. "Ja", antwortete sie, die linke Hand auf ihre Wunde in der Seite gepresst. "Und ich nicht. Du hast mir das Leben gerettet, Ishaq. Was... was machst du überhaupt hier?"
Der Junge antwortete nicht, sondern starrte weiterhin die beiden Leichen an, das Grauen ins Gesicht geschrieben. Durch die versteckte Tür stürmten Alia und Amenzu, und beide erstarrten bei dem Anblick, der sich ihnen bot. Narissa, vollkommen blutüberströmt und äußerst wackelig auf den Beinen, die Leichen von Sûladan und Mustqîm und Ishaq, der zitternd dazwischen stand.
Alia war die erste die sich wieder regte. Sie stürmte zu Ishaq, fiel auf die Knie und schloss ihren Sohn fest in die Arme. "Du... böser Junge! Du kannst nicht einfach..."
"Nein", fiel Narissa ihr ins Wort. "Ohne ihn hätte ich nicht überlebt. Meinen... Bruder." Ishaq richtete über die Schulter seinen Blick auf sie, und der Schrecken in seinem Blick wich Überraschung. "Was?"
"Ich glaube, für diese Erklärung ist später Zeit", mischte sich Amenzu ein. Der Statthalter rieb sich die Hände. "Hervorragende Arbeit, wirklich hervorragend. Bleibt nur noch Taraezaphel, und..." Er unterbrach sich. "Nun ja. Zum triumphieren ist später noch Zeit. Vielleicht sollten wir zuerst dafür sorgen, dass ihr nicht verblutete. Das wäre doch zu schade."
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Weit-Harad / Re: Die Harduin-Ebene
« Letzter Beitrag von Eandril am 18. Okt 2024, 18:14 »
Narissa tauchte aus dem dunklen Wasser auf und schüttelte sich die nassen Haare aus dem Gesicht. "Ich habe den Eingang gefunden", sagte sie zu Edrahil, der nur wenig entfernt auf seinen Stock gestützt am Ufer stand. Aus Richtung der Stadt der Wind erste Kampfgeräusche heran - der Angriff hatte begonnen.
Edrahil nickte knapp. "Dann wird es Zeit." Narissa schwamm ein paar Züge in seine Richtung und stieg dann die flache Uferböschung hinauf. Sie trug nur Hemd und Hose, keine Schuhe, die sie womöglich beim Tauchen behindern würden. Edrahil reichte ihr das Bündel, in das sie ihre Dolche eingewickelt hatte, und sie befestigte es am Bund ihrer Hose. Sie atmete tief durch, sog noch einmal die sich abkühlende Abendluft ein.
"Nicht mein letzter Atemzug, hoffe ich...", murmelte sie vor sich hin, nervöser als ihr lieb war. Sie hatte sich bereits wieder dem Wasser zugewandt, als sie Edrahils Hand auf ihrer nassen Schulter spürte. "Wenn dieser Ifan die Wahrheit gesagt hat und selbst bereits durch diesen Tunnel gekommen ist, wirst du es auch schaffen."
"Ja... wenn", erwiderte Narissa leise. "Aber was, wenn er doch gelogen hat? Was, wenn..." Edrahils Hand schloss sich enger um ihre Schulter. "Für Zweifel ist es zu spät", sagte er mit untypisch sanfter Stimme. "Du wirst es schaffen, denn du willst es schaffen."
Er hatte Recht. Sie wollte es schaffen, Qafsah von der Herrschaft Sûladans zu befreien, sie wollte Rache für ihre Eltern, ihren Großvater, ihre Heimat - und sie wollte am Ende zu Aerien zurückkehren. Also würde sie wohl überleben müssen. Offenbar hatte Edrahil ihre zurückgekehrte Entschlossenheit gespürt, denn er drückte noch einmal ihre Schulter und ließ sie dann los. "Also los. Wir sehen uns spätestens bei Sonnenaufgang."
Ohne zu antworten, denn sie traute ihrer Stimme nicht ganz, ging Narissa zurück ins Wasser, und schwamm langsam ans nordöstliche Ende des Sees. Mit einem letzten Blick zu Himmel, an dem sich dunkle Wolken vor die ersten Sterne geschoben hatten, holte sie tief Atem und tauchte unter.

Der Tunneleingang befand sich ungefähr einen Meter unter der Wasseroberfläche. Dichte Wasserpflanzen verdeckten die Öffnung, weshalb es Narissa einige Zeit gekostet hatte, sie zu finden. Als sie hindurch tauchte, strichen die Blätter weich über ihr Gesicht - beinahe fühlte es sich an wie eine Liebkosung. Und dann war sie im Tunnel. Schon kurz hinter dem Eingang war es zu dunkel um auch nur die Hand vor den Augen zu sehen, doch verirren würde sie sich wohl nicht. Glücklicherweise waren die Wände so weit auseinander, dass sie ihre Arme bewegen nach vorne und hinten bewegen konnte, um sich voran zu ziehen. Ein Zug, zwei Züge, drei Züge... Noch hatte sie ausreichend Luft in ihren Lungen um sich konzentriert und zügig vorzuarbeiten. Doch der Tunnel endete nicht. Allmählich Narissas Brust zu schmerzen, und noch immer befand sie sich in tiefster Dunkelheit, nur Wasser um sich herum und dann meterdickes Erdreich über ihrem Kopf. Sie arbeitete sich weiter vor, und allmählich wurde jeder Zug mühsamer und mühsamer. War sie überhaupt schon unter den Mauern hindurch? Wie lange war sie schon in diesem Tunnel? Ihr Zeitgefühl schien sich aufzulösen, jeder Moment dehnte sich zur Unendlichkeit aus... Sie wünschte nichts mehr, als zu atmen, frische Luft in den Lungen zu spüren...
Vor ihren Augen begann ein Licht zu flackern und Narissa wusste, dass es das Ende sein würde.



Sechs Jahre zuvor...

"Noch einmal", rief ihr Großvater ihr vom Strand zu, während Narissa sich erschöpft über den Wellen hielt. Ihre Augen brannten vom Salzwasser, und sie hatte mehr davon verschluckt als ihr lieb war. Sie schüttelte den Kopf, und schwamm langsam zurück an den Strand, wo sie schließlich einfach im weißen Sand liegen blieb, die Beine noch halb im Wasser.
Hador packte sie an den Armen und zog sie unsanft auf die Füße. "Noch einmal, habe ich gesagt." Narissa hustete, und spuckte ein wenig Salzwasser in den Sand.
"Ich kann nicht", erwiderte sie. "Ich werde das nie schaffen." Ihr Großvater schüttelte den Kopf. "Nicht mit dieser Einstellung. Als ich siebzehn Jahre alt war, bin ich die Strecke dreimal hin und her getaucht, ohne einmal aufzutauchen."
Narissa schnaubte verächtlich. "Unsinn. Kein Mensch schafft das."
Die harten Gesichtszüge ihres Großvaters wurden ein wenig weicher, als er sagte: "Vielleicht habe ich etwas übertrieben. Aber..."
"Wozu muss ich überhaupt so gut schwimmen und tauchen lernen?", fiel Narissa ihm ins Wort. "So viel Wasser gibt es in Harad doch gar nicht. Ich würde lieber wieder klettern trainieren - oder fechten."
Hador seufzte. Er ließ sich hin den sonnengewärmten Sand nieder, und Narissa tat es ihm dankbar gleich. "Richtig, viel Wasser gibt es in Harad nicht. Aber... es gibt Gegenden an den Küsten, in denen du zum Einsatz kommen könntest. Umbar zum Beispiel. Und auch im Inland gibt es Flüsse, Seen... eine Gelegenheit, zu der diese Fähigkeiten wichtiger sind als Laufen, Klettern, Springen und so weiter, kommt schneller als du denken magst."
Narissa zog mit dem rechten Zeh Kreise in den Sand, und biss sich auf die Unterlippe. "Aber ich werde niemals so weit tauchen können ohne zu ertrinken. Das ist unmöglich." Sie blickte hinaus aufs Wasser, wo Anfang und Ende Strecke durch zwei mit Seilen auf dem Meeresgrund befestigten Holzfässern markiert waren.
"Nicht unmöglich", erwiderte ihr Großvater. "Aber an der Grenze des Möglichen, soweit hast du Recht. Nicht ohne Grund ist das der letzte Test."
"Und wie hast du es dann geschafft? Und Elendar?" Insgeheim ärgerte sie sich, dass der ein paar Jahre ältere Elendar, Sohn ihres Lehrers Yulan, diese Probe zwei Jahre zuvor mit Leichtigkeit bestanden hatte.
Hador lächelte. "Endlich stellst du die richtige Frage. Das wichtigste ist, ruhig zu bleiben. Entspannt. Auch wenn sich deine Lungen anfühlen, als würden sie bersten. Auch wenn jede Faser deines Körpers nach Sauerstoff schreit - die Grenze liegt weiter entfernt, als dein Körper dir glauben machen will."



Narissa entspannte sich, verdrängte die aufkeimende Panik, und machte noch einen Zug. Noch einen... der Tunnel, der bislang leicht abwärts geführt hatte, machte eine sanfte Biegung nach oben. Ein dritter, kräftiger Zug, und Narissa durchbrach die Wasseroberfläche. Sofort atmete sie tief ein, füllte ihre Lungen mit abgestandener Luft, die ihr dennoch köstlicher erschien als jede Speise oder jedes Getränk, dass sie je gekostet hatte.
Als die Schmerzen in ihrer Brust und der Druck auf den Schläfen ein wenig nachgelassen hatten, versuchte Narissa sich ein wenig Orientierung zu verschaffen. Sie trieb in einem ausgedehnten Wasserbecken, von dem aus in mehrere Richtungen weitere Wasserleitungen abgingen. Über das Becken führte in der Mitte, fast genau über ihrem Kopf, eine Brücke, auf der eine einzelne Laterne stand - das musste das Licht sein, dass sie bereits im Tunnel gesehen hatte. Neben der Laterne saß ein graubärtiger Mann in der Rüstung von Qafsahs Wache, den Kopf auf der Brust, und... schnarchte leise.
Vorsichtig, um nicht zu viel Lärm zu machen, zog Narissa sich am Rand des Wasserbeckens hoch, und blieb dann ein wenig unentschlossen stehen. Sie musste sich irgendwo unter Qafsah befinden - dies hier war offenbar der Wasserspeicher der Stadt. Die Decke war niedrig, und alles war aus dem gelben Stein, aus dem ein Großteil Qafsahs bestand, gepflastert. Für einen Augenblick überlegte sie, den schlafenden Wächter mit einem gezielten Dolchstoß ins Jenseits zu befördern... oder ihn einfach zu ignorieren und sich davonzuschleichen. Doch soweit sie im schwachen Licht der Laterne sehen konnte, gab es mehrere Wege aus der Halle hinaus. Und sie hatte keine Zeit den richtigen zu suchen. Also schlich sie sich leise an den Wachmann heran, und flüsterte ihm von hinten ins Ohr: "Zeit zum Aufstehen."
Der Mann erwachte ruckartig und wäre beinahe vor Schreck von der Brückenkante ins Wasser gestürzt, wenn Narissa ihn nicht festgehalten und ihm eine Dolchklinge an die Kehle gesetzt hätte.
"Wer... was... wie?", stieß der Wächter stammelnd hervor, hielt aber still und versuchte nicht, sich aus Narissas Griff zu befreien. "Unwichtig", gab sie zurück. "Viel wichtiger ist die Frage - welcher weg führt von hier aus zum Palast?"
"Z-z-zum Palast? W-w-wieso..." Narissa unterbrach ihn, indem sie ihre Klinge ein wenig fester gegen seine Kehle drückte.
Der Wächte schluckte heftig. Auf seiner Stirn sammelten sich Schweißtropfen. "Die größte Leitung, am anderen Ende des Beckens. A-a-aber da ist ein Gitter."
Narissa stieß einen Fluchaus, den sie einst von einem Händler aus Rhûn gelernt hatte, und dessen Bedeutung ihr allenfalls vage bekannt war. "Ein Gitter? Seit wann."
"Seit... seit etwa zwanzig Jahren. K-kurz nachdem der Sultan das Erbe seines Vaters angetreten hatte."
Narissa dachte nach. Das passte mit dem zusammen, was Ifan ihr berichtet hatte - offenbar hatte Sûladan nicht dasselbe Schicksal wie sein Vater und seine Brüder erleiden wollen, und diese Hintertür zum Palast versperr. Blieb nur die Frage, warum er nicht auch den Eingang von der Oase aus versperrt hatte... aber vielleicht hatte er keine Aufmerksamkeit auf diesen Tunnel lenken wollen.
"Na schön", sagte sie schließlich. "Wo geht es hier raus?"
Der Wächter deutete vorsichtig in eine dunkle Ecke am anderen Ende der Halle. "Dort ist eine Tür und dann eine Treppe nach draußen. Aber die Tür ist verschlossen auf Befehl des Sultans."
"Ich nehme an, du hast einen Schlüssel?" Der Mann begann zu nicken, hörte aber sehr schnell wieder auf als die Dolchklinge über seine Haut schabte. "Ja, ja. An meinem Gürtel."
Mit ihrer freien Hand tastete Narissa nach dem Schlüssel, und löste ihn mit einer geschickten Bewegung vom Gürtel ab. "Ich will dich nicht töten", sagte sie schließlich leise. "Aber ich kann mir auch nicht leisten, dass du jemanden warnst. Also..."
"I-ich werde niemandem etwas sagen! Ich schwöre es. Ich schwöre!"
"Darauf kann ich mich nicht verlassen", erwiderte sie, nahm aber die Klinge von seinem Hals - um ihm anschließend mit dem metallenen Knauf einen Hieb gegen die Schläfe zu versetzen. Sie löste den Gürtel des Bewusstlosen und fesselte ihm damit die Hände auf dem Rücken aneinander.
"Schlaf nur weiter...", murmelte sie dabei vor sich hin. "Ich hoffe ich denke daran, dich hinterher hier rausholen zu lassen..."

Sie nahm die Laterne, und folgte in ihrem schwachen, flackernden Licht dem Beckenrand, bis sie am gegenüberliegenden Ende angekommen war. Von hier aus führte ein schmaler Kanal weiter, dessen Eingang jedoch durch massive Gitterstäbe versperrt wurde. Der Mann hatte die Wahrheit gesagt - hier würde es kein Durchkommen geben. Narissa kämpfte einen Anflug Verzweiflung nieder. Noch war ihre Mission nicht gescheitert. Sie wandte sich vom Gitter ab, und stieg stattdessen die Treppe hinauf in die Stadt.

Narissa nach Qafsah
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Eregion / Re: Tan Hollinór / Nördliches Eregion
« Letzter Beitrag von Eandril am 17. Okt 2024, 20:01 »
Die Spuren der Menschen waren im frischen Schnee so deutlich zu erkennen, dass selbst ein Blinder ihnen hätte folgen können - für die Elben war es erst recht kein Problem. Sie führte zunächst beinahe schnurgerade nach Norden, bog dann am Ende des schmalen Tales nach Osten über den Hügelkamm hinweg an.
Am höchsten Punkt des Hügels hielt Oronêl an und ließ seinen Blick über das Land schweifen. Dunkle Wolken waren über ihnen aufgezogen, und es würde vermutlich noch innerhalb der nächsten Stunde wieder zu schneien beginnen. "Ein paar Meilen östlich von hier liegt ein dichter Wald aus Hulstbäumen", sagte er, und deutete in Richtung der dunkel in der Ferne aufragenden Kette des Nebelgebirges. "Der Pfad nach Imladris am Fuß des Gebirges führt hindurch."
"Ihr nehmt an, dass die Gruppe aus Imladris dort überfallen werden soll?", fragte einer der Manarîn, und Oronêl nickte knapp. "Ich habe den Wald zweimal auf dem Weg nach Norden durchquert, er bietet sich hervorragend für einen Überfall an. Wir sollten uns beeilen."

Tatsächlich befanden sie sich ein wenig nördlicher, als Oronêl vermutet hatten, und sie näherten sich dem Wald eher von Nordwesten als direkt aus westlicher Richtung. Die Spur ihrer Feinde teilte sich hier auf - jeweils ungefähr die Hälfte der Menschen schien in nördlicher und südlicher Richtung um den Wald herum marschiert zu sein. Oronêl beschloss, den nördlichen Spuren zu folgen, denn er wollte seinen ohnehin schon kleinen Trupp Krieger nicht noch weiter aufteilen. Nach gerade mal einer halben Meile öffnete sich der Wald zu ihrer Rechten ein wenig und die Spur bog in den schmalen Pfad ab. Oronêl betrachtete den zertrampelten Schnee ausführlich, vor allem in nördlicher Richtung.
"Hier waren nicht nur Sarumans Diener unterwegs", stellte er fest. Von Norden führte eine zweite Spur auf den Wald zu, die weniger einheitlich als die der Menschen war. Da waren Abdrücke von schweren, eisenbeschlagenen Stiefeln, aber auch deutlich schwächere und solche, die selbst im Schnee kaum zu sehen waren. "Zwerge, Elben und Menschen. Die Gruppe aus Imladris."
"Und die Feinde direkt hinter ihnen", ergänzte einer der Elbenkrieger. "Wir sollten uns eilen." Oronêl stimmte ihm zu, und ohne weitere Worte schlugen sie den Pfad durch den Wald nach Süden ein.
Es dauerte nicht lange, bevor durch die Bäume Geräusche eines Kampfes an Oronêls Ohren drangen. Ohne ein Wort verfiel er in Laufschritt, und die Manarîn taten es ihm ohne Zögern gleich. Die Bäume wurden immer höher und dichter, öffneten sich aber schließlich unvermittelt zu einer weiten Lichtung.
Auf der Lichtung tobte ein Kampf. Eine Gruppe von wild aussehenden Menschen hatte eine deutlich kleinere Gruppe von Norden und Süden in die Zange genommen. Noch im Laufen erkannte Oronêl, der bereits seine Axt in der Hand hatte, das feuerrote Haar Celebithiels unter den Verteidigern. Er hatte keinen Befehl zum Angriff gegeben, doch die Manarîn hatten ebenso wie er bereits ihre Waffen gezogen und folgten fielen dem Feind ohne Zögern in den Rücken.
Oronêl trat dem ersten vollkommen überrumpelten Mann von hinten in die Kniekehle, bevor er sämtlichen Schwung aus dem Lauf in den Schlag mit der Axt legte und seinem Gegner den Kopf mit einem einzigen Streich den Kopf von den Schultern trennte. Oronêl drehte sich auf der Stelle um den Schwung beizubehalten, und noch bevor der abgetrennte Kopf den Boden berührt hatte, traf Hatholdôrs Klinge den zweiten Menschen in die rechte Seite. Neben ihm richteten die Manarîn ein furchtbares Gemetzel unter Sarumans Gefolgsleuten an, die von den neuen Feinden in ihrem Rücken vollkommen überrascht schienen. Sie hatten einen Hinterhalt gestellt und waren nun selbst in eine Falle geraten. Es dauerte nicht lange, und der nördliche Teil der Banditen begann zu wanken. Die ersten versuchten voller Panik zu entkommen, doch die Elbenkrieger aus Oronêls Trupp zeigten keinerlei Gnade und hieben sie systematisch und gnadenlos zusammen.

Oronêl löste sich ein wenig in westlicher Richtung aus dem Getümmel, und verschaffte sich einen Überblick über das Schlachtfeld. Im Norden war der Kampf beinahe vorbei - hier hatten sich den Banditen die Zwerge aus der überfallenen Gruppe entgegen gestellt, und so waren die Menschen zwischen diesen und Oronêl und seinen Manarîn zwischen Hammer und Amboss geraten. Doch auch im Süden lief der Hinterhalt offenbar nicht wie geplant. Dort standen nicht nur Celebithiel und Glorfindel, sondern noch einige weitere Elben, unter denen Oronêl seinen Freund Gelmir erkannte, und zwei Menschen in den Mänteln des Sternenbundes. Und auch dieser Gruppe Feinde schien jemand in den Rücken gefallen zu sein. Oronêl erkannte Anastorias, der seinen Krähenschnabel schwang, einen zweiten Manarîn und Helluin, dessen Elbenschwert furchtbar unter seinen ehemaligen Verbündeten wütete.
Sobald die Gefahr im Norden gebannt war, wandten sich die Zwerge und Oronêls Trupp gegen die verbliebenden Feinde im Süden - und nur wenig später war der Kampf endgültig vorbei. Wohl mindestens sechzig der Angreifer lagen tot und sterbend auf dem Schlachtfeld, etwas weniger als die Hälfte war nach Süden geflohen.
Celebithiel stieß ihr blutiges Schwert in den von einer dünnen, rotgefärbten Schicht Schnee bedeckten Waldboden. "Oronêl! Du hast dich umentschieden, wie ich sehe. Und kommst gerade zum richtigen Zeitpunkt."
"Ich bin sicher, ihr wärt auch ohne uns damit fertig geworden", antwortete er, und erwiderte ihr Lächeln, bevor er sie kurz in die Arme schloss. Wie immer wirkte sich Celebithiels Anblick hervorragend auf seine Laune aus, rief Erinnerungen an Dol Amroth und Lórien vor der Schlacht gegen Saruman hervor. "Aber vielleicht nicht ohne Verluste", merkte Glorfindel ernst an, bevor er Oronêl kurz zur Begrüßung die Hände auf die Schulter legte. Inzwischen waren auch die beiden Waldläufer herangekommen, und Oronêl erkannte Rilmir und Súlien. Bei ihrem Anblick wurde sein Herz schwer, denn beide wirkten ein wenig gehetzt und in tiefer Sorge. Rilmirs Hand umklammerte seinen Schwertgriff so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. "Oronêl, ich... Haleth ist..."
Er wurde von Anastorias unterbrochen, der mit Helluin und Satariel herangekommen war. "Offenbar sind wir auf verschiedenen Wegen auf die selbe Spur gestoßen!", begann der Prinz gut gelaunt. "Helluin hier hat..."
Er brach ab, denn bei Helluins Namen war Rilmir auf der Stelle herumgewirbelt und hatte diesem die Spitze seines Schwertes an die Kehle gedrückt. Oronêl sah die Muskeln seines Armes zittern. Es hätte nicht viel gefehlt, und Rilmir hätte augenblicklich zugestoßen. Er legte dem Waldläufer eine Hand auf die Schulter. "Nicht, Rilmir", sagte er leise, und Rilmir wandte ihm das Gesicht zu. Seine blauen Augen funkelten vor Hass und Verzweiflung. "Ihr folgt Saruman? Nach allem, was geschehen ist?"
"Vorsicht, Mensch", gab Anastorias zurück. "Die Manarîn folgen niemandem außer unserer Königin. Schon gar nicht einem Zauberer, dessen Diener es gewagt haben, Hand an unsere Familie zu legen."
Rilmirs Schwertklinge, noch immer auf Helluins Hals gerichtet, zitterte ein wenig. "Und er? Was macht dieser Verräter dann an eurer Seite?"
Oronêl setzte an, etwas zu sagen, doch Helluin kam im zuvor. Zwar war er bleich im Gesicht, doch seine Stimme blieb fest als er erwiderte: "Ich habe Sarumans Dienste verlassen, Rílmir, Hádhrons Sohn. Ich bereue, was ich getan habe und ich werde alles tun, den Schaden wiedergutzumachen, den ich angerichtet habe - sofern das überhaupt möglich ist."
Súlien, die bislang geschwiegen und auch ihr Schwert nicht wieder gezogen hatte, blickte von Anastorias zu Oronêl. "Und ihr glaubt ihm?"
Anastorias zuckte mit den Schultern. "Ich habe bislang nichts Gegenteiliges beobachten können. Er war es, der uns hierher geführt hat, und er hat sich im Kampf nicht zurückgehalten."
"Mir hat der Gedanke auch nicht gefallen", begann Oronêl langsam. "Und dennoch glaube ich, dass Helluins Wunsch nach Vergebung und Wiedergutmachung ehrlich ist. Sarumans Einfluss auf ihn ist erloschen. Und wie ihr seht, ist er bereit an unserer Seite sein eigenes Leben im Kampf zu riskieren. Im tiefsten Herzen mag ich ihm nicht für die Folgen seiner Taten vergeben haben... aber ich denke nun, dass wir ihm die Gelegenheit geben sollten, Wiedergutmachung zu leisten." Seine letzten Worte waren weniger an Rilmir oder Súlien denn an Helluin direkt gerichtet gewesen. Zum ersten Mal dachte er dabei nicht an Kerry und ihre Gefühle. Stattdessen dachte er an Ardóneth in Fornost und vor allem an Amrothos. Amrothos war unter den Einfluss des Ringes gefallen, und auch das hatte schwere Folgen und Gefahren hervorgerufen. Doch Amrothos hatte er bereitwillig vergeben - vielleicht, weil sie bereits vorher Freunde gewesen waren. Vielleicht, weil durch Amrothos' Adern ein winziger Teil seines eigenen Blutes floss. Doch jetzt erkannte er, dass es ungerecht war, Helluin nicht wenigstens die Chance auf Vergebung zu gewähren.

Rilmirs Augen weiteten sich. "Oronêl, er..., er..." Er stockte, und auf seinem Gesicht verdrängte Verzweiflung den Hass. "Und Haleth, sie ist..."
"... am Leben und in Sicherheit", beendete Oronêl den Satz für ihn. Rilmir ließ vor Überraschung das Schwert fallen, und Oronêl bemerkte, wie Helluin unauffällig erleichtert aufatmete.
"In Sicherheit?", fragte Rilmir verwirrt. "Aber wo... wie? Ich war bin in Fornost gewesen... sie sagten mir, sie wäre nach Süden davon geschlichen. Ich habe die Spuren gesehen... Orks... und..."
Oronêl nickte. "Sie war in Gefangenschaft, genau wie ich. Orks haben uns nach Moria verschleppt und..." Er unterbrach sich, weil er nicht daran denken wollte, was er in den Tiefen unter dem Gebirge gesehen hatte. "Jedenfalls konnten wir nach Eregion entkommen. Haleth befindet sich in Ost-in-Edhil bei den Manarîn, ein wenig zerschlagen aber lebendig. Kerry ist ebenfalls dort."
Rilmir stieß erleichtert die Luft aus und seine Augen glänzten verdächtig. "Oronêl, ich... danke. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn... wenn ich sie verloren hätte."
Oronêl blickte zu Súlien, die offenbar in seinem Blick alles Nötige sah. Sie presste die Lippen aufeinander, schüttelte den Kopf bevor sie sich stumm abwandte und durch den blutigen Schnee über die Lichtung davon stapfte. Einen Augenblick später folgte Gelmir, der den Austausch aus ein paar Schritten Entfernung beobachtet hatte, ihr.

"Wir sollten sobald wie möglich nach Ost-in-Edhil aufbrechen", brach schließlich Glorfindel das Schweigen. "Einige dieser Banditen sind entkommen, und wo Sarumans Menschen sind, sind immer auch Orks."
"Ihr seid alle miteinander willkommen im Königreich der Manarîn", sagte Anastorias feierlich. "Klingen zu unserer Verteidigung sind immer willkommen." Glorfindel neigte leicht den Kopf. "Zu diesem Zweck sind wir nach Süden gekommen. Ich freue mich darauf, an eurer Seite zu kämpfen."
Bevor sie aufbrachen, nahm Anastorias Oronêl zur Seite. Seine Zuversicht, die er sonst zur Schau trug, schien sich ein wenig getrübt zu haben. "Ich mache mir Sorgen, dass wir den Anführer dieser Bande nicht erwischt haben, und ich fürchte, dass uns ein größerer Angriff bevorsteht. Ich..."
"Ich werde sie in die Hauptstadt führen", unterbrach Oronêl ihn. "Führe du deinen Auftrag weiter aus."
Anastorias wirkte erleichtert. "Was ist mit ihm?", fragte er, und nickte dabei diskret mit dem Kopf in Richtung Helluins, der bei Glorfindel und Celebithiel stand und sich leise mit den beiden Elben unterhielt. "Wäre es nicht besser, er käme nicht mit euch? Es scheinen doch heftige Spannungen zu bestehen..."
Oronêl zuckte mit den Schultern. "Es ist Helluins Entscheidung, ob er sich dem aussetzen möchte. Ich glaube nicht, dass er jemand ist, der einer solchen Lage aus dem Weg gehen würde...

Oronêl, Helluin, Celebithiel, Glorfindel, Rilmir, Súlien, Gelmir und die Zwerge nach Ost-in-Edhil...
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Weit-Harad / Thinis
« Letzter Beitrag von Melkor. am 17. Okt 2024, 19:40 »
Thinis, Heiligtum und Hauptstadt des Totenkultes von Ta-Mehu


Der eiligen Flucht aus Lah'a'un folgten sogleich mehrere Tage einer beschwerlichen Reise durch die Wüste von Ta-Mehu. So war es die Leibwache des Königs, welche an der Seite der Tempelgardisten um Yazral das Reisegefolge bildeten und es war wohl Yazral selbst zu verdanken, das man die schnellsten Wege nutzte und auch bei bekannten Oasen einkehr hielt um die Vorräte aufzustocken. Die Königliche Leibwache wurde bis auf eine kleine Handvoll zurück nach Kerma geschickt, welches sich wohl auf den nun kommenden Konflikt vorbereiten sollte. Der Angriff auch auf den König selbst schien man als Affront zu sehen, welcher Kerma dazu veranlasste auf Seiten Thinis, der Hauptstadt des Kultes,  sich zu schlagen.

Eben jene Stadt hatte man mittlerweile erreicht. Sie war ein Relikt längst vergangener Tage, in den Bauch des Gebirges geschlagen, schien ein Großteil der Stadt gar in einem Unterirdischen Höhlensystem zu liegen, welches durch labyrinthartige Gänge miteinander verbunden war. Außerhalb eben jener Höhle war der Ursprung dieser Festung zu erkennen. Numenorisches Mauerwerk, welches sich auf mehreren Ebenen das Gebirge hinauf erklomm, gethront von einem großen Tempel, mit einer ewig lodernden Flamme. Die Stadt wirkte auf ihre eigene Art und Weise im Wohlstand schwelgend. So hingen an jeder Bedeutenden Ecke die großen, schweren Banner mit dem Zeichen des Maats. Zwei enorme Katapulte standen auf den Befestigungsanlagen je zu einer einer gegenüberliegenden Seite und von der höchsten Ebene hatte man, so wie auch in der Hauptstadt Ta-Mehus den Überblick über eine weitläufige Ebene. Das Heiligtum schien gut zu verteidigen, wenngleich nur eine einzelne Schlucht den Weg zu jenem bot.

Anders als in  Lah'a'un schien man jedoch der Ankunft der Kermischen Adligen wohlgesonnen zu sein, So war es der Hohepriester selbst, Parser, der zur Begrüßung jener bis zum Tor hinab stieg und dort, mit einigen Priestern und Wachen versammelt, wartete. "Euer Gnaden, es ist mir eine besondere Ehre euch innerhalb der Mauern des Kultes begrüßen zu dürfen. Wenngleich es mich betrübt das diese bedauerlichen Umstände der Grund für eure Einkehr sind. Ich bin Parser, der Ältstgeborene Sohn des Menefers, König von Ta-mehu, und Hohepriester des Totenkultes" Eben jener, doch gealtert wirkende Mann, verbeugte sich schließlich tief, während es sein Gefolge ihm gleich tat. Yazral, welcher eben noch Hinter Músab stand, schien dann eben jenen etwas ins Ohr flüstern, woraufhin ein Nicken folgte und der silberne Löwe nach vorne trat. "Euer Heiligkeit, die Verhandlungen in der Hauptstadt sind gescheitert, wird sind in eine Falle geraten und nur unter schwersten Anstrengungen ist uns die Flucht gelungen. Euer Bruder hat seine Armeen versammelt und marschiert unmittelbar auf uns zu, den Einfluss des Totenkultes unterbinden wollend." So waren eben jene Worte mit einer gewissen Ehrfurcht gesprochen, ehe Yazral dann, den Gepflogenheiten folgend auf die Knie, ging. "Seine Majestät Músab bin Kernabes von Kerma hat uns seine Unterstützung in diesen Konflikt angeboten, nachdem auch sein Leben von eurem Bruder bedroht wurde."

Der Qore hob dann sein Kinn etwas an, die Reaktion des Hohepriester abwartends, welcher nur abschätzend zwischen den anwesenden Hin und her sah. "Dies ist wohl das Ende das geeinten Reiches von Ta-Mehu." meinte er mit schweren Bedauern in der Stimme "Jabal bereitet die Stadt auf die Belagerung vor... Schickt Späher aus und warnt unsere Verbündeten in Awaris und Helwan." Nachdem die Befehle gesprochen wurden, verließ ein Großteil der Anwesenden Gardisten die Versammlung schließlich, den Befehlen nachkommend. "Umso mehr bedauere ich zu Erfahren das mein Bruder sich der Trauer hingegeben hatte. Sofern mein Sohn war gesprochen hatte, so ist eure Hilfe sehr willkommen. Ich werde euch Quartiere herrichten lassen in denen ihr fürs Erste zu Ruhe kommen könnt und Kraft sammeln für die nahende Schlacht." Auf die Worte Parser wirkte Alára wohl mehr verwundert als Músab es tat, so war es wohl auch jenem Fremd das Yazral wohl der Königlichen Linie selbst zu entspringen schien. Der Qore hingegen schien mehrmals nur zu nicken, folgte den Bediensteten mitsamt der Garde zu den Quartieren, welche doch Fürstlich eingerichtet schienen. Den Kermern wurde schlussendlich das vollumpfängliche Recht gewährt die Wunder Thinis zu bestaunen. Doch fürs erste schien man sich auf den Kampf vorzubereiten. Eine weitere Schlacht, die die Wirren des Haradischen Bruderkriegs wohl hervorbrachte.
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Weit-Harad / Fragen und Antworten
« Letzter Beitrag von Fine am 17. Okt 2024, 15:38 »
Die Gruppe entfernte sich mit ruhigen Schritten vom Zelt des Heerführers, und machte sich auf den Weg zum Rand des Kriegslagers. Sie sprachen zunächst wenig; jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Valion war noch immer ein wenig unwohl bei dem Gedanken, dass Narissa schon bald eine so gefährliche Mission bevorstehen würde. Immerhin war sie nicht vollkommen alleine, wenn Eayan sie tatsächlich begleiten würde.

Sie erreichten eine kleine Düne, die am Tag von einer einzelnen Palme überschattet wurde. Hier hielt Edrahil inne, und legte eine Hand a seine Stirn, damit ihm die sinkende Abendsonne nicht in die Augen scheinen konnte. Er blickte zur Stadt hinüber und brummelte leise: “Ich bin wirklich froh, wenn das alles endlich vorüber ist.”
Narissa hatte jedes Wort mitbekommen. “Es wird nun nicht mehr lange dauern,” versicherte sie dem alten Herrn der Spione, doch Valion glaubte aus ihren Worten herauszuhören, dass sie sich ihrer Sache nicht ganz so sicher war, wie sie vorzugeben versuchte.
“Ich würde sagen, es ist Zeit für ein paar Antworten,” mischte sich Valirë ein, und risse Valion aus seinen Gedanken. Seine Zwillingsschwester hatte Edrahil ins Visier genommen, welcher ihrem Blick mit seiner üblichen beherrschten Miene standhielt.
“Ich hielt es nicht für notwendig, euch davon zu berichten, dass euer Onkel am Leben ist,” antwortete Edrahil ruhig. Valion kannte ihn mittlerweile gut genug um zu erkennen, dass der Alte gereizt und müde war, und dies aus purer Gewohnheit zu verbergen versuchte. Er entschied, es Edrahil nicht übel zu nehmen.
Ehe Valirë aufbrausend werden konnte, nahm Valion das Wort. “Das ist verständlich, dennoch wirst auch du verstehen können, warum wir etwas enttäuscht sind, Edrahil. Du wärest im Gegenzug ebenfalls nicht sonderlich erfreut darüber, zu erfahren, dass dir wichtige Informationen vorenthalten worden wären, oder täusche ich mich da?”
Edrahil tat Valions Einwand mit einer knappen Handbewegung ab. “Es stand mir nicht zu, Tordúr dies abzunehmen,” sagte er. “Es handelt sich immerhin um eine Familienangelegenheit.”
Valion hatte erwartet, dass seine Schwester nun die Beherrschung verlieren würde, doch Valirës Reaktion überraschte ihn. Sie ließ die Schultern sinken und seufzte leise. Es wirkte, als würde sie nach den richtigen Worten suchen. “Es… geschieht nicht jeden Tag, dass ein totgeglaubtes Familienmitglied urplötzlich wieder lebendig auftaucht,” sagte sie schließlich. Dabei sah sie Edrahil an, welcher um eine Winzigkeit den Kopf schief legte, als würden Valirës Worte ihn auf unerwartete Weise ansprechen.

Narissa hatte den Austausch der beiden zwar verfolgt, ihre Aufmerksamkeit war aber eindeutig geteilt gewesen. Immer wieder warf sie Blicke zur belagerten Stadt hinüber, insbesondere das kleine Gewässer inmitten der Oase zog ihre Aufmerksamkeit an. Valion konnte es ihr nicht übel nehmen. Wahrscheinlich war Narissa in Gedanken bereits dort unten, in den überfluteten Tunneln, auf dem Weg zu ihrer Konfrontation mit Sûladan.
“Kommen wir zu einem weiteren wichtigen Thema,” sagte Edrahil und lenkte die Aufmerksamkeit der Anwesenden wieder auf sich. “Taraezaphel, die von ihren Anhängern die Löwenmaid genannt wird. Dass sie hier ist, in Qafsah, zu exakt diesem Zeitpunkt, bedeutet nichts Gutes für uns. Wenn sie Sûladan beerbt, tauschen wir nur eine Schlange gegen eine andere, selbst wenn Narissa in ihrem Unterfangen Erfolg hat.”
“Deshalb werden meine Schwester und ich sie aufhalten,” stellte Valion klar. “Wir werden im Zuge der Belagerung schon einen Weg über Qafsahs Mauern finden, und dann machen wir diese Löwenmaid ausfindig und beenden die Bedrohung, die von ihr ausgeht.”
Narissa wirkte nachdenklich. Sie wiederholte leise den Namen, den Edrahil genannt hatte. “Kannst du diese Frau näher beschreiben, Edrahil?” hakte sie schließlich nach.
“Sie stammt aus dem Reich Arzâyan, weit im Süden gelegen,” erklärte der Herr der Spione bedächtig. “Anscheinend stammt sie von dem dortigen Herrschergeschlecht ab, das als ausgestorben galt - oder behauptet dies jedenfalls. Wir haben sie daran gehindert, eine neue Machtbasis aufzubauen, allerdings ist sie uns auf dem Rückweg zur Weißen Insel entwischt.”
Narissa schüttelt den Kopf. “Ich meinte, äußerlich beschreiben,” stellte sie richtig. Ihre Stimme hatte einen sonderbaren Unterton, den Valion nicht richtig einordnen konnte.
Edrahil wirkte um eine Wenigkeit verwundert, kam der Aufforderung jedoch nach. “Nun, man könnte sie als recht hübsch beschreiben,” begann er. “Dunkles Haar, zurückgehalten von einem gestreiften Band um den Kopf. Schlank, aber athletisch gebaut. Sie wird wohl zehn Jahre älter als du sein, Narissa, dennoch denke ich nicht, dass du ihr im Kampf gewachsen wärest.”
Narissa gab einen hörbaren Laut der Empörung von sich, wurde dann jedoch still als Edrahil weitere Beschreibungen hinzufügte. Schließlich sagte Narissa leise: “Ich glaube.. ich bin dieser Frau schon einmal begegnet.”
“Wann und wo?” wollte Edrahil sofort wissen. Auch Valion blickte Narissa gespannt an.
“Das war.. zuhause,” antwortete diese. “Auf der Insel…” Sie verzog das Gesicht, als würde eine unangenehme Erinnerung ihr durch den Kopf gehen. “Sie war an Aeriens Entführung beteiligt, da bin ich mir sicher.”
“Wenn das wahr ist, dann kannst du es uns überlassen, sie dafür büßen zu lassen,” versicherte Valirë ihr, und Valion nickte zustimmend. “Sollten wir sie lebend in die Finger bekommen, kannst du sie später über ihre Verbindung zur Weißen Insel ausfragen. Edrahil wird dir dabei sicherlich gerne zur Hand gehen, falls diese Taraezaphel nicht reden möchte.”
Edrahil tat diese Aussage mit einem knappen Nicken ab, dann sagte er: “Lebendig wäre mir lieber, doch ihr solltet äußerste Vorsicht walten lassen. Sie ist mir bereits einmal entwischt, und wie ihr wisst, wiederhole ich Fehler eher ungern.”
Valirë gab ein belustigtes Prusten von sich, wurde aber schnell wieder ernst. “Sei unbesorgt, Edrahil, und auch du, Narissa. Wir kriegen sie.”
Valion ließ sich gerne von dem Optimismus seiner Schwester anstecken und pflichtete ihr grinsend bei. Erchirion, der das Gespräch zum größten Teil schweigend verbracht hatte, sagte: “Ich weiß, dass ich dich von deinem Vorhaben nicht abhalten kann, Valirë,” was von Valions Schwester mit einem Grinsen bestätigt wurde. “Aber lass mich wenigstens mit dir kommen. Wir haben zwar nur wenige gondorische Soldaten auf diesem Feldzug dabei, aber beim Überwinden der Mauern wirst du jedes Schwert gebrauchen können, das du kriegen kannst.”
Valion sagte: “Wir gehen alle gemeinsam, und werden alle gemeinsam erfolgreich sein.”

Sie verbrachten den Rest des Abends - von dem nach ihrem Gespräch nicht mehr sonderlich viel übrig war - am gemeinsamen Lagerfeuer unweit der Düne, auf der sie sich mit Edrahil ausgetauscht hatten. Kurz bevor die Zwillinge sich schlafen legten, kam Eayan zu ihnen und bat sie, am folgenden Morgen mit ihm zu sprechen, ehe sie sich an der Belagerung beteiligten.
Die Zwillinge kamen der Aufforderung nach, als die Sonne bereits über den östlichen Horizont geklettert war. Offenbar hatten viele der Malikatskrieger in dieser Nacht gearbeitet, anstatt zu schlafen, denn ein Großteil der Palmen der Oase war verschwunden, ersetzt durch Belagerungsleitern und einen behelfsmäßigen Angriffsturm. Andere Stämme waren zu improvisierten Rammböcken umgebaut worden, während die Holzreste, die bei den Bauarbeiten angefallen waren, als grob zusammengesetzter Schutz gegen Pfeile eingesetzt werden konnte. Dennoch hatte das Heer wohl noch eine Menge Arbeit vor sich, bevor genügen Belagerungsmaterial zur Verfügung stand, um einen Sturmangriff auf die feindlichen Mauern zu wagen.
Der Schattenfalke gab den Zwillingen eine Übersicht über die Straßen Qafsahs und riet ihnen, es in der Nähe eines der Tore zu versuchen. “Dort wird zwar der Widerstand am größten sein, doch dort habt ihr auch am meisten Unterstützung von unseren Verbündeten, und könnt bei einem Erfolg vielleicht auch gleich dafür sorgen, dass die Tore für Qúsays Leute geöffnet werden.”
Valion dankte Eayan für die wertvollen Informationen und verbrachte den Vormittag damit, den Soldaten Gondors, die Erchirion mitgebracht hatte, den groben Plan zu erklären. Sie würden sich auf das nächste der Tore Qafsahs konzentrieren und versuchen, die Mauern zu einer der beiden Seiten davon zu erstürmen.

Als die Sonne zu sinken begann, ertönten die Kriegshörner - ein ohrenbetäubender Klang. Valion sprang auf, und nickte Eayan zu, der gerade noch einmal zu ihm gekommen war - ein stummer Gruß zwischen zwei Kriegern, und prüfte ein letztes Mal, ob seine Schwerter zum Ziehen bereit an seinem Gürtel hingen.

Die Schlacht um Qafsah hatte begonnen.
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